Viviane Lampenberg
Mitglied
Wir sind gefangen in unserer Welt.
Unsere Vorstellungen, Wünsche und Erwartungen bestimmen unsere Realität.
Unsere Vorstellungen, Wünsche und Erwartungen bestimmen unsere Realität.
Die neue Welt
Ich besuchte eine Coiffeuse und liess mir die Haare schneiden. Allerdings war ich mit dem Ergebnis nicht zufrieden, denn der Haarschnitt fühlte sich trotz Coiffeusen Besuch viel zu lange an. Ich beschloss, selber die Schere zur Hand zu nehmen, um meine gelockten, braunen Haare zu bestrafen. Wie so oft, schnitt ich mir die Haare von meinem Kopf. Sie fielen langsam auf den Boden und verteilten sich in allen Ecken. Dieses Mal erreichte meine Haarpracht ausnahmsweise keinen sehr kurzen, männlichen Schnitt, da ich einen Teil meiner Weiblichkeit bewahren und beibehalten wollte. Lange Haare ziehen Männerblicke auf mich. Auf keinen Fall möchte ich auffallen. Ich bevorzuge es, im Schatten anderer Menschen zu verweilen und unauffällig an meinen Mitmenschen vorbei zu schleichen. Wenn mir ein Mann Beachtung schenkt, dann fühle ich mich als erstes bedroht. Wenn er mich mit seinen Augen verschlingt, dann bin ich mit meinen langen Haare Schuld daran. Wenn ein Mann mich zu stark wahrnimmt, dann kürze ich bei der nächsten Gelegenheit meine lockigen Haare. Mein heutiger, selbst angefertigter Haarschnitt ist nicht perfekt. Er ist unauffällig und dezent. Genau so will ich ihn haben. Ich bin mit ihm zufrieden.
Ich besitze mit meinen 44 Jahren bereits ein ausreichendes Wissen und weitreichende Begabungen. Leider finde ich nicht immer den Mut, mir selbst Glauben zu schenken und meinen Wert genügend zu schätzen. Eigentlich ist mir bewusst, dass ich bereits vollkommen auf dieser Welt angekommen bin. Bei meiner Zeugung wurde mir mein vollkommenes Leben geschenkt. Irgendwo auf meinem Lebensweg ging jedoch das Vertrauen in mich selbst Stück für Stück verloren. Heute weiss ich nicht mehr, was im Leben bedeutungsvoll und wertvoll ist. Häufig zweifle ich an meinen Entscheidungen. Mache ich alles richtig? Gibt es überhaupt einen Lebens-Leitfaden, was richtig und was falsch ist? Ich bedaure sehr, dass ich kein gläubiger Mensch bin, denn Gott soll, unabhängig davon wer man ist und wie man handelt, ausnahmslos alle lieben. Ich bin niemand Außergewöhnliches. Ich bin weder alt noch jung, noch besonders intelligent, weder talentiert, noch unbegabt. Ich bin mit meinen dunklen Augen nicht hässlich, aber auch nicht herausragend schön. Manchmal werde ich als emotionaler Abfallhaufen anderer Menschen gebraucht. Manchmal spreche ich unbedacht zu viele aggressive und unnötige Worte aus. Ab und zu treffe ich falsche Entscheidungen, die ich später bereue. Manchmal sehe ich die Wunder und die Schönheiten in meinem Blickfeld erst, wenn sie vergangen sind.
Ich empfange sowohl Glück, wie auch Leid. Diese vielfältigen Himmel hohen und Abgrund tiefen Eindrücke drohen mich manchmal zu erdrücken. Manchmal brauche ich jemanden, der mich anlächelt, mich ernst nimmt und mir Beachtung schenkt, ohne dem sexuellen Trieb zu folgen. Manchmal gebe ich etwas von mir ab, ohne einen Vorteil für mich ergattern zu wollen, und manchmal erwarte ich viel zu viel von einem bestimmten Menschen. Manchmal zerbreche ich mir den Kopf über die Frage, woher ich komme, wohin ich gehen werde und was der Sinn meines Daseins ist. Ich weiss, dass ich nicht ewig bin und eines Tages in Einzelteile zerfallen werde. Mein Körper wird dann über die ganze Welt verteilt werden und zurück zum Ursprung kehren. Ich habe Angst vor dem Tod, denn er ist endgültig und radikal. Ich befürchte, dass die Welt an mir vorbeizieht, ohne dass ich wirklich gelebt habe.
Ich möchte nicht als Gespenst über diese Erde wandeln und all meine Gefühle und Gedanken unterdrücken. Doch was ist in einem Menschenleben schon von Bedeutung? Alles und Nichts gleichzeitig? Habe ich in einem unendlich großen Universum als kleines, unbedeutendes Staubkorn einen Anspruch auf Beachtung? Und wenn ja, wer soll oder kann mir diesen Anspruch auf Bedeutung erwidern?
Du siehst; ich habe grosse Zweifel, die mich innerlich zerfressen. Meine Bedenken gehen so weit, dass ich mich frage, ob meine Zweifel wichtig sind? Ich sollte nicht zu viel denken, am Leben teilhaben, nicht alles hinterfragen und mich nicht mehr im Verborgenen halten. Ich sollte unvoreingenommen und mit kindlicher Naivität in den Strom des Lebens springen. Ich sollte die Schönheiten dieser Erde jederzeit ehren und bewundern können. Ich sollte dankbar sein für mein größtes Geschenk, das es gibt: Mein Leben! Ich verrate dir ein Geheimnis! Ich vertraue niemandem zu 100%. Alleine in diesem Text, aus zusammengefügten Buchstaben, geformten Worten und emotionalen Sätzen, werde ich mein innerstes an die Oberfläche holen. Ich schenke dir diese Zeilen, weil ich dich mag und ich mir wünschen würde, ich könnte dir vertrauen. Wenn du willst, darfst du in meine Welt eintauchen, doch bedenke, es gibt kein zurück.
Verrückt
Wie verbindet sich alles im Leben und was hält die Welt im Kleinsten zusammen? Die Stimmen in meinem Kopf könnten mir diese Frage vermutlich beantworten, wenn sie es wollten, denn sie scheinen alles zu verstehen und zu wissen. Ohne Wörter, ohne Sätzen und ohne Schallwellen teilen sie mir manchmal in gespenstischer Art ein Geheimnis ihrer Welt mit. Dir werde ich von den Stimmen in meinem Kopf erzählen, denn du wirst mir vermutlich zuhören. Wer sind diese Stimmen? fragst du dich bestimmt.
Die Stimmen in meinem Kopf sind für mich eine Plage und eine Bereicherung zugleich, denn sie überfordern meinen Verstand und schenken mir zugleich wertvolles Wissen. Die allwissenden Stimmen kommunizierten mit mir in eindrücklichen Bildern und mit starken Gefühlen schon seit längerem. In den unmöglichsten Momenten in meinem Leben teilten sie mir zukünftige oder vergangene Ereignisse mit, die einem gewöhnlichen Menschen normalerweise verborgen bleiben müssten. Mit dem Wissen der Stimmen konnte ich in meiner Jugend einem Mitschüler voraus sagen, dass er in jungen Jahren bereits sterben werde, was sich leider bewahrheitete. Die Stimmen flüsterten mir in den unerwartetsten Momenten zu, welche Zukunft ein Mensch in meinem Umfeld zu erwarten habe. Eine Krankheit meiner Mitmenschen bleibt mir, dank der Stimmen in meinem Kopf, nie verborgen. Die Stimmen flüstern mir zu, welche Leiden einen Menschen plagen. Diese leisen Stimmen drangen zu gewissen Zeiten aufdringlich in meinen Kopf ein, um mir mitzuteilen, dass ich mein Leben zu ändern habe. Ich befolgte fast immer ihren Rat, denn ich gehe eher davon aus, dass sie es gut mit mir meinen. Sie warnten mich in der Vergangenheit vor Gefahren und breiteten in bedrohlichen Momenten ihren Schutz über mir aus. Sie lernten mich, die Gedanken anderer Menschen zu lesen. Du hast mich bisher oft in deine Gedanken schauen lassen. Kannst du auch in meine Gedanken sehen oder fehlen dir die Lehrmeister in Form von Stimmen in deinem Kopf?
Es ist nicht immer leicht, die Stimmen in meinem Kopf zu tolerieren, denn sie verdrehen meine Gedanken und werfen lose und unvollständige Eindrücke in meinen Kopf hinein. Nicht alles, was sie mir zeigen wollen, kann ich verarbeiten. So sehr ich mich bemühe zu verstehen; häufig lassen sie mich nach ihrem Besuch mit meinen grübelnden und verwirrten Gedanken alleine. Ich bat die Stimmen mir klar und deutlich zu zeigen, was sie von mir wollen. Weshalb quält ihr mich? schrie ich wütend in die Nacht hinein. Sie hinterließen mir als Antwort viele Träume; zahlreiche, wirre und zum Teil auch lehrreiche Einblicke in eine andere Welt. Ich erzähle dir einige dieser verrückten Träume, die mir besonders gut in meinem Gedächtnis haften blieben. Vergiss nicht, dass diese Träume nicht nur von Eindrücken der Welt der ewigen Stimmen sind. Die reine Welt der Stimmen wäre für mich unverständlich und nicht fassbar. Damit ich die Botschaft der Stimmen verstehen konnte, mussten sich die ewige, unfassbare, ausgeglichene Welt der Stimmen mit einem Teil von mir selbst verbinden. Was ich damit sagen will: Diese Träume, die ich dir gleich erzählen werde, sind ein Teil von mir! Seit ich diese Welt betrat, waren sie bereits ein Bestandteil von meinem selbst.
Offener Blick
Ich träumte in einer Nacht, dass ich in meinem weitläufigen Elternhaus im ersten Stock oben am Ende der grossen Wendeltreppe aus Holz stehen würde und Richtung verglaste Terrassentür schauen könne. Die breite Tür mit Holzrahmen stand einen Spalt offen. Feiner, angenehmer, duftender Wind ließ die geblümten Vorhänge der Terrassenfront rhythmisch schaukeln. Es war im Traum ein trüber Wintertag, der das Treppenende, auf dem ich stand, in geheimnisvolles Licht hüllte. Ein alter Herr mit dichten, grauen Haaren und einem rundlichen Gesicht stand vor mir und schaute ruhig und gelassen Richtung Terrassentür. Ich kannte diesen Menschen nicht. Weshalb hielt es sich im Haus meiner Eltern auf? Dieser sympathische Mann war schlank, klein, gesund, gepflegt und auf den ersten Eindruck unauffällig und alltäglich. Erst als er den Kopf zu mir drehte, bemerkte ich seine Besonderheiten. Seine Augen strahlten und sein Mund lächelte. Er war vollkommen bei sich angekommen und ganz und gar ausgeglichen. Er hatte seinen inneren Frieden schon seit langem gefunden. Ich wusste, dass es unwichtig war, wie dieser Herr aussah, was er tat und wie er hieß. Es hätte auch eine beliebige andere Person dort in meinem Traum vor mir stehen können. Es wäre alles auf das gleiche hinausgelaufen.
Ich verstand schnell: Dieser Mann in meinem Traum war gleichzusetzen mit den Stimmen in meinem Kopf, die zeitweise zu mir sprachen und mich eine neue Welt entdecken ließen. Die unfassbaren Stimmen wollten mir dieses Mal im Traum nicht als ein undefinierbares, nicht greifbares Etwas erscheinen. Nein, sie stellen sich auf eine für mich logische Art und Weise dar; Nämlich in Form eines alten, sympathischen, menschlichen Mannes mit Macken und Kanten.
Der Mann schaute an den schaukelnden Vorhängen vorbei durch die gläserne Terrassenfront hinaus auf den Vorplatz und in den Garten meiner Eltern und sagte ruhig: Es ist ein schönes Wetter Heute. Bisher schenkte mir dieser fremde Mann im Haus meiner Eltern keinerlei Beachtung. Doch nun, als ich nichts erwiderte, drehte dieser besondere, ältere Herr seinen Kopf auffordernd zu mir und lächelte mir wissend zu. Ich starrte ihn verwirrt an und verstand diese Traumwelt-Nachricht nicht direkt. Wird er mir etwas wichtiges beibringen und mir ein wertvolles Geheimnis verraten oder testet er meine Geduld und spricht nur über Banalitäten? Der ältere Herr bemerkte meine Enttäuschung und Unsicherheit und zeigte mir erneut, dass er nach draußen schaute. Ich folgte nach dieser zweiten Aufforderung verwirrt seinem Blick, trat vor die Terrassentür zwischen die geblümten Vorhänge und schaute hinaus.
Im Garten, direkt vor der Terrasse sah ich viele wunderschöne, rosarote Kirschblüten in hellem Sonnenlicht glitzern. Diese wunderbare Blütenpracht hatte ich bis anhin noch nicht bemerkt. Diese Schönheit verlangte all meine Aufmerksamkeit. Lange bewunderte ich dieses Naturwunder mit Ehrfurcht. Mein Blick schweifte auf den Gartenboden. Eigenartigerweise standen alle Kirschbäume auf einer dicken, hohen Eissicht. Keine einzige der Baumwurzeln konnte braune Erde kosten. Im Wurzelbereich der Bäume herrschte tiefste Eiszeit und doch blühten diese besonders schönen Kirschbäume in voller Bracht. Was ging hier vor? Hatten wir Winter oder Frühling? Können Bäume im Winter blühen? Welche Jahreszeit herrschte in diesem Traum vor? Ich war verwirrt und nicht genügend aufmerksam. So bemerkte ich erst spät, dass alle 4 Jahreszeiten gleichzeitig an diesem besonderen Ort existierten durften. Die obersten Baumäste in Terrassenhöhe waren gefüllt mit tausenden, wunderschönen, rosaroten Blüten. Ein wenig darunter wuchsen an den gleichen Bäumen kräftige, grüne Blätter und saftige, rote Kirschen hingen an den zarten Zweigen dieser besonderen Bäumen. Weiter unten, in der Nähe des Baumstammes, verwelkten rotbraune, dürre Blätter und fielen auf den eisigen Boden hinunter. So schloss sich der Kreis der Jahreszeiten. Die Bäume hielten sich keineswegs an die Naturgesetze. Sie waren frei und mussten sich nicht an äußeren Einflüssen, wie Wetterbedingungen anpassen. In diesem kleinen Moment vereinten diese besonderen Bäume ein vollkommenes Jahr. Die Stimmen gewährten mir in diesem Traum einen kurzen Blick auf wunderschöne, kräftig, majestätische Bäume von einer anderen Realität. Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich noch eine weitere Besonderheit: Die blühenden Kirschbäume standen nicht im realen, vereisten Garten mit Steinmauern und gepflasterten Vorplatz meiner Eltern. Nein, sie wuchsen dicht zusammengedrückt auf einem schwimmenden Eisberg im dunklen, weiten Ozean. Das Haus meiner Eltern stand am Eisstrand dieser Eisinsel und ich schaute durch die Terrassenfront im ersten Stock meines Elternhauses über wunderschöne, rosarote Blüten hinweg, hinaus über das ruhige, dunkle Wasser auf einen weit entfernten Horizont. Ich drehte mich von der Terrassenfront weg, schaute dem sympathischen, älteren Mann ins Gesicht und stammelte verstört, dass ich dies nicht verstehen könne. Im Winter, wenn der Boden vereist sei, würden nie Kirschbäume blühen. Es gebe keinen Ort, an dem alle Jahreszeiten gleichzeitig vereint wären und das Haus meiner Eltern stehe auch nicht auf einem Eisberg im Ozean, sondern auf dem Festland! Ich erwähnte beinahe wütend: Was er mir hier zeigen würde, sei unlogisch und unmöglich. Für den älteren Herr neben mir war dies Tatsache, dass es in unserer Welt diese Naturphänomene nicht geben könnte, keine Besonderheit und kein Grund zur Sorge. Ruhig und immer noch lächelnd fixierte er mich mit seinen leuchtenden Augen und fragte mich, ob ich jetzt verstehen könne…
Ich schüttelte als Antwort meinen Kopf. Doch langsam stieg unerwartet eine Erkenntnis in mir hoch. Vielleicht sollte ich keine voreilige Schlüsse ziehen und die Weisheit meines Gegenübers nicht zu schnell anzweifeln. Schließlich habe ich dieses Wunder mit meinen eigenen Traumaugen gesehen! schoss in meine Gedanken. Der sympathische Herr bemerkte meine gewonnene Erkenntnis, nickte mir zu und verschwand mit einem gutmütigen Lächeln im Gesicht aus meinem Traum. Ich brauchte ihn nicht mehr. Ich hatte in diesem Traum verstanden, was er mir sagen wollte. Ich erwachte glücklich, denn ich hatte das Gefühl etwas gelernt zu haben.
Wir leben oft in einem Käfig voller selbst geschaffener Grenzen. Wir ignorieren viele Wahrheiten, weil wir keine Übersicht und keinen Weitblick haben. Wir sollten unseren Geist nicht von selbst geschaffenen Normen und egoistischen Wertvorstellungen beschränken lassen. Wer seine starren Denkmuster und fixen Wertvorstellungen verlässt, dem bieten sich unbegrenzte Möglichkeiten. Dieser Mensch ist frei und offen für alles!
Abgelöst
In diesem besonderen Traum, an den ich mich gut erinnere, vergaß ich alles. Ich kannte meine tagtäglichen Sorgen und Herausforderungen nicht mehr. Meine Zweifel, ob ich immer die richtigen Entscheidungen getroffen habe oder treffe, verschwanden aus meinen Gedanken. Meine Erwartungen, wie ich mir meine Zukunft vorstelle, waren nun unwichtig und belanglos. Alle hoffnungsvollen und nagenden Bilder in meinen Kopf, wie ich mein Leben planen und regeln möchte, wurden bedeutungslos. Meine Luftschlösser, an denen ich tagtäglich weiter baue, obwohl ich weiss, dass sie nichts Handfestes sind, zersprangen wie schwebende, zerplatzende Seifenblasen. Wie würde ich reagieren, wenn du plötzlich vor mir stehen würdest? Was würde ich sagen, wenn ich dich wieder sehen könnte? All diese Fragen waren in diesem Traum plötzlich unwichtig und bedeutungslos.
Ich besaß keine Kreativität mehr, was ich am Anfang meines Traumes noch bedauerte. Ich konnte nichts erschaffen, weder etwas aufzeichnen, noch mich verständlich ausdrücken. Nichts war greifbar, obwohl es direkt vor mir zu sein schien. Ich verlor alle meine Gedanken und die Fähigkeit zu sprechen. Es blieben alleine meine allumfassende Gefühle übrig. Glücklicherweise war dies Tatenlosigkeit und Sinnlosigkeit kein Weltuntergang für mich. Meine Gedanken, was das Ganze soll, waren überflüssig und verschwanden bald vollständig aus meinem Gehirn. Ich sann nicht mehr darüber nach, was die Stimmen wohl von mir wollten. Ich akzeptierte bedingungslos meinen Zustand. Es störte mich nicht, dass ich weder Denken noch Handeln konnte. Ich war in diesem Augenblick glücklich und völlig ausgeglichen und alleine diese Tatsache war mir wichtig.
Ich trennte mich dann vom alltäglichen Geschehen vollständig ab. Mein banales Leben und dieses meiner Mitmenschen lag bald wie eine dicke, gewundene, gefiederte Schlange unter mir und bewegte sich ruhig und gleichmäßig in schlängelnden, pulsierenden Bewegungen. Ich sah von Aussen in diesen Strom des Lebens hinein und beobachtete vollkommen ruhig, als wäre ich tot, wie alles an mir vorbeilief. Ich sah im Lebensstrom integriert meine Mitmenschen teilnahmslos ihre alltäglichen Arbeiten erledigen. Mein Blickwinkel vergrößerte sich, sodass ich bald Tausende von Lebewesen im Strom des Lebens wahrnehmen konnte. In den Augen einiger dieser Menschen sah ich Hass. Ich wertete ihre Aggressionen nicht. Ich war nur eine träumende, teilnahmslose Beobachterin, die alles von weit her beäugte und keinen Einfluss darauf hatte. Mein Blickfeld weitete sich noch mehr. Bald floss jedes Lebewesen dieser Erde im Strom des Lebens an mir vorbei. Ich bemerkte manchmal die egoistische Eifersucht einiger vorbei treibender Menschen, die drohte ihre Herzen zu verdunkeln. Ich sah die Wut, die wie spitze Pfeile aus den Menschen schoss und andere schwer verletzen konnte. Doch ich bemerkte auch häufig unter den Menschen im Lebensstrom bedingungslose Liebe, die sie einander wie bunte Blumen freiwillig übergaben.
Von meinem Beobachtungsposten außerhalb des Lebens Stroms sah ich helle Freude, die manche Menschen untereinander teilten. Mir fiel die Loyalität und das Vertrauen auf, das gewisse Menschengruppe untereinander fest verband. Es gab im Lebensstrom unüberlegtes Handeln, dem sowohl Hass und Aggression, wie auch Vergebung und Verständnis entgegengebracht wurde. Frieden und Kriege wurden gleichzeitig und gleichmäßig im kompakten Schlauch gefüllt mit Leben zelebriert. Es existierten unter den Menschen, die ich studierte, Hoffnungen und Ängste, Freud und Leid, Glück und Kummer; all diese Gesinnungen bestanden gleichzeitig und durchaus ausgeglichen im Lebensstrom unter mir.
Ich betrachtete in meinem Träume weiterhin fasziniert und hingebungsvoll den unter mir fliessenden, bunten, gewunden, pulsierenden Lebensstrom. Die Menschenmasse mit ihren Emotionen und Handlungen fügte sich zusammen, so wie ein großes Puzzle als Belohnung beim Zusammenfügen ein schönes Bild bereithält. In diesem Augenblick in meinem Traum verstand ich die komplette Menschheit. Der hell leuchtende, schlängelnde Lichtstrom mit dem allumfassenden menschlichen Leben entfernte sich immer weiter von mir weg, bis er vollständig aus meinem Blickfeld verschwand. Ich war endlich in der neuen Welt angekommen. Weder Licht noch Schatten existierte hier. In dieser Welt gab es nichts, keine Körper, keinen Raum und keine Zeit. Ich war in der vollkommenen Freiheit angekommen. Ich erwachte.
Die Besucherin
Nun schreibe ich meine 2 eindrücklichsten Träume auf. So werde ich sie nie mehr vergessen. Als ich sie träumte, war ich am Morgen danach geschwächt und benommen. Sie veränderten mein Leben. Sie zeigten eine Welt, die für mich genauso real ist wie du und ich. Diese Träume sind nicht einfache, erfundene Geschichten. Sie sind ein Teil meines Unterbewusstseins und genauso wahr wie du und ich.
Die Stadt
Die Stadt war kühl, grau und dunkel. Es stank nach Urin. Steile, hohe, fensterlose Betonwände umhüllten die dünne Straße in dieser sternlosen, düsteren Nacht. Kahle, unbelebte Flächen und eintönige, dunkle Schatten beherrschten dieses Stadtgebiet. Auf der Straße gab es fast keinen Verkehr zu dieser Nachtzeit. Nur wenige, müde Gestalten standen oder saßen einzeln auf dem Trottoir unter dem künstlichen, bläulichen Schein einer seltenen Straßenlaterne. Vereinzelt auffallend junge Frauen mit dunklen Augenringen und künstlichen Wimpern trugen bunte Strümpfe und Pelz Mäntel. Die Männer unter ihnen waren unauffälliger. Sie trugen schmutzige, dunkle Kleider und verbargen ihre Gesichter unter weit ausladenden Kapuzen. All diese einsamen Menschen schauten teilnahmslos und desinteressiert auf den Boden und sprachen kaum ein Wort miteinander. Jeder dieser Nachtschwärmer war mit seinen Gedanken weit weg in seiner eigenen, imaginären Welt. Es waren ausnahmslos drogenabhängige, verlorene Wesen in einer gottlosen Welt ohne Hoffnung. Niemand in dieser lieblosen Umgebung bemerkte mich oder schenkte mir ein warmes Lächeln. Es kam mir vor, als wäre ich für sie unsichtbar. Eine weit entfernte Kirchenglocke läutete 12 mal. Es war Mitternacht. Hier ist mir alles unbekannt! Weshalb hat es mich an diesen trostlosen, unwirklichen Ort verschlagen? fragte ich mich ängstlich und verunsichert. Sogleich stach die Erkenntnis in meinen Kopf. Ich träume und bin hier zu Gast als Schülerin, sagte meine intuitiven Stimmen zu mir. Ich war dankbar für diese Antwort und mit meinem neu gewonnenen Bewusstsein verflog meine Angst sogleich. Ich sah keine realen Bedrohungen mehr auf mich zukommen, schließlich lag ich im Bett und schlief. Nun genoss ich es, meine Umgebung genau zu beobachten.
Eine gross gewachsene, dünne Gestalt in einem weiten, dunkelgrünen Mantel fiel mir auf. Dieser junge Mann war anders als die Masse um ihn herum, denn heute war sein besonderer Tag. Er lehnte zusammengefallen an einer Stange, die ein Parkverbotsschild trug. Er hatte seine Hände zusammengefaltet und schien zu schlafen. Sein ovales, ebenmäßiges Gesicht unter der Kapuze war mit einem feinen, flauschigen, ungepflegten Bart bedeckt und seine geschlossenen dunklen Augen waren eingefallen. Seine Gesichtszüge waren trotz ungesundem Lebenswandel wunderschön. Der Jüngling hatte noch nicht einmal sein 20. Lebensjahr erreicht und dennoch war sein Körper durch den Drogenkonsum verbraucht und geschändet. Ich ging näher zu ihm hin und schaute ihn mir genauer an, als er unerwartet schnell seine schönen, ausdrucksstarken, blauen Augen öffnete. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, er hätte mich gesehen, denn er schaute nervös um sich und fühlte sich in seinem Delirium gestört. Er sprach böse, unverständliche Wörter vor sich hin. Ich versteckte mich schnell in einem dunklen Winkel und wartete ab, ob er auf mich zukommen würde und den Mut finden würde, mich anzusprechen. Doch er ignorierte mich.
Stattdessen stand er schwankend auf, suchte umständlich in seinem Sack nach seinem Schlüssel, hielt sich eine Hand an seine Stirn und verschwand einige Meter weiter im Hauseingang einer großen, trostlosen Wohnüberbauung. Ich schlich ihm unbemerkt hinterher und konnte gerade noch rechtzeitig meinen Fuß zwischen die zufallende Tür halten, um diesem Jüngling ins Wohnhaus zu folgen. Langsam schleppte dieser seinen unterernährten, schwachen Körper eine Treppe hinauf. Ich hatte keine Schwierigkeiten, dem jungen Mann unbemerkt zu folgen. Im 5. Stock angekommen, blieb er in einem schmutzigen Flur voller stinkender Abfallsäcke vor einer unauffälligen Metalltür stehen. Er nahm erneut schwerfällig seinen Schlüsselbund zur Hand und wollte die Tür aufschließen. Er hielt jedoch abrupt inne, ließ den Schlüsselbund klirrend auf den Boden fallen und starrte auf das Ende des düsteren Ganges. Dort blinkte lautlos auf einer unscheinbaren, verstaubten Tür ein grünes Lichtschild mit der Beschriftung „Exit“.
Offenbar verwandelte sich die Wahrnehmung des Jünglings in diesem Augenblick, denn erstaunlicherweise veränderte sich sein desinteressierter, müder Gesichtsausdruck in ein Freudenstahlen. Sein Delirium fiel von ihm ab wie eine alte, zu klein gewordene Schlangenhaut. Kraft schoss durch seine schlaffen Glieder. Der junge Mann zuckte kurz am ganzen Körper. Seine ausdrucksstarken, schönen Augen strahlten nun warm in einem hellen Blau und sein geschundener Körper richtete sich zur vollen Größe auf. Energiegeladen, wie ein junges Reh, sprang der bisher schwächliche junge Mann auf diese Tür zu. Mit einem wachen Blick und einem versteckten, verschmitzten Lächeln unter seinem flaumigen Bart, öffnete er diese besondere, gierende Türe mit der grünen Blinkschrift.
Dahinter erschien eine bizarre, verschobene Welt. Eine verzerrte, in die Höhe führende, enge Wendeltreppe nahm direkt hinter dieser Tür ihren Anfang. Eine dünne, runde Steinsäule in der Mitte der Wendeltreppe hielt die zahlreichen, gegen die Mitte schmal werdenden, kleinen Stufen zusammen und stützte diese ab. Das Licht im gewundenen Treppenhaus war weicher, fremder und freundlicher als im stinkenden Flur, auf dem wir uns beide noch befanden und verwundert diese neue Welt bestaunten. Nach wenigen Sekunden trat der junge Mann lachend in diese andere Welt ein. Mir fiel dieser Schritt über die Türschwelle viel schwerer als ihm. Ich bekam Angst vor dem Unbekannten. Ich besiegte diesen Feind jedoch, indem ich mich daran erinnerte, dass ich mich in einem Traum befand. Mit Mut schritt ich ebenfalls durch diese Tür hinein in das enge, gewundene Treppenhaus. Nun hatte meine Neugierde eindeutig die Oberhand gewonnen und meine Angst fürs Erste vertrieben. Wo führt diese Wendeltreppe hin? wollte ich wissen. Vorhin, am Boden vor dem Wohngebäude stehend, war mir nicht aufgefallen, dass dieses Haus mehr als 5 Stockwerke hatte. Es erschien mir damals, von unten betrachtet, nicht besonders hoch. Ich musste mich geirrt haben, denn beim Folgen dieses namenlosen Jünglings stieg ich immer höher und höher. Die Wendeltreppe wollte nicht enden. Immer weiter drehte sie sich in den Himmel hinein und mit einer endlosen Neugier und Energie sprang der Jüngling nun schnell eine Stufe nach der andern in die Höhe. Ich konnte ihm mit Mühe folgen. Das Licht wurde greller und heller. Nach dieser Zeit in der dunklen Stadt blendeten mich die hellen Strahlen. Allerdings sah ich keine Leuchten an den Wänden im runden Treppenhaus und musste mich wieder besinnen, dass Licht aus dem Nichts kommend, in einem Traum keine Besonderheit war. Träume besitzen eine andere Logik als die reale Welt.
Dem jungen Mann schien dieses grelle Licht Kraft zu spenden. Seine blauen Augen glänzten und er warf seine dunkle Kapuze kraftvoll von seinem Kopf nach hinten. Er hatte lange, braune, ungepflegte, gelockte Haare, die durch seinen ungesunden Lebensstil bereits spärlich seinen Kopf bedeckten. Das Licht ließ jedoch schon bald seine Haare dichter und gesünder aussehen. Seine verschwundenen Muskeln bildeten sich in Sekundenschnelle nach, so dass wunderbarerweise ein gesunder, hübscher, starker, stattlicher Mann vor mir die Treppe in die Höhe stieg. Der Jüngling schenkte seinem verwandelten Körper keine Beachtung.
Stunden vergingen, in denen ich unsicher und angestrengt diesem verwandelten jungen Mann folgte und mich fragte, wohin er denn gehen würde? Nun bemerkte ich, dass keine Wände mehr die Wendeltreppe umgaben. Wo sind diese geblieben? Glücklicherweise waren Sorgen fehl am Platz, da ich ja träumte und ich mich keineswegs in der Realität aufhielt. Die offene Wendeltreppe ohne Geländer schwebte gestützt von der mittigen Steinsäule im Himmel und führte unaufhörlich senkrecht in die Höhe. Das grelle Licht erhellte weiterhin gleichmäßig die endlose Weite um uns herum. Der junge Mann drehte sich um, als hätte er nun doch bemerkt, dass er von mir verfolgt wurde. Auch ich blieb abrupt stehen und drückte mich an die dünne Säule in der Mitte der Stufen. Ich wollte nicht, dass er mich entdeckt, sich beobachtet vorkommt und meinetwegen sein authentisches Verhalten aufgibt. Schwindelfrei und aufrecht trat der Mann an das äussere Ende einer Stufe der offenen Wendeltreppe. Sein außergewöhnlicher Aussichtspunkt hoch oben im Himmel gab eine eindrucksvolle Sicht nach unten in die nächtliche, düstere Stadt frei. Der junge Mann lächelte. Es schien mir, als sei er überglücklich diese trostlose Stadt unter sich gelassen zu haben. Anscheinend hielt ihn nichts zurück.
Der Abschnitt der schwebenden Wendeltreppe unter uns, auf dem wir soeben hinaufgestiegen waren, wurde nun von einer dicken, fetten Kumulus-Wolke umspült. Uns zwei höher auf der Treppe stehengebliebenen Wesen war jetzt die Sicht in die Tiefe verwehrt. Die schwebende Treppe, auf der wir standen, ragte wie ein stechender, verletzender Gegenstand aus der dichten, flauschigen Kumulus-Wolke senkrecht in die Höhe. Alleine der weiterführende, aufsteigende Weg ins Unbekannte blieb uns beiden ersichtlich. Wie als Abschiedsgruß drangen erneut 12 dumpfe Glockenschläge hinauf zu uns über die Wolken. Für den Jüngling war der Klang der weit entfernten Kirchenglocken das Zeichen zum Aufbruch. Ohne mich bemerkt zu haben, drehte er sich von seinem Aussichtspunkt weg und stieg mit gehobenem Kopf erneut unaufhaltsam in die Höhe. Ich folgte ihm mit Muskelkater. Das Licht hier oben wurde noch heller. Doch die Sonne ging nicht auf. Es gab in dieser Welt keine Sonne. Es war weder kalt noch heiss. Es wehte kein Wind und abgesehen von den leisen Geräuschen, die vom Erdboden hinaufgetragen wurden, war es um uns herum totenstill. Mein Verfolgter schien in dieser keineswegs schwindelfreien Höhe nicht beunruhigt zu sein. Mit dem Blick nach oben gerichtet erhoffte er sich nur ein Ziel: Das Erklimmen dieser Wendeltreppe.
Als ich beinahe nicht mehr daran glaubte, dass der Traum je enden könnte, erreichte der Jüngling das Ende der Stufen. Die schwebende, offene Wendeltreppe führte bis zu einem runden Loch in einer endlos breiten undefinierbaren Decke. Die ebenfalls schwebende Decke war so riesig, dass in allen Himmelsrichtungen kein Ende sichtbar war. Was sich über uns hinter der Sicht raubenden Decke verbarg, konnte ich nicht erraten und noch weniger erahnen. Durch dieses Loch zu steigen bedeutete erneut eine andere, unbekannte Welt zu betreten. Hat der Jüngling den Mut dazu? fragte ich mich selbst, denn mir zitterten bereits die Knie. Meine Bedenken waren unbegründet, denn schon bald verschwand der junge, tapfere Mann durch das Loch in der weiten Decke aus meinem Blickfeld. Ich war Stolz auf ihn, dass er nicht einmal eine Sekunde gezögert hatte ins Unbekannte einzutreten. Wenn ich weiterhin wissen wollte, wohin er ging, musste jedoch auch ich mich beeilen und ebenfalls auf das Dach der Welt hoch steigen. Also bewegte ich langsam und unsicher meinen Kopf und danach meinen kompletten Körper durch dieses wundersame Loch in der schwebenden Decke. Ich spürte ein feines Kribbeln und meine Muskeln spannten sich an. Beim Durchschreiten dieses Portals veränderte sich mein Körper, was mir zu diesem Zeitpunkt aber unbewusst blieb. Von nun an verweilte alleine mein Geist an diesem ungewöhnlichen Ort. Diese Form des Bewusstseins ist natürlich beim Träumen nichts Ungewöhnliches. Schließlich war ich nur eine Besucherin auf dem Beobachtungsposten und durfte lernen zu verstehen.
Das Dach der Welt
Auf dem Dach der Welt angekommen, betrat ich eine riesige, leere, gerade, helle Fläche. Weit entfernt, in allen Himmelsrichtungen um mich herum, verschwand der Horizont dieser Ebene unter feinem, weißen Dunst. Dieser verlassene Ort hätte mir in meinem Traum trostlos erscheinen müssen, denn weder Pflanzen noch Tiere hausten hier. Außer dem hellen, geraden Boden und dem Jüngling, der darauf stand, gab es hier nichts zum Anfassen. Trotzdem habe ich diesen eigenartig leeren Ort in sehr guter Erinnerung, denn auf dieser endlos weiten Fläche waren die Lichtverhältnisse atemberaubend schön. Der Boden glänzte in einem wundersamen Weiss. Wie feine Grashalme begannen sich viele, bunte Lichtstrahlen aus dem Untergrund zu lösen. Aufsteigende blaue und rosarote Lichtfäden stiegen mit lebendigen Bewegungen in die Höhe. Zuerst kaum sichtbar, jedoch mit der Zeit immer deutlicher, tanzten die blauen und rosaroten Lichthalme zu weicher, tonloser Musik. Die leuchtenden feinen Streifen hoben sich in langsam bewegenden Wellen vom Boden ab und verbogen sich, wie vom Winde erfasst, gleichmäßig nach Links und wieder zurück nach Rechts. Sie formten undefinierbare Verdickungen und geleiteten majestätisch vor unseren verwunderten Gesichter hin und her. Vollkommene Stille begleitete das wunderbare Lichtspiel um uns herum und diese ausgeglichene Ruhe hatte etwas Heilsames. Nach mir unverständlichen Gesetzmäßigkeiten folgend, zogen sich die bunten Lichtfäden nun zusammen. In einer lautlosen Explosion entsprangen Milliarden hell glitzernde Punkte, die langsam schwebend in der Luft zum Stillstand kamen. Der junge Mann lächelte die Lichtpunkte vor ihm an. Er war glücklich. Das spürte ich in diesem magischen Augenblick.
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich direkt neben dem staunenden Jüngling war. Er befand sich so nahe, dass ich ihn ohne weiteres mit meinen ausgestreckten Fingerspitzen hätte berühren können. Dennoch nahm er mich nicht zur Kenntnis. So sammelte ich meinen ganzen Mut zusammen und sprach mein Gegenüber direkt an. Anstelle meiner Worte ertönten als letzte Erinnerung an die verlassene Welt 12 harte Glockenschläge. Die Laute zerstörten die heilsame Ruhe und hinterließen in mir ein unbehagliches Gefühl. Trotz dieser seltsamen Kontaktaufnahme und der Störung der Stille drehte sich der junge Mann ohne Groll und wortlos zu mir um. Er schaute durch mich hindurch, als würde ich aus Luft bestehen. Ich sah auf meine Füße und konnte diese nun zu meiner Verwunderung auch nicht mehr erkennen. Ich war nicht dort. Es war nur ein Traum, in dem ich diese Welt als Gast betreten durfte. Ich existierte nicht an diesem Ort. Ich erkannte, dass ich für den jungen Mann nicht mehr sichtbar war und mich nicht mehr vor seinen durchdringenden Blicken zu verstecken brauchte. Eigentlich wusste ich es schon lange! Alleine mein Geist befand sich in diesem Traum und mein Körper lag zu Hause in meinem warmen Bett. Ich träume nur, sagte ich still vor mich hin.
Die hellen, glitzernden Lichtpunkte, die bisher vollkommen unbeweglich in der Luft schwebten, sammelten sich langsam um den neugierigen, ruhigen Jüngling herum an. Es sah aus, als formten die Lichter ein extrem kleines Mini-Universum voller funkelnder Miniatur-Sterne. In ihrem Mittelpunkt befand sich der junge Mann, der ruhig stehen blieb und das Spektakel um ihn herum mit offenem Mund bewunderte. Ein einziger dieser winzigen Licht-Sterne berührte sachte die Stirn zwischen den Augen meines Begleiters. Dieser fasste sich daraufhin mit der rechten Hand an seine Stirn und fing die weiß strahlende, kleine Kugel ein. Der Miniaturen-Stern war nun in seiner Hand eingeschlossen und gefangen. Aus dem Nichts erschien ein riesiger, andersartiger, weisser Adler und flog über dem Jüngling drei magische Kreise. Das mächtige Tier, mit seinen weißen Schwingen, stieß einen langen Schrei aus und verschwand, so schnell wie es aufgetaucht war, wieder im Nichts.
Nachdem der Schrei des Adlers verklungen war, erloschen auf der Stelle die vielen, farbigen Lichter der schwebenden Miniatur-Sterne. Die sterbenden Lichtpunkte lösten sich in Luft aus. Auch der helle, gerade Boden verlor seinen Glanz. Die grundsätzliche Helligkeit zog sich schnell zurück und hinterließ uns zwei Besucher auf dem Dach der Welt in vollständiger Dunkelheit. Ich bekam in dieser Finsternis schreckliche Angst. Ich wünschte mich zurück in mein warmes Bett. Als hätte sich ein unsichtbares Loch geöffnet, drohte ich plötzlich in eine finstere Tiefe zu fallen. Mein Geist wurde magisch von diesem imaginären, nicht sichtbaren Abgrund angezogen. Ich wollte jedoch nicht fallen! Ich hatte eine Aufgabe! Ich musste den jungen Mann noch ein Stückchen begleiten. Der Gedanke, ihn jetzt, in einer Stunde der Not, zu verlassen, schmerzte mich. Mit aller Kraft kämpfte ich dagegen an, von der Aura des Jünglings weggerissen zu werden. Er braucht mich jetzt! glaubte ich zu wissen. Ich musste meine Gedanken von der anwesenden Angst ablenken und an das Licht denken. Mühsam zwang ich meine Gedanken in eine andere Richtung. Mir kamen die vielen, vergangenen, wundervollen Erlebnisse in den Sinn, die mich damals in der Vergangenheit glücklich gemacht haben. Ich sah dich mit deinem schelmischen Lachen vor mir. Als letztes dachte ich an die verschwundenen, wundervoll hellen, schwebenden Lichtpunkte von vorhin. Die warme, liebliche Erinnerung an die hellen Momente in meinem Leben heilte mein Herz und stärkte mein Selbstbewusstsein. Ich hatte die Kraft in dieser Traumwelt wiedergefunden und konnte bleiben. Es lag in meiner Macht, jederzeit zu entscheiden, ob ich den Traum verlassen wollte oder ob ich weiterhin darin verweilen wollte. Aus Neugier und weil ich spürte, dass ich gebraucht wurde, blieb ich.
Der Jüngling befand sich immer noch in meiner Nähe. Ich nahm seine Anwesenheit in der vollkommenen Finsternis wahr. Nun hatten wir beide innerhalb einer kurzen Zeitspanne sowohl das helle, liebliche Licht, wie auch die angsteinflößende, abgrundtiefe Finsternis kennen gelernt. Wir waren beide um eine wertvolle Erkenntnis weiser. Glücklicherweise wollte der festgehaltene und versteckte Stern in der Hand des Jünglings sich aus seiner Gefangenschaft befreien. Alleine er hatte sein Licht nach dem Adlerschrei behalten dürfen. Ein hoffnungsvoller Schein drang durch die zur Faust geschlossenen Finger des jungen Mannes. Dieser öffnete langsam seine rechte Hand. Und tatsächlich befreite sich daraus der letzte zurückgebliebene, bisher gefangene, leuchtende Mini-Stern. Er erstrahlte in hellem Schein und vertrieb die angsteinflößende Dunkelheit vollständig. Er schwebte nun mit seinem hellen Licht etwa einen Meter vor dem Jüngling über dem Boden und bewegte sich langsam nach Links. Instinktiv verstand der junge Mann, dass er nun diesem letzten, übrig gebliebenen Licht zu folgen hatte. Sein Stern wird ihm seinen Weg in der Dunkelheit zeigen, verstand auch ich. Hätte ich nicht bereits geträumt, so hätte ich dann gesagt, ich habe geträumt und vergessen, wie ich in der hellen, sandigen, weißen, reinen Wüste gelandet bin. Auf jeden Fall habe ich an dieser Stelle der Geschichte eine Gedächtnislücke.
Ich erinnere mich nur noch daran, dass der junge Mann sich vor mir bückte, eine Hand voll reinen, weißen Sand aufhielt und diese harten, groben Körnchen langsam durch seine Finger rinnen ließ. Es war bestimmt viel Zeit verstrichen, seit dem Erklimmen der Wendeltreppe. Wo waren wir? Welcher Tag war heute? Ich wusste es nicht! Ich hatte jegliche Orientierung verloren und besaß kein Zeitgefühl mehr.
Der leuchtende Ozean
Hier in der Wüste war es weder heiß noch kalt und es mangelte nicht an Licht. Alles leuchtete liebevoll und jedes Sandkorn schien genauso zu existieren, wie es sein sollte. Dieser Ort war eine eigenartige Welt. Ich kann diese Umgebung mit Worten im Nachhinein kaum beschreiben. Es gab dort weder Gefahren noch Leid. Extreme Gegensätze existierten nicht. Dieser friedliche Ort war mir fremd, denn nichts erinnerte mich an meine Realität. Es war eine unnatürliche Welt weit weg von meiner Vorstellungskraft und doch glaubte ich, diese ruhige, friedliche Umgebung bereits vor langer Zeit einmal besucht zu haben. Wann war dieser Besuch bloß gewesen? versuchte ich zu ergründen. Ich erinnerte mich nicht! Dann fiel mir etwas auf! Etwas erschien mir merkwürdig. Wo ist der hoffnungsvolle, Weg weisende Lichtpunkt, der letzte Stern vom Dach der Welt, der den Jüngling aus der Finsternis befreite, geblieben?
Ich vermisste dieses helle Licht und hielt nach ihm Ausschau. Erst nach langer Suche entdeckte ich diesen kleinen, schwebenden Schein über der linken Schulter des jungen Mannes. Der letzte Stern des Jünglings war blass und er verlor in dieser hellen Sandwüste schnell an Energie. Sein Schein wird nicht mehr benötigt, stellte ich traurig fest. Der letzte Stern fiel dem Jüngling nun, von Schwäche befallen, von der Schulter auf den weißen Boden und verschmolz mit dem harten Sand. Dort angekommen, veränderte er die Wüste Oberfläche radikal. Anscheinend steckte noch mehr Energie und Vitalität in ihm, als ich angenommen hatte. Denn an der Aufschlagstelle des Sterns, dort wo sich soeben noch harter, weißer Sand befunden hatte, breitete sich nun eine weiche Wasserlache aus. Immer mehr Wüstensand verwandelte sich in Wasser.
Der Jüngling stand schon bald in der Sandwüste am Ufer eines wunderschönen, glitzernden, farbigen Sees. Das Wasser war anders als in der Realität. Es war viel durchsichtiger, farbiger und heller. Das Wasser erinnerte mich an buntes, mit Farbpigmenten versetztes, heiß geschmolzenes Glas. Dieser besondere See wuchs von Sekunde zu Sekunde. Schon nach wenigen Minuten konnte ich das andere Ufer nicht mehr erkennen. Die glitzernde Wasseroberfläche gehörte bald zu einem riesigen Ozean mit leichten Wellen. Auf dem gekräuselten Wasser glitzerten endlos zahlreiche Lichtpunkte in allen möglichen bunten Farben. Dieser Ozean war ein Wunder, denn er war nicht nur wunderschön, sondern er verströmte auch das Gefühl von inniger Ruhe, vollkommenem Glücks und bedingungsloser Liebe. Stundenlang bewunderte ich, körperlos wie ich war, an der Seite des Jünglings die wohlwollende, glitzernde Wasseroberfläche. Auch ich war im Traum überglücklich und wollte diesen Ort nie mehr verlassen. Ich wurde nicht müde, diese wundervolle Erscheinung zu betrachten und bemerkte beinahe nicht, dass sich eine kleine Gruppe von Menschen näherte.
Diese glücklichen Menschen waren mit Ausnahme eines 4 jährigen kleinen Mädchen alle alt. Alle in der Gruppe trugen leuchtend weisse Kleidung, liefen barfuß und hatten schneeweiße Haare. Sie kamen freundlich lächelnd auf uns zu. Dieses Mal wunderte ich mich nicht mehr, dass keiner mich zur Kenntnis nahm und ich nicht angesprochen wurde. Schließlich war ich immer noch unsichtbar und wurde von niemandem bemerkt.
Die braunen Locken des jungen Mannes färbten sich mit jedem Schritt heller, mit dem die Gruppe sich näherte. Als ein alter Mann aus der Gemeinschaft hinaus trat, den Jüngling freundlich begrüßte und ihm die Hand schüttelte, hatten sich die Haare des 19-Jährigen ebenfalls vollständig weiss verfärbt. Sie glänzten nun stark im hellen Lichtschein. Ein weiterer, alter, lächelnder Mann, mit zahlreichen Runzeln im Gesicht und vielen Zahnlücken, überreichte dem jungen Neuankömmling frisch gebügelte, neue, saubere, weiße Kleidungsstücke. Beschämend schaute der Jüngling auf die dunklen, schmutzigen, zerrissenen Stoffstücke, die seinen Körper umhüllten. Er zog aufgelöst seine Schuhe aus und riss die zerlumpten Kleider wütend vor den Augen aller Anwesenden von seinen Gliedern. Feierlich zog er daraufhin das saubere, schneeweiße, geschenkte T-Shirt und die lange, helle Hose an.
Die neue Kleidung passte wie angegossen. Nun erstrahlte der junge Mann ebenfalls in weißem Licht und passte optisch zu der kleinen, ungewöhnlichen, eingetroffenen Menschenansammlung. Seine mit Sand gefüllten Schuhe zog er nicht wieder an. Wie seine Mitmenschen ging auch er von nun an barfuß seinen Weg. Die alten, respektlos auf den Boden geworfenen Kleidungsfetzen versanken unbeachtet der Blicke der Anwesenden langsam im Sand. Außer seinem nackten Körper blieb dem Jüngling nun nichts mehr von seiner alten Welt erhalten. Doch dies störte ihn nicht. Er grinste überglücklich über sein ganzes Gesicht.
Das kleine 4 jährige Mädchen mit seinen langen, weißen Haaren löste sich von der Gruppe der alten Menschen und näherte sich verspielt dem glitzernden Ozean. Das Kind berührte mit seinen nackten Zehen sachte eine sanfte, farbige Welle, die ans Land rollte. Das kleine Mädchen blieb wie angewurzelt still stehen und schaute gespannt aufs Meer hinaus. Der Ozean schien sich mit dem Kind ohne Worte zu unterhalten. Dieses streckte unbefangen die Hand nach seinem Gesprächspartner aus und rief glücklich unverständliche Laute. Als würde das viele Wasser darauf antworten, schwang sich eine ungewöhnlich große Welle in die Höhe und näherte sich dem Ufer mit dem lächelnden Kind. Das erhobene, glitzernde Wasser bewegte sich ab diesem Augenblick in Zeitlupe. Als wäre die hohe Welle ein Lebewesen mit Gedanken und Gefühlen, formten sie viele kleine, feine Fingerspitzen aus funkelndem Wasser, die sich dem Mädchen langsam näherten. Die leuchtenden Wellen Finger wurden länger, berührten sachte das Kind und streichelten dieses liebevoll und zärtlich an der Wange. Dann umschlang das erhobene Wasser das still vor sich hin lächelnde Kind und zog es mit sich zurück in den riesigen Ozean. Es war ein liebevoller, heiliger Akt. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass dem Kind etwas zugestoßen war. Das Mädchen befand sich nun dort, wo es hin gehörte. Es war eine Rückkehr. Dieses ganze Phänomen dauerte nicht einmal eine Minute und doch brannte sich dieser Teil des Traumes in meinem Gedächtnis ein. Ich durfte etwas Besonderes miterleben, das ich nie mehr vergessen werde. Dafür bin ich dankbar.
Auch die anwesenden Menschen hatten dem vorgefallenen Ereignis staunend und wortlos zugeschaut. Sie standen einzeln verteilt und barfuß am Ufer des wunderschönen Ozeans und weinten leise, glitzernde Freudentränen. Bewunderung und Demut waren aus ihren Blicken zu erkennen. Eine ältere Dame mit Brille und rotem Lippenstift trat ans Ufer des ruhigen, farbig funkelnden Ozeans heran. Die Wellen streiften, sachte ihre nackten Füße. Freundlich forderte sie den Ozean auf, auch mit ihr in Kontakt zu treten. In gleichmäßigen Abständen streiften die glitzernden Wellen ihre alten Zehen und die Zeit verrann, ohne nennenswerte Veränderungen vorzuweisen. Lautstark und ungeduldig rief nun die weißhaarige Frau, der Ozean möge sie erhören und ebenfalls, wie das kleine Mädchen, sanft mit sich nehmen und vom Ufer spülen. Der Ozean reagierte nicht. Gleichmässig spülte er seine Wellen ans Ufer und zog sie wieder zurück, ohne der alten Dame Beachtung zu schenken. Er konnte sich mit dieser erfahrenen, erwachsenen Frau nicht unterhalten. Alleine das verschwundene Kind schien ihn vorhin verstanden zu haben. Die alte, einmal hübsch gewesene Frau mit den roten Lippen fiel auf die Knie und bettelte, der Ozean möge ihren Wunsch erhören. Tränen rannen aus ihren von Runzeln umrandeten Augen. Die Tränen fielen herunter und versanken im hell leuchtenden, weißen Sand. Die Frau flehte: Nimm mich mit dir mit, lieber Ozean! Ich möchte meinen langen und beschwerlichen Weg jetzt beenden! Das glitzernde Wasser umspülte ihre Knie, jedoch blieb die bettelnde Frau am Ufer zurück. Der Ozean wollte sie noch nicht aufnehmen.
Eine weitere, unscheinbare, alte Frau legte der Knienden zum Trost die Hände auf die Schultern und sagte sanft. Steh auf und folge mir! Du weißt es doch bereits… Wir haben vieles erlebt und gelernt. Unsere Leben sind gefüllt mit abertausenden Erinnerungen. Unser Weg führt zuerst in die Stadt des Vergessens. Mit großen, feuchten Augen schaute die auf dem weißen Sand kniende Dame ins Gesicht ihrer Trost spendenden Begleiterin. Hilflos und dankbar stand sie auf und begleitete die Frau mit den weisen, tröstenden Worten. Gemeinsam schritten die zwei Frauen davon.
Ohne großes Aufsehen verabschiedete sich die restliche kleine Gruppe vom Jüngling und ging ihren Weg. Die weißhaarigen, leuchtenden, alten Menschen verließen den Strand mit dem farbigen Ozean und liefen, ohne sich um den jungen Mann zu sorgen, nach links über einen kleinen Sandhügel. Dort hinten befindet sich die Stadt des Vergessens, dachte ich ehrfürchtig. Führt der Weg des Jünglings auch in diese Richtung? wollte ich wissen.
Der Jüngling setzte sich an den weißen Strand des wundervollen Meeres. Respektvoll und unauffällig zog der Ozean sein helles Wasser zurück. Die farbig glitzernde Wasseroberfläche entfernte sich langsam und verschwand immer mehr aus der Sicht. Der Ozean hatte verstanden, dass er den jungen Mann nun alleine lassen sollte. Der Jüngling wurde nachdenklich und schaute lange, als würde er seine Heimat suchen, über den langsam sich entfernenden, farbigen Ozean bis zum weit entfernten Horizont. Das Wasser war gleich darauf komplett aus seinem Sichtfeld verschwunden. Dort wo der wunderschöne Ozean einst lag, blieb eine tiefe, hell weiss strahlende Einbuchtung im Boden übrig. Alleine die vom Gewicht des Wassers zu Gestein zusammengedrückten Sandkörner und die helle Vertiefung erinnerten noch an den verschwundenen, wunderschön glitzernden Ozean. Die weisse, stille Sandwüste hatte die komplette Aufmerksamkeit ihres Schützlings zurück.
Der namenlose Jüngling dachte nun über vergangene, reale Ereignisse nach. Ich wusste dies, denn ich sah im Traum seine Gedanken in seinem Kopf, als würde ich durch ein offenes Fenster gucken. Seine gefühlvollen Erinnerungen schwebten für mich sichtbar, wie kleine Wolken, aus dieser Öffnung hinaus. Zum Beispiel diejenige längst vergessen geglaubte, glückliche Erinnerung, als der Jüngling als Kleinkind seiner Mutter auf wackligen Beinen Blumen vom Wegesrand pflückte. Oder die Erinnerung an seine Kindheit, als er mit gut überlegten Argumenten seinen Vater davon überzeugte, dass er viel mehr Schokolade essen muss, um gesund zu bleiben. Die schlechte Erfahrung von damals, als er als unehrenhafter Verlierer das Badminton Turnier als halbstarker Jugendlicher wütend verließ, gab es auch noch. All diese vergangenen Erlebnisse, des mir bis vor kurzem unbekannten Mannes, sah ich deutlich vor meinem inneren Auge. Einige schlimme Ereignisse wollte der Jüngling aus seinem Geiste reißen und andere behielt er, wie einen wertvollen Schatz, in seinem Herzen eingeschlossen. Alle Erinnerungen waren jedoch für den Jüngling ein sehr wertvolles Gut. Das Erlebte hatte seinen Geist geformt und den nun alleine am Boden in der hellen Sandwüste sitzenden jungen Erwachsenen zu dem gemacht, was er heute war.
Bestimmt besaß auch er einen Menschen, der ihn so wie er war, liebte und in diesem Augenblick an ihn dachte. Doch der drogenabhängige Jüngling bereitete seinen nahen Mitmenschen bestimmt auch viel Kummer und viele Sorgen. Es ist anzunehmen, dass die Angst, ihm könne etwas zustoßen, im Leben seiner Angehörigen in der letzten Zeit allgegenwärtig war. Weil er anderen Sorgen bereitete, die ihn liebten, war er jedoch kein schlechter Mensch! War es seine alleinige Schuld, dass sein Leben nicht so verlaufen ist, wie sich das seine nahen Angehörigen für ihn erhofft hatten? Der Jüngling stellte sich damals in der weißen Sandwüste viele Fragen, grübelte über die Vergangenheit nach und machte sich Vorwürfe. Vielleicht war sein gegangener Weg bereits von Anfang an vorbestimmt und unausweichlich gewesen? Vielleicht traf ihn nie Schuld? dachte ich mitfühlend.
Der Jüngling saß am Boden in der leeren Wüste und weinte große glitzernde Tränen, die schnell im weißen Sand verrannen. Er weinte um vergangene nicht genutzte Entscheidungen, die sein Leben in eine andere, unbeschwerte Richtung hätten lenken können. Er weinte um die verpassten Chancen, mit denen er seinem Weg einen höheren Sinn hätte abgewinnen können. Er weinte, weil er die Liebe und die Hilfe seiner Mitmenschen nicht mehr annehmen konnte. Er fühlte sich handlungsunfähig. Es war zu spät! Er hatte etwas Wertvolles verloren. Das wusste er bereits in diesem traurigen Augenblick! Er musste nun sein Leben so annehmen, wie es war und akzeptieren, dass man die Vergangenheit nicht mehr ändern kann. Dies fiel ihm unendlich schwer. Er weinte große Tränen, bis seine Augen trocken waren und keine Träne mehr übrig blieb. Erst jetzt verstand er, dass er eine einzige Aufgabe noch zu meistern hatte. Er musste sich selbst seine eigenen Fehler der Vergangenheit vergeben und seinen Geist heilen lassen. Dies war eine schwierige Aufgabe für einen jungen Menschen, dem normalerweise noch eine freie, offene Zukunft vor seinen Füßen liegen sollte. Doch er schaffte auch diese hohe Hürde! Ich war stolz auf ihn.
Nachdem er sich vergeben hatte und sein Schicksal so annahm, wie es war, fühlte sich der junge Mann viel besser und befreiter. Er war bereit! Jetzt war die Zeit gekommen, die Stadt des Vergessens zu besuchen. Es war die letzte Etappe des Weges, auf der ich ihn begleiten durfte. Der Jüngling stand entschlossen auf und ging in die gleiche Richtung fort, wie die kleine, weiss bekleidete, bereits weggezogene Menschengruppe vor wenigen Minuten verschwunden war. Er ging nach links.
Die Stadt des Vergessens
Die vielen hohen, farbigen Türme der Stadt glänzten schon bald in weiter Entfernung am Horizont. Genau wie der verschwundene Ozean war auch diese eigenartige Stadt des Vergessens wunderschön und nicht von dieser Welt. Das Licht schien hier ungewöhnlich. Worte können im Nachhinein diese unbeschreibliche Andersartigkeit nicht wiedergeben. Trotzdem werde ich versuchen, die Stadt des Vergessens wenigstens annähernd so zu beschreiben, wie ich sie damals im Traum wahrgenommen habe. Die eigenartigen Lichtverhältnisse ließen die Türme der Stadt farbiger, fremdartiger und verzerrter erscheinen, als eine Stadt in der Realität ausgesehen hätte. Halbdurchsichtige Spitzen, in Form von zwiebelförmigen Dächern, krönten jeden noch so kleinen Turm in der Stadt. Die zahlreichen Türme flimmerten in hellem Licht, als wären sie eine täuschend echte Fata Morgana.
Diese wunderbare, verzauberte Stadt war sehr, sehr alt. Das spürte ich instinktiv, als wir näher kamen. Sie existierte schon seit dem Beginn der Zeit und sah auch heute noch genauso aus wie damals. Sie musste sich nicht nach den Gesetzen der Vergänglichkeit richten, denn sie war ewig.
Der Jüngling war beinahe angekommen. Schon bald stand er demütig vor einem mit vielen geheimnisvollen Symbolen verzierten Tor. Eine steinige, kunstvoll verzierte Stadtmauer umschloss lückenlos die wunderbare Stadt mit ihren tausend Türmen. Nur die vielen leuchtenden Türmchen ragten hoch über die Mauer hinaus und konnten von uns Aussenstehenden bewundert werden. Der Rest der Stadt blieb für mich in diesem Traum ein ungelüftetes Geheimnis. Ich habe die Stadt im Innern nicht besuchen dürfen. Keine Zeichen von Leben drangen von der Stadt nach draußen zu uns. Keine Lebewesen waren zu sehen oder zu hören. Wer die Stadt sehen wollte, musste das große mysteriöse Eisentor durchschreiten, denn es war der einzige Eingang an diesen wundervollen, geheimen Ort. Ist jemand hier, der das Stadttor für den Jüngling öffnet? wollte ich wissen.
Der Jüngling versuchte sein Glück. Er stellte sich vor die mysteriös verzierte Tür und klopfte dreimal an. Ein Mann Mitte 30 öffnete die große, schwere Tür einen Spalt und trat hervor. Die Tür war nur leicht geöffnet, sodass ich keinen Blick in die Stadt des Vergessens erhaschen konnte. Der einzige Eingang in diese Stadt wurde auch gleich wieder verschlossen. Der aus der Stadt ausgetretene Wächter vor der großen Tür hatte lange, braune Locken und einen kurzen, flauschigen Bart. Er war wunderschön, genauso bezaubernd wie die Stadt selbst. Die Aura dieses besonderen Menschen strömte Autorität, Vertrauen und Sicherheit aus. Der Mann war ein einfacher, bedingungsloser Diener der uralten Stadt und zugleich ihr hoch geschätzter, machtvoller König. Es war eine Ehre, dass dieser selbstsichere Mann vor dem Tor dem Neuankömmling persönlich die Türe öffnete und ihn in die wundervolle Stadt eintreten ließ. Davor begrüßte er jedoch den Jüngling herzlich. Er nahm ihn in seine Arme, als wäre er sein zurückkehrender, verloren geglaubter, liebster Sohn. Ein warmes Gefühl der Wiederkehr durchströmte den lächelnden Jüngling. Er war zu Hause angekommen. Für ihn wurde die Tür ein wenig auseinandergehalten, so dass er eintreten konnte. Ich sah den jungen Mann nicht mehr. Er war gegangen.
Die ganze Zeit habe ich still und stumm, körperlos wie ich war, die zwei Männer vor dem Tor beobachtet. Ich war davon ausgegangen, dass ich als Besucherin dieses Traumes von niemandem wahrgenommen wurde. Ich hatte mich geirrt! Der wunderschöne Wächter vor dem Tor wusste als einziger, dass ich anwesend war. Als ich einen Blick in die zauberhafte, helle Stadt werfen wollte und einen Schritt näher an das Stadttor heran trat, schauten mich seine schönen, autoritären Augen direkt an. Sein harter Blick nahm mich sekundenlang gefangen. Mit einem schnellen Stoß verschloss der autoritäre Wächter das Stadttor sogleich wieder. Mit einem dumpfen Geräusch fiel dieses ins Schloss. Ich bekam es mit Angst zu tun. Wollte ich tatsächlich wissen, was sich hinter der hohen Stadtmauer verborgen hielt? War es auch schon für mich an der Zeit dort einzutreten? Nein, ich konnte warten! Der Wächter vor dem Tor kam einen Schritt auf mich zu und schrie mich böse an: Was tust du hier? Verschwinde! Dich empfange ich hier noch nicht! Ich war geschockt von der Härte seiner Worte und dem groben Umgang mit mir. Den Jüngling hatte er zuvor sehr herzlich und sanft begrüßt. Doch mich behandelte er nun wie ein Stückchen Dreck. Der harte Wächter vor dem Tor bemerkte meine Unsicherheit und wurde noch wütender. Du hast hier nichts verloren! Wie kannst du es wagen, schon jetzt vor meine Augen zu treten? schrie er mir hinterher, denn ich hatte voller Angst die Flucht ergriffen. Wie ein räudiger Hund schickte er mich aus dieser anderen Welt heraus. Ich fühlte mich, als wäre ich soeben aus dem Paradies vertrieben worden. Ich öffnete meine Augen.