Normal ticken

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Hera Klit

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Normal ticken

Ich nehme den schmutzigen Wagen als Vorwand, mich eins zwei Stunden loszueisen. Mutter, die gerade in ein Gespräch mit den lieben Nachbarn verwickelt ist, gewährt mir diesen Freiraum, obwohl sie grundsätzlich glaubt, nicht mehr allein sein zu können, in diesem viel zu großen Haus.
Ich löse ein Waschanlagenticket bei der kleinen Blonden in der Tanke.
Sie wirft mir das Wechselgeld mit langen weißen Krallen in die Handmulde. Obwohl ich anständig bleiben will, passiert es mir, dass ich denke:
„Damit könntest du mir einen runterschruppen.“ Das ist ungehobelt und unanständig, aber sie ist zu schön und zu aufreizend, man muss mir das verzeihen. Zum Glück war ich nie mit einer Frau zusammen, die so unendlich geil daherkam, das hätte mich wahrscheinlich gekillt. Gott hielt sie mir vor, weil er es gut mit mir meinte. Sie machen dich fertig wie eine Überdosis. Ein Mann in meinem Alter muss da besonders vorsichtig sein. Schon ihr Anblick kann ihn wegraffen.
Ich stelle den Wagen fast korrekt mittig in die Waschanlage, klappe die Spiegel ein und schraube die Stummelantenne ab. Danach gebe ich den Code ein und drücke auf Go und binnen von fünf Minuten habe ich ein blitzblankes Auto da stehen und das für schlappe elf Euro. Früher wusch ich den Wagen auf dem Hof mit der Hand, das kostete in der Regel einen Samstagnachmittag und jede Menge Nerven. In vielem sind wir heute definitiv besser dran.

Nachmittags vor dem Badspiegel dachte ich noch, ich lasse die grauen Haare jetzt rauswachsen, was solls, ich bin so alt wie ich bin, aber jetzt mit dem glänzenden Auto und dem aufreibenden Erlebnis mit der Kleinen an der Kasse, beschließe ich spontan zum Rossmann nach Groß-Gerau Nord zu fahren, um mir Haartönung zu kaufen. Ich will jetzt nicht wie mein Vater aussehen, auch wenn ich bei Mutter wieder einziehe. Ich bin nicht mein Vater, ich bin sein Sohn und noch jung genug, um das Leben leben zu können. Ich werde meine Freiräume benötigen. Ausflüge, Rockkonzerte und evtl. sogar Begegnungen mit Menschen verschiedenen Geschlechts. Im Rossmann kniet eine Braune mit herrlicher Figur vor dem Regal und räumt mit pinkfarbenen, langen Fingernägeln verschiedene Produkte ein.

Ich versuche nichts Unanständiges zu denken, herrje, aber warum sind die heute so scharf zurechtgemacht, das hält doch kein halbwegs gesunder Mann im Kopf aus. Was finde ich überhaupt an diesen Nails? Was assoziiert mein männliches Unterbewusstsein denn damit, dass ich regelmäßig ganz rattig werde, wenn ich es sehe? Will ich, dass ein blutrünstiges, gefährliches Monster an mir rumspielt, weil ich das Prickeln der Kastrationsgefahr so liebe? Kann sein.

An der Kasse sitzt eine mit Kopftuch und korrekt gestutzte, sauberen Nägeln, das hilft mir etwas abzukühlen. Vielleicht liegen die doch richtig damit, ihre Frauen zu entschärfen?
Man muss als Mann doch nicht den ganzen Tag gereizt werden wie ein Stier in der Arena.
Ganz möchte ich aber nicht darauf verzichten, denn es belebt einen doch auch und bringt das träge Blut so schön in Wallung. Wir wollen was sehen, auch wenn wir nichts dafür bezahlen.

Ich rufe Mutter an und sage, ich komme etwas später, denn ich hätte noch Lust, an den Rhein zu fahren und den Sonnenuntergang zu fotografieren. Sie stimmt zögerlich zu, sagt aber, ich solle unbedingt auf mich aufpassen. Sie ist wieder voller Ängste, ich werde etwas Arbeit mit ihr haben, bis sie wieder normal tickt. Vater schaffte es nie, ich immer. Das hat schon Tradition.

Es ist kaum zu erwarten, dass eine vom Kaliber, von der mit den weißen oder der mit den pinkfarbenen Krallen am Rhein auf mich warten wird, aber die Hoffnung hat ein Mann doch immer. Seit dreiunddreißig Jahren denke ich nun zum ersten Mal wieder daran, nach Frankfurt in die Kaiserstraße zu fahren. Dort haben sie solche für wenig Kohle und unkompliziert.

Aber moralisch spricht ja so viel dagegen. Das ist einfach nicht ok. Aber die Zündschnur brennt.
Wie zu erwarten war, ist es am Rhein recht ruhig. Eine Bikergruppe rastet am Kiosk. Männer in meinem Alter, die sich zusammengerottet haben, um einem vernünftigen Hobby nachzugehen. Ich schaue mir die Harley genauer an. So eine wollte ich auch immer fahren.
Die blanke Verkörperung von Freiheit und Geilheit und Leck-mich-am-Arsch.
Selbst wenn ich einen Motoradführerschein hätte könnte ich sie mir momentan nicht leisten.
Es ist doch auch nur eine verlockende Sünde wie die Kleine in der Tanke und die Braune zwischen den Regalen.

Ich beschließe, romantische Aufnahmen vom Sonnenuntergang über den Rheinbergen zu machen. Die kann ich Mutter nachher zeigen. Sie werden ihr gefallen und sie wird sehen, ihr Sohn macht nichts Unvernünftiges, er ist ein anständiger Mann, auf den sie immer bauen kann.
 

Hans Dotterich

Mitglied
"...Dort haben sie solche für wenig Kohle..."

Was für ein ordentlicher Spruch! Muss ich mir unbedingt merken. Und noch einiges mehr.

Hans
 



 
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