Nehmen wir an, es stinkt. Es stinkt gerade richtig. Von irgendwo kommt Schwefel – in einem Gemisch mit Buttersäure, menschlich-tierischen Ausdünstungen und Reste von Ausscheidungen, die die behaarten Matrosen in irgendwelchen Ecken vergessen hatten. Und die Matrosen waren wirklich sehr behaart. Als nur wenige Sekunden ein bisschen Brise durch die Glocke aus ekelerregenden Gerüchen drang und ihr Riechorgan berührte, änderte sich ihre gesamte Wahrnehmung für eine kurze Zeit. Man könnte fast von einem nur kurz anhaltenden Sauerstoffrausch sprechen, sofern etwas derartiges existiert. Wie als ob man kurz vom unendlichen Glück in Person am Finger gezogen würde. Nur – wie es immer so ist – ist etwas derartiges nur von kurzer Dauer, um gleich danach von der Faust des Unglücks zu braun-grünen Überresten der unwiederbringlichen Schönheit zermalmt zu werden. Als sich ein Fleischberg an ihr vorrüberwälzt unterdrückt sie ein Würgen. Zwanzig Stunden noch – so der Kapitän. Üblich ist es allerdings, dass Industrieschiffe wie dieses zu spät kommen. Weil der Steuermann betrunken war – oder in eine Schlägerei verwickelt wurde. Vielleicht würde es sogar wieder eine Meuterei geben. Vor zwei Stunden war der letzte Kapitän erst gekreuzigt worden. Dieser hatte es gerade zwei Wochen ausgehalten, hatte man ihr erzählt - allerdings besaßen die Matrosen kein sonderlich gutes Gedächtnis. Vom Gehirn ganz zu schweigen. Wahrscheinlich kannten sie nicht einmal den Unterschied zischen Wochen, Monaten und Jahren. Von dem vorhin erwähnten Luftzug aus dem Trance geweckt, quälte sie sich über klebrige Treppen in Richtung des einzigen wirklich erträglichen Ortes – in die Richtung der Reling. Nach einigen unendlich erscheinenden Minuten, in denen sie sich qualvoll über schiefe Treppenstufen, durch endlose, stählerne Gänge und nach Schmieröl stinkende Maschinenräume geschleppt hatte und sie an dem die Klappe zum Deck verschließenden Rad gezerrt hatte, bis ihre Muskeln brannten und es sich schließlich öffnete fiel ihr wieder ein, warum sie sich unter Deck aufgehalten hatte. Der schneidende Wind voll Gischttropfen, der ihr mit geballter Faust wie ein Schwarm Eissplitter ins Gesicht schlug brachte sie dem Versuch nahe, sich zurück unter Deck zu begeben. Da sie eine eben gefällte Entscheidung hätte revidieren müssen, entschied sie sich jedoch dazu, ihre Existenz wenigstens noch eine kurze Weile auf dem Deck zu fristen. Weil sie sonst von dem starken Wellengang unkontrolliert hin und her geworfen worden wäre musste sie sich zwangsläufig an der Reling oder einem anderen fest am Schiffsboden verankerten Instrument festhalten. Bevor sie aber die Entscheidung fällen konnte, welcher Ort der bestmögliche, sicherste und nebenbei noch geschützteste Ort auf dem Deck ist, verlor sie jedoch bereits den Boden unter den Füßen um von einer unsichtbaren Kraft geschleudert
quer über das Deck zu fliegen. Nach wenigen Sekunden hatte sie die Anzahl Sterne, die ihren Kopf im Zuge des Aufpralls umkreisten schon wieder vergessen. Ihren Erzählungen konnte ich entnehmen, das es viele waren.
Benommen hangelte sie sich an der Metallenen Deckbegrenzung nach oben – für einen Außenstehenden hätte es sicher sehr theatralisch ausgesehen - , um sich zu fragen, worauf sie eigentlich stand. Auf dem Deck? Hatte sie sich am Deck hochgezogen, um nun auf der Reling zu stehen? Als sie nach unten blickte befand sich in weiter Entfernung unter ihren Füßen Wasser. Gleich darauf spürte sie sich selbst fallen, den Wind schneidender als je zuvor. Als sie die Augen wieder aufschlug hing sie wiederum über der Reling und spie ihren Mageninhalt aus, sah ihm nach, wie er etliche Meter bis in die aufgewühlten Wellen segelte, wo er schließlich kaum erkennbar eintauchte. Sie empfand Mitleid mit ihrem ehemaligen Mageninhalt. Dennoch hätte sie niemals die Rolle mit ihm tauschen wollen - sie war beinahe dankbar dafür, dass er gefallen war und nicht sie, so, wie sie es sich in der Benommenheit nach dem Sturz eingebildet hatte. Voll Schadenfreude und Verzweiflung gab sie ihrem aufschreiendem Selbstbewusstsein das Versprechen, von der Insel, die sie zu bereisen suchte, nie wieder in ihre Heimat zurückzukehren, jedenfalls nicht mit diesem Schiff, dem einzigen, das jene Insel anzusteuern pflegte. Auch wenn es dort Langweilig sein sollte. Oder gefährlich. Das einzige, das sie gewollt hatte war nicht mit diesem Strom zu schwimmen, den die Stadtbevölkerung jedes Jahr einschlug. Nur noch am äußersten Rand der bekannten Territorien gab es ein paar totgeschwiegene Punkte. Ja, es gab wenige Leute die dorthin aufbrachen, einige kehrten sogar zurück. Bemitleidenswerter Weise waren diese Leute allerdings entweder schon tot – oder aber zu alt – zu dement – um von ihren Erlebnissen in dieser ungewöhnlichen, fremden und weit entfernten Welt zu berichten.
Wenn man an dem Punkt angekommen ist, an dem es einem egal ist, ob man im Urlaub Sandstrände, Gebirge oder Eiswüsten vorfindet, sondern auf der Suche nach dem Gefühl ist, an einem Ort gewesen zu sein, der etwas besonderes ist. Der dem Reisenden das letzte Kribbeln im Bauch verspüren lässt, wohl das, das die Entdecker auch verspürt haben mussten, wenn die Rede von „Land in Sicht“ war. Dann war man kein Produkt mehr, das nach von Reisekonzernen vorgeschriebenen Urlaubsideen strebte. Man war – wie sie es eben auch zu sein meinte – ein Individuum, das danach strebte seine Welt als ganzes zu erfassen – als Schöpfung – und nicht als Mosaik aus zusammengefügten Blättern eines Reisekataloges oder aus Schulbuchseiten, die über die Existenz des Mosaiks berichten, den unwissenden Betrachter jedoch nichts weiter sehen lassen als einen Haufen kleiner, bunter Steine – nicht als Bild mit einer unglaublichen Menge an Facetten, als Kunstwerk, als – wie bereits treffend bezeichnet – Schöpfung.
Sie hatte es satt gehabt, mit Taschentücher-wedelnden, schluchzenden Müttern, Großmüttern, Tanten, Schwestern, Nachbarn und Putzfrauen – der Reisenden noch „Lebe wohl“, „Viel Glück“, „Pass auf dich auf“ oder tausend feuchte Kusshände hinterherwerfend - monströse Verabschiedungsorgien zu veranstalten. Alleine dieser Gedanke brachte sie zur Rage. Sieht man Menschen, die man einmal kannte, nicht wieder, so sieht man sich nicht wieder. Das ist eine Tatsache. Und wenn die Lenkung der Welt, des Schicksals und der Existenz (und natürlich der Nichtexistenz) etwas anderes vorsah, dann war dies auch beabsichtigt. Wenn man diesen Erkenntnisstand erreicht hatte war man schließlich über derartige Gefühle erhaben. Sie hatte auf ihren Fußwegen durch die ätzend langweiligen Flachländer ihrer Heimat in Richtung Hafen genug Zeit gehabt, um sich derartige Punkte durch den Kopf gehen zu lassen. Sie hatte auch mit einem Bauern gesprochen, der sie einige Stunden auf seinem Yoih mitgenommen hatte. Er teilte ihre Ansichten wiederum überhaupt nicht. Vermutlich hatte er nicht einmal verstanden, was sie ihm da erklärte. Zum Beispiel, die Feststellung, das Heimweh pure Menschliche Einbildung ist. Das Heim ist ein Ort und der einzige Ort, an den wir gebunden sind. Und dieser Ort ist alles. Denn wir sind nur an den Ort gebunden, an dem wir uns gerade in diesem Moment befinden, denn niemand anderes kann genau an diesem Ort sein. Aber wer beginnt zu begreifen, das nicht ein paar Quadratmeter oder ein paar Quadratkilometer unser Zuhause sind, sondern die gesamte für uns unbegreifliche Existenz und wir uns in dieser Existenz überall aufhalten können, wo wir wollen, ist es überflüssig, sich ein Zuhause einzubilden. Sie war ausgesprochen stolz über die Erkenntnisse, die sie gemacht hatte. Ein anderer Mensch, mit dem sie darüber gesprochen hatte, hatte sie gewarnt, das sie jede einzelne Feststellung von allen Seiten in Frage stellen solle, bevor sie sie endgültig als Erkenntnis darstellte. Doch das hatte sie getan. Dachte sie.
Ein weiteres mal öffnete sie ihre Augen. Erst jetzt bemerkte sie, wie schwach sie eigentlich geworden war – durch die Strapazen ihrer Reise. Ihre Gedanken hatten sie davon getragen – die Extremität der äußeren Bedingungen ausgeblendet, um wenigstens ein paar Minuten in der Hölle auf Erden Ruhe zu finden. Scheinbar war es ihr für ein paar Minuten gelungen. Nun zitterten ihre Hände und ihre einfache, aber warme Bekleidung war bis auf die Knochen nass. Wieder versuchte sie nun einen Weg zu finden, diesmal wieder weg – in die auf einmal so willkommen scheinende Wärme, des üblen inneren der Fabrik in Schiffsform. Sich an der Reling entlangtastend bewegte sie sich auf dem schwankenden Schiffsboden vorsichtig in die von ihr als richtig anerkannte Richtung, unterdrückte einen Würgreiz, sammelte etwas Regenwasser in ihren schalenförmig zusammengelegten Händen, um das Wasser zum Mund zu führen und letzte Geschmacksbestandteile des Erbrochenen in ihrem Mund zu entfernen. Nach einigen Minuten des Herumirrens auf dem Deck fand sie die Verschlusstür, öffnete sie, strich sich ihre dunkelbraunen, ungewaschenen und schulterlangen Haare aus dem Gesicht und tauchte wieder ein in das Geruchsgemisch aus Schwefel- und Buttersäure, dem abgestandenen Schweißgeruch und irgendetwas, das wie Parfum roch. Nein, nach Parfum roch es nicht.
Ihre Einbildung hatte dem widerwärtigem Geruch des Schiffsinnern nur eine süßliche Note gegeben.Vielleicht aus Sehnsucht nach dem inneren Frieden, den sie auf ihrer Reise zu finden hoffte.
quer über das Deck zu fliegen. Nach wenigen Sekunden hatte sie die Anzahl Sterne, die ihren Kopf im Zuge des Aufpralls umkreisten schon wieder vergessen. Ihren Erzählungen konnte ich entnehmen, das es viele waren.
Benommen hangelte sie sich an der Metallenen Deckbegrenzung nach oben – für einen Außenstehenden hätte es sicher sehr theatralisch ausgesehen - , um sich zu fragen, worauf sie eigentlich stand. Auf dem Deck? Hatte sie sich am Deck hochgezogen, um nun auf der Reling zu stehen? Als sie nach unten blickte befand sich in weiter Entfernung unter ihren Füßen Wasser. Gleich darauf spürte sie sich selbst fallen, den Wind schneidender als je zuvor. Als sie die Augen wieder aufschlug hing sie wiederum über der Reling und spie ihren Mageninhalt aus, sah ihm nach, wie er etliche Meter bis in die aufgewühlten Wellen segelte, wo er schließlich kaum erkennbar eintauchte. Sie empfand Mitleid mit ihrem ehemaligen Mageninhalt. Dennoch hätte sie niemals die Rolle mit ihm tauschen wollen - sie war beinahe dankbar dafür, dass er gefallen war und nicht sie, so, wie sie es sich in der Benommenheit nach dem Sturz eingebildet hatte. Voll Schadenfreude und Verzweiflung gab sie ihrem aufschreiendem Selbstbewusstsein das Versprechen, von der Insel, die sie zu bereisen suchte, nie wieder in ihre Heimat zurückzukehren, jedenfalls nicht mit diesem Schiff, dem einzigen, das jene Insel anzusteuern pflegte. Auch wenn es dort Langweilig sein sollte. Oder gefährlich. Das einzige, das sie gewollt hatte war nicht mit diesem Strom zu schwimmen, den die Stadtbevölkerung jedes Jahr einschlug. Nur noch am äußersten Rand der bekannten Territorien gab es ein paar totgeschwiegene Punkte. Ja, es gab wenige Leute die dorthin aufbrachen, einige kehrten sogar zurück. Bemitleidenswerter Weise waren diese Leute allerdings entweder schon tot – oder aber zu alt – zu dement – um von ihren Erlebnissen in dieser ungewöhnlichen, fremden und weit entfernten Welt zu berichten.
Wenn man an dem Punkt angekommen ist, an dem es einem egal ist, ob man im Urlaub Sandstrände, Gebirge oder Eiswüsten vorfindet, sondern auf der Suche nach dem Gefühl ist, an einem Ort gewesen zu sein, der etwas besonderes ist. Der dem Reisenden das letzte Kribbeln im Bauch verspüren lässt, wohl das, das die Entdecker auch verspürt haben mussten, wenn die Rede von „Land in Sicht“ war. Dann war man kein Produkt mehr, das nach von Reisekonzernen vorgeschriebenen Urlaubsideen strebte. Man war – wie sie es eben auch zu sein meinte – ein Individuum, das danach strebte seine Welt als ganzes zu erfassen – als Schöpfung – und nicht als Mosaik aus zusammengefügten Blättern eines Reisekataloges oder aus Schulbuchseiten, die über die Existenz des Mosaiks berichten, den unwissenden Betrachter jedoch nichts weiter sehen lassen als einen Haufen kleiner, bunter Steine – nicht als Bild mit einer unglaublichen Menge an Facetten, als Kunstwerk, als – wie bereits treffend bezeichnet – Schöpfung.
Sie hatte es satt gehabt, mit Taschentücher-wedelnden, schluchzenden Müttern, Großmüttern, Tanten, Schwestern, Nachbarn und Putzfrauen – der Reisenden noch „Lebe wohl“, „Viel Glück“, „Pass auf dich auf“ oder tausend feuchte Kusshände hinterherwerfend - monströse Verabschiedungsorgien zu veranstalten. Alleine dieser Gedanke brachte sie zur Rage. Sieht man Menschen, die man einmal kannte, nicht wieder, so sieht man sich nicht wieder. Das ist eine Tatsache. Und wenn die Lenkung der Welt, des Schicksals und der Existenz (und natürlich der Nichtexistenz) etwas anderes vorsah, dann war dies auch beabsichtigt. Wenn man diesen Erkenntnisstand erreicht hatte war man schließlich über derartige Gefühle erhaben. Sie hatte auf ihren Fußwegen durch die ätzend langweiligen Flachländer ihrer Heimat in Richtung Hafen genug Zeit gehabt, um sich derartige Punkte durch den Kopf gehen zu lassen. Sie hatte auch mit einem Bauern gesprochen, der sie einige Stunden auf seinem Yoih mitgenommen hatte. Er teilte ihre Ansichten wiederum überhaupt nicht. Vermutlich hatte er nicht einmal verstanden, was sie ihm da erklärte. Zum Beispiel, die Feststellung, das Heimweh pure Menschliche Einbildung ist. Das Heim ist ein Ort und der einzige Ort, an den wir gebunden sind. Und dieser Ort ist alles. Denn wir sind nur an den Ort gebunden, an dem wir uns gerade in diesem Moment befinden, denn niemand anderes kann genau an diesem Ort sein. Aber wer beginnt zu begreifen, das nicht ein paar Quadratmeter oder ein paar Quadratkilometer unser Zuhause sind, sondern die gesamte für uns unbegreifliche Existenz und wir uns in dieser Existenz überall aufhalten können, wo wir wollen, ist es überflüssig, sich ein Zuhause einzubilden. Sie war ausgesprochen stolz über die Erkenntnisse, die sie gemacht hatte. Ein anderer Mensch, mit dem sie darüber gesprochen hatte, hatte sie gewarnt, das sie jede einzelne Feststellung von allen Seiten in Frage stellen solle, bevor sie sie endgültig als Erkenntnis darstellte. Doch das hatte sie getan. Dachte sie.
Ein weiteres mal öffnete sie ihre Augen. Erst jetzt bemerkte sie, wie schwach sie eigentlich geworden war – durch die Strapazen ihrer Reise. Ihre Gedanken hatten sie davon getragen – die Extremität der äußeren Bedingungen ausgeblendet, um wenigstens ein paar Minuten in der Hölle auf Erden Ruhe zu finden. Scheinbar war es ihr für ein paar Minuten gelungen. Nun zitterten ihre Hände und ihre einfache, aber warme Bekleidung war bis auf die Knochen nass. Wieder versuchte sie nun einen Weg zu finden, diesmal wieder weg – in die auf einmal so willkommen scheinende Wärme, des üblen inneren der Fabrik in Schiffsform. Sich an der Reling entlangtastend bewegte sie sich auf dem schwankenden Schiffsboden vorsichtig in die von ihr als richtig anerkannte Richtung, unterdrückte einen Würgreiz, sammelte etwas Regenwasser in ihren schalenförmig zusammengelegten Händen, um das Wasser zum Mund zu führen und letzte Geschmacksbestandteile des Erbrochenen in ihrem Mund zu entfernen. Nach einigen Minuten des Herumirrens auf dem Deck fand sie die Verschlusstür, öffnete sie, strich sich ihre dunkelbraunen, ungewaschenen und schulterlangen Haare aus dem Gesicht und tauchte wieder ein in das Geruchsgemisch aus Schwefel- und Buttersäure, dem abgestandenen Schweißgeruch und irgendetwas, das wie Parfum roch. Nein, nach Parfum roch es nicht.
Ihre Einbildung hatte dem widerwärtigem Geruch des Schiffsinnern nur eine süßliche Note gegeben.Vielleicht aus Sehnsucht nach dem inneren Frieden, den sie auf ihrer Reise zu finden hoffte.