Norbert

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lietzensee

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Norbert

Norbert musste sich festhalten, damit das Rattern der U-Bahn ihn nicht aus dem Sitz warf. Alt war er geworden, dachte er ärgerlich. In den U-Bahnen der Stadt fuhr er schon sein ganzes Leben. Früher hatten die Stöße der Gleise ihn nie gestört. Doch von seinem Ärger durfte er sich nicht ablenken lassen. Langsam tastete er mit seiner freien Hand in die Tasche. Dort war sein Werkzeug noch sicher verwahrt. Zum Glück, es zu verlieren, wäre lächerlich gewesen und lächerlich hatte er nie sein wollen.
Um eine Haltestange tanzten zwei Mädchen. Ihre nackten Waden waren mit Giraffen und Katzen tätowiert und Norberts Blick folgte ihren Bewegungen. Er verstand diese jungen Leute nicht mehr. Für ihn hatte sich das von einer Redensart zu einem merkwürdigen Detail seines Alltags gewandelt. Die Mädchen sprachen Deutsch. Sie riefen sich Witze zu und lachten. Aber Norbert konnte den Sinn ihrer Worte nur noch selten verstehen. Der Wagon ratterte. Er hielt sich fest und tastete noch einmal in seine Tasche. Dann atmete er aus und versuchte, Kräfte für seinen Auftrag zu sammeln. Die nette Frau Sülkin hätte ihn jetzt ermahnt, dass er nicht mehr arbeiten sondern sich hinlegen solle. Eine Weile sah er dem Burschen zu, der sich auf dem Sitz gegenüber eine Zigarette drehte. Wenn er nur etwas jünger wäre, hätte er der Frau Sülkin schon lange mal eine runtergehauen.
Seine ersten Aufträge hatte er damals von Big Mike bekommen, dem König des Stuttgarter Platzes. Er erinnerte sich noch genau. Bei Besprechungen mit Mike hatten sie in seinem Hinterzimmer Whisky mit Cola getrunken. Norberts Freundin hatte Gertrud geheißen und jede Fahrt mit der U-Bahn war ihm damals endlos lang vorgekommen. Er war ungeduldig gewesen. Sein Blick glitt die Gesichter im Wagon entlang. Ungeduldig war er jetzt nicht mehr, wenigstens das. Die Fahrtzeit brauchte er nun, um vor dem nächsten Auftrag Kraft zu schöpfen.
An einem heißen Julitag hatten sie Big Mike mit seinem eigenen Mercedes überrollt. Dieser Blick in seinen Augen, während der Asphalt unter ihm sich langsam rot färbte. Damals waren die Sitten noch rauer gewesen – und die U-Bahn-Wagons hatten nach Tabak gestunken. Norbert wischte sich etwas Spucke aus den Mundwinkeln. Nach Big Mike waren natürlich andere Auftraggeber gekommen, Henry, der dicke Kurde und andere, deren Namen ihm gerade entfallen waren. In seiner Tasche tastete Norbert nach seinem Werkzeug. Vorsichtig prüfte er die Schneide des Messers. Die jungen Kerle wussten ja nicht, wie es früher gewesen war. Sicher lachten sie heimlich über ihn. Aber mit seiner Arbeitserfahrung konnte niemand mithalten.
Norbert erinnerte sich, wie er selbst damals über die alten Herren gespottet hatte, Männer, die noch Homburger Hüte trugen und nach ein paar Gläsern Korn ihre Kriegsverletzungen vorzeigten. Klaus Müller, Ein-Ohr-Hans, das waren noch echte Ganoven gewesen. Vor den Fenstern des Wagons glitzerten Fassaden von neuen Bürogebäuden. Ja, man wurde schnell alt und konnte nur versuchen, das mit Würde zu ertragen. Norbert wischte sich die Mundwinkel, stand auf und überlegte dann, wie eigentlich die nächste Haltestelle auf dieser Linie hieß. Der Bursche gegenüber machte ihm Platz, schob sogar seinen Rucksack zur Seite, doch Norbert stolperte trotzdem gegen dessen Knie. Ihre Blicke trafen sich.
„Seniler Spacken!“
Einen Moment ließ sich Norbert von diesen Worten verwirren. Das wäre ihm früher nicht passiert. Dann zog er sein Messer hervor. „Sprichst du mit mir?“
Sie starrten einander an und Norbert kostete diesen Moment länger aus, als er das früher für klug gehalten hätte. Der junge Schnösel hielt seinem Blick nicht stand. Er konnte jetzt die Altersflecken auf Norberts Hand begaffen, oder Essensreste auf seinem Hemd. Aber die Hand mit den Altersflecken hielt das Messer. Adrenalin schoss durch Norberts Körper. Er lächelte. Der andere wich zurück, musste nach einer Haltestange greifen und starrte auf den Boden. Als Norbert dann durch die sich öffnenden Türen trat, war er für einen Augenblick wieder ganz der Alte.
Auf dem Bahnsteig musste er sich setzen. Er hatte es also noch immer in sich. Gut zu wissen, schließlich hatte er einen Auftrag zu erfüllen! Er stand auf, sah sich um und für einen Moment war er wieder verwirrt. Von wem kam eigentlich der Auftrag? Dann funkte etwas in seinem Verstand, Big Mike, natürlich, von wem auch sonst. Die übliche Sorte Auftrag eben. Als vor ihm eine Bahn hielt, stieg er ein und fuhr zurück in die Richtung, aus der er eigentlich gerade gekommen war. Norbert musste sich festhalten, damit das Rattern der U-Bahn ihn nicht aus dem Sitz warf. Alt war er geworden, dachte er. Hinter diesem Gedanken lauerte etwas Anderes, eine vage Angst, die er eigentlich nur beim nächtlichen Erwachen im Bett kannte. Doch von Ängsten durfte er sich nicht ablenken lassen. Norberts Blick glitt die Gesichter im Wagon entlang. Seine Hand in der Tasche umklammerte das Messer.
 
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Aufschreiber

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Sehr gut geschrieben.
Ganz offensichtlich ist Norbert schon aus der Phase raus, in der er noch mitbekommt, was da mit ihm geschieht.
Ich hab das mehrfach miterlebt, wie Menschen erschrecken, weil sie immer wieder Familienangehörige mit falschen Namen ansprechen. Wie sie dazu übergehen, sich abzusichern, indem sie einfach gar keine Namen mehr nennen.
Und dann kommt die Phase, in der die Vergangenheit zur einzig erlebten Realität wird.

Nicht einfach, das mitzuerleben. Und sicher (zumindest eine Zeit lang) schlimm für die Betroffenen.
Ich glaube, dass Dir die Darstellung des Ganzen sehr gut gelungen ist.

Beste Grüße,
Steffen
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Aufschreiber,
vielen Dank für deine Antwort und die Bewertung! Du beschreibst das sehr treffend. Diese Art von Tragik wollte ich darstellen. Bei Norbert kommt noch hinzu, er keine Familie hat und sich selbst überlassen bleibt.

Viele Grüße
lietzensee
 

Lord Nelson

Mitglied
Klasse eingefühlt in die Problematik der Demenz - und fesselnd bis zum letzten Wort.

Bis zum "Bahnsteig" erwartete ich, dass der betagte Norbert gleich seinen "Auftrag" erfüllt. Armer Norbert!
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Lord Nelson,
vielen Dank für deine Antwort und die positive Bewertung! Es freut mich, dass der Plot für dich nicht zu vorhersehbar war.

Viele Grüße
lietzensee
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo lietzensee,

einfühlsam beschriebene innere Vorgänge!

Selbst Kriminelle bleiben nicht von Demenz verschont.

Interessanter Blickwinkel!

Deshalb gerne empfohlen.

Viele Grüße

DS
 
G

Gelöschtes Mitglied 23676

Gast
Ein mehr oder weniger umständlich formulierter unverständlicher Text, dessen im Verlauf der Kommentare geschilderten vermeintlichen Qualität ich leider nichts abgewinnen kann.
 

lietzensee

Mitglied
Hallo DocSchneider, hallo Benutzername1990,
vielen Dank für eure Anworten und natürlich auch für die Empfehlung!

Viele Grüße
lietzensee
 
Mir gefällt der Text sehr gut. Bis zum Bahnsteig und dem erneuten Einsteigen in den nächsten Zug hatte ich keine Ahnung! Und auch die Demenz und ihre Windungen sind sehr gut eingebaut. Obwohl der Mann alles hat, um unsymphatisch zu sein, fühle ich trotzdem mit ihm mit.

Viele Grüße
Stachelbeermond
 

Majalu

Mitglied
Ein sehr angenehmer Schreibstil, und eine kurze, packende Handlung, die bei mir ein starkes, fast beklemmendes Mitfühlen hervorruft. Fast möchte ich einspringen und helfen. Geht unter die Haut und habe ich gern gelesen!
Liebe Grüße
Majalu
 

anbas

Mitglied
Hallo litzensee,

ein guter Text, zu dem ich nur wenige Anmerkungen habe:

Die nette Frau Sülkin hätte ihn jetzt ermahnt, dass er nicht mehr arbeiten solle, sondern sich hinlegen
würde ich ändern in
Die nette Frau Sülkin hätte ihn jetzt ermahnt, dass er nicht mehr arbeiten sondern sich hinlegen solle.
Zumindest für mein Lesegefühl ist das glatter, harmonischer.

Die Fahrtzeit brauchte er nun, um vor dem nächsten Auftrag Kraft zu schöpfen.
Diesen Satz würde ich ersatzlos streichen. Du hast schon vorher einemal geschrieben, dass er Kraft sammeln müsse. Auf mich wirkt dies hier an dieser Stelle wie eine unnötige Wiederholung.

und die U-Bahn-Wagons hatten nach Pisse gerochen
Nur so als Idee:
und die U-Bahn-Wagons hatten nach Pisse und Zigaretten gerochen
Wäre noch mal ein kleiner Bogen zu dem Typen, der sich gerade die Zigarette dreht.

aus der er eigentlich gerade gekommen war

Ferner bin ich ein "Fan" davon, vor einem "und" ein Komma zu setzen, wenn es zwei Hauptsätze miteinander verbindet. Laut Duden kann man das machen, muss es aber nicht - somit ist es kein Fehler (ich habe das noch anders gelernt, bin auch nicht mehr der Jüngste ;)). Ich persönlich finde aber, dass der Lesecomfort steigt, wenn man diese Kommata setzt.

Insgesamt aber ein gut geschriebener Text, der zeigt, dass Du schreiben kannst ;).


Liebe Grüße

Andreas
 
G

Gelöschtes Mitglied 23708

Gast
Hallo lietzensee,

eine tolle, realistische Geschichte, die nachdenklich macht. Gut erzählt und top geschrieben. Nur ein kleiner Plot-Twist am Ende hat mir igendwie noch gefehlt. So ist die Geschichte etwas zu handlungsarm (für meinen Geschmack)

Gruß
Alex.ey
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo lietzensee,

das war schon stark, wie man quasi im Kopf des Protagonisten über die Schwelle flutscht, in der es in die Endlosschleife geht. Da ist einer eine Bedrohung und ist selbst bedroht - Auslöschung im doppelten Sinn ...
Ein sehr guter Text!

Liebe Grüße
Petra
 

lietzensee

Mitglied
Hallo noch mal,
vielen Dank für eure Antworten und Bewertungen. Es freut mich, dass euch der Text anspricht oder zum Widerspruch anregt. Wir kommen auf jeden Fall ins Gespräch :)
Danke für die Anmerkungen @anbas. Nach so langer Zeit ist es schwer, sich wieder in einen Text rein zu denken, aber das sind gute Punkte.

Die nette Frau Sülkin hätte ihn jetzt ermahnt, dass er nicht mehr arbeiten sondern sich hinlegen solle.
Deine Variante klingt wirklich viel glatter. Ich habe es so übernommen.

Die Fahrtzeit brauchte er nun, um vor dem nächsten Auftrag Kraft zu schöpfen.
Ich wollte den Gegensatz rausstreichen, dass die Fahrtzeit ihm früher verschwendet schien, aber er sie heute als Ruhezeit braucht. Das ist mir dieser Satz auch immer noch wert. Man könnte vielleicht das erste Ausruhen streichen. Aber dafür stecke ich nun nicht mehr tief genug im Text drin.

und die U-Bahn-Wagons hatten nach Pisse und Zigaretten gerochen
Uj, mit der Pisse war ich nie ganz zufrieden. Keine Ahnung, wie die Wagons früher gerochen haben. Aber dass es nach Tabak gestunken hat, ist naheliegend. Ich habe die Idee gerne geklaut.

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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