Noch hier

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Blumenberg

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Noch hier

Lebendig. So muss sich der kurze Moment anfühlen. Lebendig bis in die kleinste Zelle hinein. Ein Schritt über die Klippe und dann…freier Fall, ganz in der Luft. Am Ende der tosende Atlantik und sonst nichts mehr. Das ganze Leben zieht vorbei. In einem einzigen Augenblick. Auch der steinbedeckte Vorgarten. Schnell noch vor dem Verbot aufgeschüttet. Klaus` Statement an die Natur.

Ob mein Grab auch so aussieht? Grobkiesel, mischgrau, ein bis zwei Zentimeter Durchmesser. Pflegeleicht, man will ja keine Umstände machen. Dazu drei Buchskugeln, an die müsste zwei Mal im Jahr der Gärtner ran. Aber Buchs ist keine gute Idee, den holt nur der Zünsler, genau wie die Hecke von Lehmanns. Eh du dich versiehst hast du nur noch drei Gerippe auf deiner letzten Schlafstätte. Dann doch lieber was Adrettes. Vielleicht einen dieser japanischen Bäume mit den feuerroten Blättern und dem anmutig gewachsenen Stamm. Im Herbst das Laub zusammenrechen ist bestimmt nicht zu viel verlangt. Mit ein bisschen Glück geht es bei einem flüchtigen Betrachter als misslungener Zen-Garten durch. Ein Hauch von Exotik am ländlichen Ende der Republik.

Ob mich der Priester zu den anderen Schultes lässt? Seit 1805 liegen wir direkt neben der Kapelle in geweihter Erde. Er ahnt, dass mein Übertritt zum Katholizismus nur ein Lippenbekenntnis war. Niemand heiratet im Münsterland ohne die Kirche. Zumindest Klaus nicht. Deshalb fahre ich nach Münster zu den Lutheranern. Aber das wird bestimmt totgeschwiegen. Noch so eine Tradition in der Familie Schulte.

Klaus spannt sicherlich den Schützenverein ein. Ein bisschen feierliches Liedgut aus der Heimat (gratis), betretene Blicke, Händeschütteln und abschließend kurz-lang bei Fragemanns. Ich glaube er denkt tatsächlich das wäre in meinem Sinne. Armer Irrer.

Ich sollte noch auf irgendwas bestehen, was diese bornierten Dorftrottel hassen würden. Wer schlägt einer Toten schon ihre letzten Wünsche ab. Außerdem ist die Kunst frei. Bob Marley in Stein oder ein küssendes Paar Männer. Hoffentlich schaut man dann tatsächlich von oben herunter, denn das Gesicht der alten Kellinghaus will ich nicht verpassen.

„Planen Sie eine Reise Frau Schulte? Ich würde mich ja nie im Leben auf so eine Klippe stellen und Schottland wäre sowieso gar nichts für mich. Kalt, windig, es regnet. Wir fahren ja immer ans IJsselmeer campen.“

„Ich habe gerade an sie gedacht Frau Kellinghaus…“
 
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hein

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Hallo @Blumenberg ,

als Kind vom Lande kenne ich etliche Ältere, die sich wirklich Sorgen über ihre postmortalen Würdigung machen. Da spart man sich dann das Geld für ein ordentliches Begräbnis und 25 Jahre Grabpflege vom Munde ab.

Gerne gelesen.

LG
hein
 

John Wein

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Lebendig. So muss sich der kurze Moment anfühlen. Lebendig bis in die kleinste Zelle hinein. Ein Schritt über die Klippe und dann…freier Fall, ganz in der Luft. Am Ende der tosende Atlantik und sonst nichts mehr.
Hier musste ich unwillkürlich an das Ende meines Jakobsweges am Kap Finisterre am Ende der Welt denken. So habe ich mich wirklich gefühlt, so endzeitentrückt. Ein schöner Einstieg in die Geschichte, in der ich mich auch in einigen Passagen wiedergefunden habe.
Trauriges lustig durcheinandergewirbelt mit Pep. und Verve.
Klirrende Worte und Begriffe : Grobkiesel, Buchskugeln, Zünsler, flüchtiger Betrachter usw.
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Ich habe neulich die Geschichte eines Lit. Professors die im Münsterland spielt auf Youtube gehört, ich muss mal nachsehen, ob ich sie wiederfinde. Es ging um die Kinderlandverschickung dorthin auf einem Bauernhof. Ich schick dir mal den Link. Da platz einem schier der Kopf vor Wortgewalt und Bildsprache.

 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Blumenberg,

Kürzestgeschichte, die ich oft lesen musste, um sie ganz zu verstehen. Das finde ich ein bisschen schade, weil die Wortwahl eigentlich gut ist.

Gruß DS
 



 
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