Viviane Lampenberg
Mitglied
Mein Dämon
Dieser Traum verwandelte mich in einen neuen Menschen.
Der Raum
Ich lag auf einem schäbigen Metallbett auf einer stinkenden Strohmatratze und öffnete meine Augen. Wo bin ich bloß? Ich wurde von keiner flauschigen Bedecke bedeckt, wie ich es von meinem eigenen Heim gewohnt war. Eine schmutzige dünne Wolldecke war über mich gelegt worden und sie fiel auf den Boden, als ich mich aufsetze. Ich hatte ein dünnes Pyjama an und fror. Ich fühlte mich unwohl. Es war kalt und still um mich herum. Ich bin in einem unbekannten, ärmlichen Heim weit weg in der Fremde gelandet, fiel mir mit großem Erstaunen auf. Und ich bin alleine. Die Bewohner dieses Zimmers sind nicht zu Hause, stellte ich fest.
Ich befand mich in einem kleinen schlicht eingerichteten Zimmer mit braunen Lehmwänden. Ich konnte die Tageszeit nicht erraten, denn dieses Zimmer war fensterlos und düster. Es gab keine Bodenfliesen. Der Fußboden bestand aus gestampfter, brauner Erde. Auf dem Erdboden im Ecken dieses Raumes lag eine aus Steinen erbaute, schlichte Feuerstelle. Darüber wurde ein Rohr als Rauchabzug in das einfache Wellblechdach eingesetzt. In der offenen Feuerstelle glimmte ein wenig Gut. Dieser feine Lichtschein der Glut erhellte bedürftig den stickigen, fensterlosen Raum, in dem ich ängstlich auf dem schäbigen Bett sass. Weder Stromleitungen noch Wasserrohre waren hier hin verlegt worden. Auf jeglichen Luxus musste ich leider in diesem Traum verzichten. Dieser Ort gefällt mir nicht! Es roch nach verbrannten Kräutern. Die Luft in diesem kleinen Raum war stickig und staubig. Ich hatte schmerzende, rote Augen.
Weshalb bin ich hier? wollte ich wissen. Bestimmt war ich wieder in einem meiner wirren, surrealen Träume gestrandet, die mir die geheimnisvollen Stimmen zukommen ließen. Manche dieser Träume lassen mich daran erinnern, dass ich alte, wertvolle Erkenntnisse, die ich einst verinnerlicht hatte, bereits wieder vergessen hatte. Viele dieser Träume geben mir wertvolle Erinnerungen zurück. Wurde ich auch in diesen Traum geworfen, um zu lernen und zu verstehen? Ist dieser Traum ein Geschenk oder eine Plage? fragte ich mich zu diesem Zeitpunkt. Ich untersuchte mit meinen Augen gelangweilt meine fremde, ärmliche Umgebung, den spärlich eingerichteten Raum mit den kahlen, fensterlosen Lehmwänden. Zwei kleine eingerahmte schwarz-weiß Fotos hingen an den Lehmwänden. Ein günstiges, halb verfallenes Küchenmöbel aus Pressholz stand neben der Feuerstelle. Mehrere Töpfe und ungewaschenes Geschirr war auf dem Möbel unordentlich abgestellt worden. Ich wollte diesen Traum verlassen, denn mir war nicht danach geduldig zu beobachten und zu lernen. Ich fand meine menschenleere, ärmliche Umgebung uninteressant und belanglos. Manche Träume können sehr anstrengend und nervenaufreibend sein. Ich hatte eine Vorahnung, dass dieser Traum viel von mir fordern würde.
Ich stand auf. Das Metallbett gierte. Nichts rührte sich. Niemand besuchte mich. Weder Tierlaute noch menschliche Stimmen waren zu hören. Was soll ich nur tun? Was ist meine Aufgabe in diesem Traum? Das spärlich eingerichtete Zimmer erschien mir schrecklich klein und seine Lehmwänden drohten mich zu erdrücken. Hier gibt es nichts zu erforschen, was meine Aufmerksamkeit verdient hätte.
So suchte ich im Traum nach einer anderen, spannenden, lehrreichen Umgebung, die zu Ergründen meine Traumzeit mir wert war. Ich ging zur einzigen, schlichten Holztür im Zimmer neben dem Bett und öffnete diese sachte. Sie war nicht abgeschlossen. Leider konnte ich auf diesem Weg das schäbige Zimmer nicht verlassen, denn außerhalb dieses Raumes gab es nichts. Ich starrte zur Tür hinaus und sichtete die vollkommene Finsternis. Dort draußen gab es keinen Fußboden, auf dem ich gehen konnte. Es gab keine Luft zum Atmen und kein Licht, das mir den Weg weisen konnte. Es gab keine Schwerkraft, die bestimmte, wo sich Unten und wo sich Oben befand. Somit gab es keinen Himmel mit funkelnden Sternen und kein Universum, in das ich eingebettet war. Mein Traum zwingt mich, meine Zeit vollkommen alleine in einem bizarren, ärmlichen, schwebenden Raum im Nirgendwo zu verbringen!
Ich musste erkennen, dass mein Traum es mit mir nicht gut meinte und er nicht vorhatte, dass ich diesen schäbigen Raum schlicht und einfach durch die Tür verließ. Er forderte mehr von mir. Ich schloss die Tür resigniert und suchte lange und leider erfolglos nach einem anderen Ausgang aus dieser verrückten Situation. Da ich unbedingt der Enge dieses Raumes und meiner Langeweile entkommen wollte, schossen Tränen der Verzweiflung in meine Augen. Wie soll ich bloß diesen Alptraum verlassen? Muss ich eine halbe Ewigkeit hier in diesem engen, menschenleeren Raum verweilen, bis mein Verstand sich auflöst hat und ich verrückt bin? Die Tatsache, dass ich in meinem eigenen Traum gefangen war, machte mich rasend wütend.
Zornig warf ich die wenigen, nicht nagelfesten Gegenstände im Zimmer auf eine braune Lehmwand links von mir. Ich hatte die Hoffnung, ich könnte mit dieser Aktion die Wand und den kompletten Raum zwingen, mich frei zu geben. Doch der Lehm bekam keine Risse. Es entstand kein neuer Ausweg! Die Lehmwand hielt meinem zornigen Wutausbruch ohne weiteres stand. Ich zertrümmerte ein Bild mit einem schwarz-weiß Portrait auf der Lehmwand. Ein Nachttopf zerbrach in zahlreiche Einzelteile, als ich ihn auf die gleiche Stelle der Wand warf. Der hart gestampfte Erdboden in dem Raum war nun übersät mit spitzen Keramikscherben. Ich verschnitt mir mit diesen Scherben meine nackten Füße. Die blutigen Wunden schmerzten schrecklich und die aussichtslose Situation in Gefangenschaft entfachte starke Aggressionen in mir. Ich wollte mich unbedingt befreien und war dafür bereit, jedes Risiko in Kauf zu nehmen.
Ich hielt mit viel Anstrengung das metallene Bettgestell mit der Matratze in die Höhe und wollte auch das grösste Möbelstück im Zimmer auf die harte Lehmwand links von mir werfen. Auch wenn meine Aktionen bisher erfolglos geblieben waren, erhoffte ich mir weiterhin mit gewalttätigem Handel die Befreiung aus diesem Alptraum. Dann geschah ein Unglück! Aus Versehen glitt die stinkende Strohmatratze aus meinem Griff und landete hinter mir auf der glimmenden Glut in der offenen Feuerstelle. Benommen sah ich zu, wie das trockene Stroh der Matratze Feuer fing. Ich erschrak, als ich bemerkte, was ich angerichtet hatte! Schon bald brannte die alte Matratze lichterloh. Sie qualmte überwältigend stark. Nur ein kleiner Teil des stinkenden, dunklen Rauches der brennenden Matratze verließ den Raum durch den im Wellblechdach eingesetzten Rauchabzug. Die schlechte Durchlüftung hatte zur Folge, dass sich das kleine Zimmer schnell von oben bis unten mit dunklem, beissenden Rauch füllte und ich kaum mehr atmen konnte. Dieser dunkle Rauch kratzte in meiner Lunge und ich hustete stark. Bald sah ich vor lauter dichten Rauchwolken nicht mehr meine eigenen Finger vor meinen Augen. Muss ich nun langsam und qualvoll sterben? frage ich mich reumütig. Hätte ich doch besser aufgepasst und die Strohmatratze nicht aus Versehen in Brand gesteckt! Weshalb werde ich bloss wütend, wenn ich doch weiss, dass ich in diesem Zustand nur Unheil anrichte?
Meine Überlebensinstinkte übernahmen die Kontrolle über meinen Verstand. Ich suchte keine Antwort mehr auf die Frage, ob mir schreckliche Qualen vor meinem Traumtod bevorstehen würden. Ich röchelte und schnappte nach Luft. Ein Fluchtweg aus dem Rauch gefüllten, fensterlosen Raum war nicht in Sicht. Ohne zu sehen, wohin mich meine Schritte führten, rannte ich panisch und ziellos mit meinen blutenden Füßen in dem kleinen Raum herum. Ich blieb erst stehen, als mein Kopf hart in etwas hinein prallte. Der Stoss tat fürchterlich weh. Beinahe hätte ich mein Bewusstsein verloren.
Nun ertönte ein bizarrer Laut, der mich an einen reißenden Stofffetzen erinnerte. Ganz in meiner Nähe war durch den harten Aufprall etwas zu Bruch gegangen. Was war gerissen? Unerwartet drang grelles Licht in den dunklen Raum hinein. Glücklicherweise zog der dichte Rauch durch einen neu entstandenen, bizarren Spalt ab. Nach kurzer Zeit bekam ich wieder genügend Luft zum Atmen und erkannte wieder klar und deutlich meine nahe Umgebung. Was ich sah, verwirrte mich! Ich starrte auf einen im Zimmer schwebenden Riss, der von oben nach unten führte. Diese neu entstandene Öffnung sah aus, als wäre sie mit einem dunklen Filzstift, wie in einem billigen Trickfilm, in die Luft skizziert worden. Als ich meinen Kopf drehte, wanderte der bizarre Spalt mit meiner Kopfbewegung mit, während der belanglose Raum dahinter an Ort und Stelle blieb. Ich sah durch den Spalt hinaus in einen neuen Traum.
Meine Gedanken beschäftigten sich immer noch mit der entgangenen Gefahr des qualvollen Erstickungstodes. Meine volle Aufmerksamkeit galt dem lebensrettenden, künstlichen, irrealen Riss, der echtes Sonnenlicht und reine Luft zum Atmen in den kleinen Raum eintreten ließ. Ich realisierte nun, dass ich endlich die Möglichkeit bekam, dieser Enge im Zimmer zu entkommen. Ich habe einen Ausweg gefunden.
Leider war der Spalt zu klein, um mit meinem Körper hindurch zu schlüpfen. Also fasste ich mit meinen Händen in die bizarre Öffnung und versuchte, die beiden künstlich aufgezeichnet wirkenden Risshälften weiter auseinander zu ziehen. Ich hatte erwartet, dass sich die Kanten des Spaltes hart und kalt anfühlen. Jedoch fasste ich auf warme, verformbare Rissenden. Was ich in den Händen hielt, fühlte sich erstaunlicherweise lebendig und vital an. Erst jetzt erkannte ich, in was mein Kopf im Rauch gefüllten Raum hinein gestoßen war und weshalb der entstandene Riss künstlich aufgezeichnet wirkte. Es war mein eigenes Sichtfeld, das aufgerissen vor mir hängte! Deshalb wanderte der Spalt mit den Bewegungen meiner Augen mit. Der Raum hatte sich nicht verändert, sondern meine Sicht der Dinge.
Wie ein großes dehnbares Gummiband ließ sich der Riss in meinem Sichtfeld mit viel Anstrengung auseinander spreizen und vergrößern. Leider musste die entstandene Öffnung stets aufgehalten werden, wenn ich verhindern wollte, dass sie sich mit ihrem Gummiband-Effekt von selbst wieder verschloss.
Um dem öden Zimmer so schnell wie möglich zu entkommen, hielt ich angestrengt mit beiden Händen die getrennten Sichtfeld Hälften so weit wie ich vermochte auseinander. Als die Öffnung genügend groß war für meinen Körper, sprang ich mit einem kraftvollen Schwung durch die aufgehaltene Öffnung. Hinter mir schnellte das nun nicht mehr aufgespannte, gerissene Sichtfeld wieder zusammen und verschloss sich von selbst.
Ich war in einem neuen Traum angekommen.
Die Wüste
Nun war mein leichtes Pyjama in einen schicken, braunen Hosenanzug mit Strohhut verwandelt worden. Meine unverletzten Füße waren in Lederne Sandalen gewickelt. Da ich mich in einem neuen Traum befand, war ich darin auch neu eingekleidet. Mein Körper hatte keine Kratzer und Wunden des vergangenen Traumes mitgebracht. Ich stand gesund und munter auf einer steinigen Ebene und sah in allen Himmelsrichtungen bis zum weiten Horizont Pink. Die orange Sonne ging im Osten auf. Zart erhellte sie die wundervolle Umgebung in meinem neuen Traum. In dieser Wüste hatte es vor kurzem stark geregnet und feine Wassertropfen fielen auch jetzt vom Himmel. Die pinkfarbenen Bigelow-Affenblumen bedeckten mit ihren prachtvollen Blüten die weite Ebene. Ich strich mit meinen Handflächen über das farbige Blütenmeer und schritt bewundernd voran. Eine derart wunderschöne, blühende Ebene hatte ich noch nie gesehen. Einen solch bezaubernden Ort gibt es nur in Träumen! ging mir durch den Kopf. Hier fühlte ich mich sehr wohl. Es war hell und farbig. Diesem Traum schenkte ich meine Aufmerksamkeit gerne. Hier gab es keine Grenzen. Ich konnte gehen, wohin ich wollte. Ich war frei und glücklich.
Dieser lebendige Ort war jedoch starken Veränderungen unterworfen, wie ich erleben durfte. Die Sonne stieg höher bis zum Zenit und es wurde plötzlich sehr heiß. Die pinken Blüten der Bigelow-Affenblumen verwelkten und vielen auf den steinigen Boden. Die Pflanzen zogen sich zurück in die harte Erde. Bald stand ich alleine in einer stillen, leeren Steinwüste und musste schnell einen sonnengeschützten Unterschlupf finden, wenn ich nicht austrocknen wollte. Lange schritt ich auf der Suche nach Schatten umher. Doch es gab keine hohen Felsen und keine Erdlöcher, die mir Schutz vor dem brennenden Sonnenlicht hätten anbieten können. Zudem hatte ich fürchterlich Durst. Leider war das seltene Regenwasser, das für kurze Zeit dieses prachtvolle Blütenmeer hervorgebracht hatte, vollständig verdunstet. Eine Wasserstelle war nicht auffindbar. Erneut erlitt ich große Qualen. Diese Wüste war endlos groß. Auch in diesem Traum fand ich keinen Ausweg, der offensichtlich vor meiner Nase lag. Ich musste zuerst suchen und lernen.
Ich war schrecklich müde. Ich will mich ausruhen und schlafen! sagte jede Zelle in mir. Das darf ich nicht! teilten mir meine Schutzengel mit. Ich wusste, wenn ich mich ausruhen würde, dann würde ich sterben und den Traum verlassen. Was bisher im Traum vorgefallen war, würde nach meinem Erwachen verblassen und geschwind vollständig aus meinem Gedächtnis verschwinden. Dann würde ich nicht mit Hilfe dieses Traumes Verstehen lernen. Ich habe hier eine Aufgabe! wusste ich jetzt. Ich musste weitermachen! Nachdem ich durch mein zerrissenes Sichtfeld aus dem kleinen Zimmer entfliehen konnte, hatte ich nun die Gewissheit, dass mir ebenfalls ein Ausweg aus dieser neuen unangenehmen Situation vorbestimmt war. Ich fand mein Urvertrauen wieder. Ich hielt meine Augen offen und gab dem Drang nach Schlaf nicht nach. Ich war auf jede Veränderung in meiner heißen Umgebung aufmerksam.
Tatsächlich geschah in diesem Augenblick etwas merkwürdiges. Auf dem steinigen Wüstenboden, etwa zwei Meter von mir entfernt, lag ausgestreckt und bewegungslos eine mittelgroße Schlange. Diese hellbraune, giftige Hornviper fixierte mich mit ihren schlitzförmigen Pupillen, als würde sie mich fressen wollen.
Dieses kleine, übermütige Tier überschätzt seine Stärke, wenn es glaubt, es könne sich eine zehnmal größere und stärkere Beute aussuchen, dachte ich schmunzelnd und wollte der selbstsicheren Schlange ausweichen.
Den starrenden, gelben Augen dieses gefährlichen Tieres konnte ich jedoch nicht entfliehen. Als ich bemerkte, dass die harmlos erscheinende Hornviper Macht über mich hatte, bekam ich es mit Angst zu tun. Ich wollte mich zurückziehen und rannte so schnell ich konnte davon. Trotz vielen, weiten Schritten bewegten mich meine Füße keinen Millimeter von der Schlange weg. Ich bleibe im Sichtfeld dieses gefährlichen Tieres gefangen, wurde mir mit einem Schrecken bewusst. Den einzigen Weg, den ich zu gehen vermochte, war näher an die Schlange heran.
Ich hasse Schlangen. Ich finde sie eklig und abstoßend. Und nun war ich in diesem Traum gezwungen, immer näher an eine giftige Hornviper heranzutreten. Zu allem Überfluss blieb die hellbraune Schlange mit ihrem hübschen Muster nicht ein kleines Tier, das ich mit einem Fusstritt hätte verscheuchen können. Nein! Mit jedem Schritt, mit dem ich mich dem gefährlichen Tier näherte, wurde ich selbst kleiner und die Viper größer. Als der Kopf der Schlange eine Größe von 50 cm erreicht hatte, wollte ich mich erneut umdrehen und die Flucht ergreifen. Leider gab es weiterhin keinen Rückweg für mich. Alle Schritte, die mich nicht näher an die Schlange heran brachten, blieben wirkungslos. Ich konnte weder nach rechts, noch nach links und schon gar nicht nach hinten ausweichen. Mein Platz vor der mich fixierenden Schlange blieb strikt bestehen. Ich konnte diesem giftigen Tier nicht entkommen.
Die erbarmungslose Schlange fixierte mich mit ihren schlitzförmigen Pupillen weiterhin und hielt mich mit ihrem Blick gefangen. Ich gebe auf! Die Schlange hat gewonnen! Ich füge mich meinem Schicksal, gestand ich mir ein. Vorsichtig und resigniert trat ich auf die hellbraune, immer noch bewegungslose Hornviper zu und verschloss dabei ängstlich meine Augen. Als ich sie wieder öffnete, blickte ich in die riesigen gespaltenen Pupillen eines 3 Meter großen Schlangenkopfes. Das Tier schien zu lächeln. Das Monster bekam, was es wollte. Es öffnete langsam seinen Mund und da es mein einziger begehbarer Weg war, der mir in diesem Traum vorbestimmt war, lief ich in den riesigen Rachen der Viper hinein. Als ich mich im Schatten unter der immensen Mundöffnung befand, kam es mir vor, als würde ich ein Portal durchschreiten. Über mir tropfte die Speichelflüssigkeit von zwei riesigen Giftzähnen auf mich herunter. Die übergroße Schlange schloss langsam ihren Mund. Eilig schritt ich weiter in den Rachen hinein, um nicht von den Giftzähnen verletzt zu werden. Nun war ich gefangen in einer schleimigen Finsternis.
In diesem dunklen, feuchten Tunnel tastete ich mich vorwärts. Es war sehr heiß. Immer weiter führte mein Weg hinein in den Schlangenkörper. Doch ich landete in keinem tötenden Magen mit Verdauungssäften, wie ich erwartet hatte. Die Tunnelwände verloren nach und nach ihre Lebendigkeit. Schon bald befand ich mich in einem großen, leeren Gang, der aussah wie ein verlassener Strassentunnel. Bläuliches Licht begleitete meinen unbekannten Weg. Die Luft in diesem menschenleeren Tunnel wurde immer kühler. Da meine Beine von Schwäche befallen waren und mir den Dienst versagten, fiel ich Kopf voran auf den harten Steinboden. Der bizarre Gang neigte sich unerwartet abwärts und ich schlitterte, als würde ich mich auf einer steilen Rutsche befinden, bergab auf ein unbekanntes Ziel zu. Immer schneller rutschte ich in die Tiefe. Kraftvoll kam ich in einem neuen Traum an, als ich aus dem Gang katapultiert wurde und ein weiteres Portal durchquerte.
Der Schneesturm
Ich landete auf einem Gras bedeckten, weichen Berghang. In meinem neuen Traum befand ich mich auf einer einsamen, grünen Alp. Liebliche, runde, erdige Hügel voller gelber Löwenzahn Blüten und wenige, auffällige Gesteinsbrocken sichtete ich um mich herum. Die Sonne schien über den vereinzelt herum treibenden Wolken und es roch nach nasser Erde, vermischt mit Gras. Auch hier hatte es vor kurzer Zeit geregnet. Ich war in wasserdichte Wanderausrüstung eingepackt und gute Wanderschuhe umhüllten meine Füße. In diesem neuen Traum landete ich automatisch und unverletzt mit geeigneter, der Umgebung angepasster Kleidung.
Unter mir im weichen Tal glitzernden mehrere, atemberaubend schöne Bergseen. Wie Sterne leuchteten ihre Wasseroberflächen in einem hellen Weiss. Von einer menschlichen Zivilisation waren weit und breit keine Spuren zu sehen. Erneut befand ich mich Menschenseelen alleine in einem lehrreichen Traum. Es störte mich nicht, dass ich keine menschlichen Gesprächspartner hatte, denn ich fühlte mich wohl und behaglich in meiner neuen Umgebung. Es schien mir, als könnte ich mit allem kommunizieren, was um mich herum auf dieser Alp existierte. Die Steine beobachteten und beschützten mich. Die Ameisen bewunderten meine Macht und die Gras-Hälmchen flüsterten mir zu, welchen Weg ich einschlagen sollte. Die runden, Gras bewachsenen Berge summten Lieder für mich und die vereinzelten Wolken spielten mit mir Verstecken.
Leider hatte auch dieser wundervolle Traumort keinen Bestand. Es zog schon bald ein starker, aggressiver, feindlicher Wind auf und klirrende Kälte brach herein. Die kleinen Wolken spielten nicht mehr mit mir. Sie verdichteten sich und verwehrten mir den Blick auf die helle Sonne. Es fing an zu schneien und das Wasser in den vielen kleinen, glitzernden Bergseen im Tal fror ein. Die starren Seen verschwanden schon bald unter einer dicken Schneeschicht.
Ein Schneesturm wirbelte um mich herum. Die kalten Schneeflocken krochen in meine Kleidung und schmolzen auf meiner warmen Haut. Bald war ich trotz guter, wasserdichter Ausrüstung vollständig durchnässt und durchgefroren. Die erbarmungslose Kälte drohte mich langsam und qualvoll zu töten. Ich irrte lange umher, bis ich vergaß, wohin ich eigentlich gehen wollte. Wusste ich einst, wo sich mein Ziel befindet? Gibt es tatsächlich eine Aufgabe in diesem Traum, die ich lösen muss? Weshalb bin ich hier? fragte ich mich und stellte mein Vertrauen in die Traumwelt in Frage. Soll ich all die Qualen in diesem Traum über mich ergehen lassen, ohne zu wissen, ob dies alles einen Sinn hat? Meine Zweifel ließen mich beinahe den schnellen Freitod wählen. Ich stand oberhalb einer senkrechten, steilen Felswand und hatte vor, freiwillig in die Tiefe zu springen. Ohne einen Sinn meiner Existenz zu erkennen, wollte ich diesen Traum so schnell wie möglich verlassen. Mir war es gleichgültig, dass ich das bereits Geträumte schnell vergessen würde und keine Lehre aus diesem Traum ziehen würde, wenn ich nun im Traum sterbe. Ich wollte aufgeben und in meinem eigenen Bett erwachen.
Der Schneesturm lichtete sich ein wenig. Ich stand an der Felskante, bereit in die Tiefe zu springen. Einen letzten Blick auf die Traumwelt, die ich bereit war sogleich zu verlassen und zu vergessen, gewährte ich mir noch. Ich sah hinunter in das ruhige, verschneite, stille Tal und hinauf auf einen kleineren, eisigen, runden Hügelberg über mir. Was ich dort erkannte, hätte ich mir nie vorgestellt! Ich sah durch das Schneetreiben hindurch dich, meinen Leser auf diesem schneeweißen, eisigen Hügel stehen. Du warst tatsächlich dort! Etwa 30 Meter höher den Berg hinauf, erkannte ich klar und deutlich deine dunkle Silhouette vor dem weißen Himmel. Du bist auf dem höchsten Punkt dieses runden Eishügels gestanden und hast dich nicht vom Fleck bewegt. Die kalten Windböen schienen dich kein bisschen zu beeindrucken. Deine Haare wehten um dein Gesicht und deiner männlichen Erscheinung schien das nasse und kalte Schneetreiben nichts anhaben zu können. Aufrecht krönte dein Antlitz die höchste Rundung dieses weißen Berges. Du hast aufmerksam und fasziniert auf deine Füße geschaut und mich nicht wahrgenommen. Was gibt es dort vor deinen Füßen bloß, was dich derart in den Bann zieht? wollte ich unbedingt wissen. Ich habe laut und deutlich nach dir gerufen. Der starke Wind trug jedoch meine Laute von dir weg. Du hast nicht meine erstaunten Blicke gesehen und keine meiner Worte wahrgenommen. Mir schenkst du kein bisschen Beachtung, dachte ich traurig vor dem Abgrund stehend.
Dich in diesem Traum anzutreffen, war für mich Freude und Wut zugleich. Weshalb verfolgst du mich in meinem Traum, obwohl ich geglaubt habe, seit langem mit dir abgeschlossen zu haben? Weshalb erwarte ich von dir, dass du mich wahrnimmst und mir Beachtung schenkst, obwohl viel Zeit verflossen ist, in der wir uns entfremdet haben? Ich hasste dich in diesem Moment, weil ich damals vor langer Zeit hohe Erwartungen und spezifische Vorstellungen was uns beide betrifft hatte und diese mir vorgestellt Zukunft nie real wurde. Ist die Tatsache, dass heute nichts so ist, wie ich erhofft hatte, ein Grund dich zu hassen? Ist es nicht meine unrealistische Voreingenommenheit, die dich zum Gehassten macht? fragte ich mich unschlüssig. Hattest du jemals Schuld, da du nicht so bist, wie ich dich gerne haben möchte?
Ich wollte mit dir darüber sprechen und versuchte, den eisigen Hügel, auf dem du dich aufgehalten hast, zu erklimmen. Langsam entfernte ich mich von der gefährlich steilen Felskante. Den Gedanken freiwillig in die Tiefe zu springen, um aus diesem Traum zu erwachen, verwarf ich sofort.
Vielleicht erfahre ich dennoch, wie es in dir aussieht, wenn ich vor dir stehe, mit dir spreche kann und in deine dunklen Augen schaue! Vielleicht erkennst du, dass ich dir nie schaden wollte? Vielleicht verzeihst du mir mein abweisendes, flüchtendes Verhalten, wenn du verstehst, wie es in meinem Innersten aussieht? Ich dachte an die schönen Gedanken, die du einst mit mir geteilt hast. Ich dachte daran, dass ich mit deiner Hilfe die Welt in einer anderen Sicht hätte betrachten lernen können. Ich dachte an dein Lächeln und an das Gefühl, verstanden zu werden. Ich will mit dir sprechen! Der Wind mit seinen Schneeflocken wollte mir deine Nähe jedoch nicht gestatten. Er wehte mir ins Gesicht und wollte mich daran hindern, den Hügel zu besteigen. Ich kämpfte mit aller Kraft darum, in die Höhe zu dir klettern zu können, ohne von den Windböen weggeweht und in den Abgrund geworfen zu werden. Mein Fingernägel krallte ich in den eisigen Boden. Langsam kroch ich zu dir hinauf auf die Hügelkuppe.
Nun endlich erkannte ich, was deine Faszination derart fesselte. Vor deinen Füssen auf dem höchsten Punkt der Hügelkuppe befand sich ein etwa ein Meter breites, tiefes Eisloch. Dieses war exakt rund, senkrecht und sah künstlich ausgebohrt aus. In dieses eigenartige Loch hast du die ganze Zeit hinein gestarrt. Es ist ein Portal in einen neuen, unbekannten Traum! fiel mir auf. Mit großer Anstrengung hast du versucht herauszufinden, in was für einen neuen Traum dieses faszinierende Portal, das Eisloch im Boden führen wird. Du warst versunken in deinen eigenen Gedanken und hast nichts und niemanden um dich herum wahrgenommen. Das Portal nahm all deine Aufmerksamkeit für sich in Anspruch und deshalb hast du meine Anwesenheit komplett ignoriert. Du bist mit dir selbst beschäftigt, dachte ich traurig. Für mich gab es nie einen Platz in deinem Leben, musste ich enttäuscht hinnehmen.
Kaum bin ich kriechend neben dir angekommen, hast du beschlossen, dieses Portal in einen neuen Traum zu durchschreiten. Ohne mich zu erkennen, bist du mit einem simplen Sprung durch das Eisloch im Boden mit den Füssen voran verschwunden. In Tränen aufgelöst und schrecklich durcheinander über dein Verschwinden hielt ich auf dem Eis kniend den Kopf in das runde Loch hinein und schrie verzweifelt deinen Namen. Wirst du mich nun nie mehr anlächeln? War das Bildnis, das ich von dir hatte, derart falsch, dass es in meinem Traum für immer verschwinden und sich auflösen musste? War es eine Täuschung zu glauben, ich könnte dich kennen und verstehen? Meine Tränen fielen in das runde Eisloch, vor dem ich kniete. Ich weinte nicht um dich! Ich weinte um die verlorene, wunderbare Vorstellung, die ich von dir hatte. Ich weinte darum, dass ich geglaubt hatte, du seist ein aufmerksamer, edler und aufrichtiger Mensch, dem auch ich etwas bedeute. Erst jetzt erkannte ich, dass dieses Bild von dir alleine in meinem Kopf Bestand hatte und es niemals der Realität entsprochen hatte. Unsere Lebenswege haben sich gestreift, doch wir hatten niemals die Gelegenheit gefunden, uns wirklich kennenzulernen. Haben wir dies je einmal gewollt?
Den Kopf nach unten haltend bemerkte ich, dass dieses senkrechte Loch unglaublich tief war, denn ich sah kein Ende. Soll ich dir in dieses Eisloch und somit in einen neuen Traum folgen? Würdest du mir gerne anvertrauen, welchen Traum du für deine Zukunft hast? Möchtest du mir erzählen, was dir wichtig ist und für was du brennst? Besteht immer noch Hoffnung, dass wir offen und ehrlich miteinander sprechen können? fragte mein Herz erwartungsvoll. Mein Verstand widersprach dem Versuch, dir zu folgen und verbot mir, dir hinterher zu springen. Jeder Mensch kann im besten Fall sich selbst nahe sein. Der wahre Kern eines Menschen bleibt einem anderen immer fremd und größtenteils verschlossen.
Der Wind packte mich und warf mich gegen meinen Willen in das tiefe Eisloch. Ich fiel in eine unendliche Tiefe.
Der freie Fall
Bald lösten sich die Eiswände um mich herum auf und ich fiel in eine tiefe, dunkle Leere hinunter. Nichts existierte mehr um mich herum. Ich war komplett nackt. Es war weder kalt noch heiß. Ich sah kein hoffnungsvolles Licht. Ich hörte keine kommunikativen Geräusche. Es roch keineswegs nach Gerüchen. Ich fühlte nichts mehr. Lange Zeit fiel ich, ohne zu bemerken, dass die Zeit ungenutzt verstrich. Dann ertönte unerwartet eine merkwürdige Stimme in meinem Kopf: Breite deine Flügel aus und fliege! befahl sie mir. Wer ist hier? wollte ich wissen. Ich sah weiterhin nichts um mich herum außer vollkommener Finsternis. Niemand war in meiner Nähe angekommen. Ich bin dein Dämon, antwortete mir die unheimliche Stimme in meinem Kopf. Die Zeit rennt dir davon! Beeile dich! Fliege nun! fügte die Stimme im Kopf hastig hinzu. Nun sah ich Bilder von meinem eigenen, vergangenen Leben in meinem Kopf ablaufen. Die kompletten Erinnerungen meines Lebens liefen im Eiltempo vor meinem inneren Auge ab. Ich wurde geboren und lag hilflos in den Armen meiner Mutter. Als Kleinkind ging ich mit meinen unbeholfenen Schritten an der Hand meines Papas. Ich kam in die Schule, hatte Prüfungen und Abschlüsse zu bestehen, lernte einen ausgesuchten Beruf, gründete eine eigene Familie und…
Beeile Dich! Breite endlich deine Flügel aus! schrie mein Dämon in meinem Kopf. Was will diese Stimme von mir? Wie soll ich ohne Flügel fliegen! fragte ich mich verwirrt. Unsicher streckte ich meine Arme aus. Vielleicht verwandeln sich meine Arme in Flügel, erhoffte ich mir. Mein Dämon schrie wütend: Mit deinen Armen kannst du nicht fliegen. Strecke deine weißen Federflügel aus. Du bist ein Engel. Du kannst das. Ich glaube an Dich! Verwirrt überlegte ich: Habe ich all die Jahre nicht bemerkt, dass ich ein Engel bin und fliegen kann? Ich tastete mit meinen Fingern ungläubig meinen nackten Rücken ab. Und tatsächlich fühlte ich das erste Mal in meinem Leben die weißen Federflügel, die aus meinem Rückengrat wuchsen. Unbeholfen faltete ich meine weißen Flügel auseinander. Halte deinen freien Fall auf. Du bist stark! Los! rief mein Dämon in meinem Kopf nervös.
Gleichzeitig mit dem Ertasten meiner Flügel lief in meinem Kopf immer noch mein komplettes, vergangenes Leben in sehr schnellem Tempo an mir vorbei. Ich habe mehrmals meinen Wohnort, meine Arbeitsstelle und meine Partner gewechselt. Meine Kinder wurden langsam erwachsen. Ich erlebte erneut in Eiltempo meine Frust Momente und auch nochmals meine freudigen Erlebnisse, eingebettet in das Alltagsgeschehen. Ich war in der Mitte meines Lebens, im Jetzt angekommen. Es wurde Zeit! Meine nun mit viel Mühe ausgestreckten weißen Federflügel auf meinem Rücken fingen meinen freien Fall endgültig auf. Ich hatte zuerst Schwierigkeiten, nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten und meine Flügel gerade auszustrecken. Doch nach kurzer Übungszeit hatte ich den Dreh raus. Ich kann fliegen! rief ich glücklich in die Stille hinein. Jede Flugrichtung konnte ich mit meinem freien Willen wählen. Ich musste mich nur entscheiden, wohin mein Weg führen sollte. Es war ein wunderbares Gefühl, die Verantwortung für mein Schicksal übernommen zu haben.
Die Dunkelheit bestand jedoch weiter. Gut gemacht! Nun musst du dein drittes Auge öffnen, verlangte mein Dämon von mir. Wie soll das denn gehen? Ich habe nur zwei Augen! rief ich in die Dunkelheit meinem unsichtbaren Dämon zu. Ich verspürte einen kleinen Druck auf meiner Stirn in der Mitte oberhalb meiner zwei Augen. Etwas hat mich berührt. Hat mein Dämon mich angefasst? Hör auf zu denken! Öffne nun dein 3. Auge! Forderte mich die Stimme in meinen Ihren erneut auf. Dank eines bizarren Knistern bemerkte ich, dass auf meiner Stirn ein weiteres Auge im Begriff war, sich zu öffnen. Es war mir jedoch fremd und ich konnte es kaum mit meiner Willenskraft kontrollieren. Ich brauchte ein wenig Zeit, bis ich verstand, dass dieses Auge nicht wirklich zu meinem Körper gehörte. Es öffnete sich zu meiner Verwunderung ganz von alleine.
Nun wurde die Dunkelheit von hellem Licht vertrieben. In weiter Entfernung sah ich einen hübschen Planeten mit einem Mond. Ich flog mit meinen breiten, weißen Federflügel näher an den Planeten heran und bemerkte nun, dass ich unsere Erde vom Weltraum aus betrachteten durfte. Ich sah Wolken, die über der Erdoberfläche wundervolle Muster bildeten. Die große blaugrüne Meeresoberfläche wechselte sich mit hellbraunen oder grünen Landflächen ab. Die Kontinente der Erde waren klar und deutlich zu erkennen. Der Planet kam mir von meinem Aussichtspunkt im Weltraum aus klein, zerbrechlich und zugleich wundervoll lebendig vor. Such dir deinen Platz, an dem du Ruhe findest. forderte mein unsichtbarer Dämon von mir. Wo bist du? Weshalb höre ich deine Stimme in meinem Kopf, aber sehe dich auch mit meinem 3. Auge nicht? wollte ich von meinem Dämon wissen. Die Stimme erklärte mir: Ich verstecke mich vor dir. Ich bin ein scheuer Dämon. Richte dich zuerst an deinem Platz der Ruhe neu ein. Ich verzog unglücklich mein Gesicht. Ich mag es nicht, wenn jemand Neues sich nicht zu erkennen gibt. Doch nackt, wie ich war, wollte ich auch nicht jemandem Fremden gegenüber treten. Mein Dämon schien meine Gedanken zu erraten. Er ergänzte liebevoll: Ich verspreche Dir, mich persönlich an deinem Platz der Ruhe vorzustellen! Dann darfst du mich sehen.
So blieb ich ruhig und geduldig. Ich machte mich auf die Suche nach meinem eigenen Platz, wie mein Dämon es mir empfohlen hatte. Ich segelte hinunter näher heran an die Erdoberfläche und sah genau hin, wo sich mein Platz der Ruhe verstecken könnte. Ich schwebte vorbei an großen, belebten Städten, über stürmische Meere mit einsamen Inseln, über hohe, steinige Berge mit tiefen Tälern und entlang trockener, öden Steppen. Ich bestaunte vergessene Orte, andersartige Menschen und fremde Kulturen. Doch an keinem dieser Orte fühlte ich mich zu Hause. Nirgends fand ich Ruhe. Auch wenn die Fremde noch so faszinierend und abwechslungsreich war; Ich gehörte an keinen dieser Orte. Müde suchte ich weiter und überflog schlussendlich meine vertraute Umgebung, in der ich aufgewachsen war. Dort stach mir eine einsame, von der Zivilisation unberührte Flussbiegung in einem grünen, hellen Wald ins Auge. Der blaue Fluss war wild und der grüne Wald naturbelassen. Die Sonne schien und es war angenehm warm in der Umgebung dieser Flussbiegung. Beim genaueren Betrachten bemerkte ich: Diesen Ort kenne ich bereits! Als Kind habe ich diesen wilden Fluss häufig in meinen Träumen besucht. Ich hatte damals viele glückliche Traummomente unter den ausladenden Weiden am steinigen Flussufer verbracht. Leider habe ich mit dem Erwachsenwerden vergessen, wie ich in diesen Traum zurückfinden kann. Diesen wiedergefundenen Ort muss ich mir genauer ansehen! dachte ich euphorisch.
Ich landete mit den Füßen voran auf einer hellgrünen Grasfläche neben dem wilden Wasser und faltete meine weißen Federflügel sorgsam zusammen. Nun brauchte ich die Flügel nicht mehr, denn ich war am richtigen Ort angekommen. Dies fühlte ich sogleich, als meine Füße diesen besonderen Boden berührten. Die Federflügel verschwanden langsam von meinem Rücken. Ich war unbesorgt. Ich wusste, wenn ich meine Flügel einst wieder brauchen würde, dann wären sie erneut für mich da. Hier an diesem wilden Fluss und unter den großen, weiten Bäumen fühlte ich mich sehr, sehr wohl. Ich erkundete meine bereits bekannte, wiedergefundene Umgebung und erinnerte mich an viele kindliche Traumerlebnisse, die ich vergessen geglaubt hatte. Wie damals als Kind spielte ich erneut voller unschuldigem Elan mit dem wilden Flusswasser. Ich sprach mit den vorbeifliegenden, summenden Hummeln. Ich beschmutzte meinen ganzen, nackten Körper am matschigen Flussufer mit dem weichen Schlamm und ich sang selbst erfundene, lustige Lieder. Als ich müde wurde, bedeckte ich meinen nackten Körper mit großen Pflanzenblätter. Ich legte mich erschöpft mit einem Lächeln im Gesicht auf das weiche, braun grüne Moos unter eine große, ausladende Ulme. Das Flusswasser rauschte gleichmäßig und beruhigend. Ich hörte verschiedene, ausgelassene Vögel zwitschern. Gelbe Grillen zirpen um mich herum und die riesigen, Schatten spendenden Baumblätter über mir raschelten sanft im Wind. Ich hatte meinen eigenen, persönlichen Ort der Ruhe wieder gefunden und war sehr, sehr glücklich, hier verweilen zu dürfen. Ich lag auf dem weichen Moos und schaute durch das grüne Blätterdach in den sonnigen Himmel hinein. Wo ist mein Dämon geblieben? war mein letzter Gedanke, bevor in diesem Traum der Schlaf über mich herfiel.
Das Treffen
Als ich meine Augen schloss und ich mich zwischen dem Schlafzustand und dem Erwachen aufhielt, wartete auf mich das Bild eines schrecklichen, hässlichen Monsters. Dieses unschöne, bizarre Wesen mit einem schwarzen Mund und spitzen Zähnen lächelte mich schräg an. Das verzogene, rote Gesicht mit langen, spitzen Ohren und gelben Kulleraugen befand sich sehr nahe vor meinen Augen. Hier bin ich, wie versprochen, rief dieses Wesen mit seiner schrillen Stimme. Erschrocken fragte ich: Bist du mein Dämon? Das Monster antwortete und spuckte mir dabei fein ins Gesicht. Natürlich! Ich bin dein Dämon! Erkennst du meine Stimme nicht? Mit offenem Mund starrte ich das eigenartige, hässliche Wesen vor mir an. Dieses rümpfte die Nase und meinte eingeschnappt: Was hast du denn erwartet? Gefalle ich dir nicht? Mein Dämon stellte aufdringlich den Kopf schräg und wartete ungeduldig auf meine Antwort. Ich wollte dieses Wesen vor meinen Augen keinesfalls verärgern. Schließlich hatte mein Dämon mich vorhin gerettet, indem er mich ermutigt hatte, meine Flügel auszubreiten. Dank seiner Hilfe bin ich nun hier und falle nicht weiterhin gefühllos in eine unendliche Tiefe. Wer weiss, wie viel von meinem Leben nun bereits vergangen wäre, wenn mein Dämon mich nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, dass ich ein Engel bin und fliegen kann. Ohne das Öffnen meines dritten Auges wäre ich immer noch blind. Vielleicht wäre ich ohne dieses bizarre Wesen nun schon lange tot! Ich hatte also jeden Grund dieses Wesen zu schätzen und zu ehren.
Ich habe mir meinen Dämon, der zu mir gehört, anders vorgestellt, musste ich mir jedoch eingestehen. Dieses Wesen vor meinen Augen war klein, verschrumpelt und glich einem bösen Gnom in einem alten Märchen. Mein Damon sah aus wie eine Jux-Figur oder ein Geisterbahn-Insasse, der Kinder erschreckt. Wenn man dieses Wesen alleine nach seinem Aussehen beurteilen würde, so könnte es von niemandem Respekt und keinerlei Anerkennung erwarten.
Ich dachte, mein eigener Dämon, der ein Teil von mir ist, wäre groß, stark und muskulös. Ich habe mir erhofft, dass mein Dämon schöne, gleichmäßige Gesichtszüge habe und eine interessante, ernst zu nehmende Ausstrahlung besitzen würde. Auf dieses hässliche Wesen vor mir traf allerdings mein Wunschdenken kein bisschen zu. Ich musste erkennen, dass mein inneres Bild dieses Wesens, das ich mir vorgestellt habe, als ich seine Stimme hörte, keinesfalls der Realität entspricht. Die Illusion, dass mein eigener Dämon schön wäre, zerplatzte wie eine Seifenblase. Ich war enttäuscht und antwortete meinem Gegenüber nicht sofort.
Dies war jedoch nicht nötig, denn mein Dämon las all meine Gedanken in meinem Kopf. Schließlich ist er ein Teil von mir, wurde mir bewusst. Er sagte ein wenig beleidigt: Ich bin sehr mächtig. Ich habe zahlreiche Fähigkeiten. Unterschätze mich nicht! Jeder Mensch hat seinen eigenen, zuständigen Dämon. Ich kenne einige Dämonen, die haargenau deiner Vorstellung eines stattlichen, hübschen, muskulösen Wesens gleichen. Diese Dämone haben allerdings nur drei Neuronen im Kopf, sind unbrauchbar und nicht von Bedeutung. Die Menschen, denen sie dienen, bedaure ich. Der kleine, hässliche Dämon vor meinen Augen nahm tief Luft und erklärte mir weiter: Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich dein Dämon bin. Auch wenn ich dir nicht gefalle, wirst du mit der Zeit bestimmt sehr dankbar für meine Dienste sein. Erstaunt fragte ich: Du bist mein Diener? Ich überlegte in Sekundenschnelle, dass dieses kleine, hässliche Wesen vielleicht mehr weiss, als ich annahm. Ich wollte meinen hilfreichen Dämon nutzen und über sein Wissen ausfragen. Der Wind hat mich in einen neuen Traum zu dir meinem Leser geworfen. Das Schicksal hat entschieden, dass wir zwei noch nicht miteinander abgeschlossen haben, dachte ich damals zu verstehen. Hastig schossen die ausformulierten Fragen aus meinem Mund: Lieber Dämon, hast du einen Mann gesehen, der vor mir ebenfalls in die unendliche Tiefe, in diesen Traum gestürzt ist? Wie geht es ihm? Ist er gesund und munter? Hat er seinen freien Fall mit seinen Flügeln stoppen können und sieht er etwas dank seinem 3. Auge? Mein Dämon schaute mich mitfühlend an und schüttelte langsam seinen Kopf. Ich weiss nicht, wie es diesem Menschen geht! Dies hier ist dein Traum und nicht der eines anderen! Ich wurde wütend, denn ich hatte erwartet, dass du und ich uns im gleichen Traum aufhalten. Das Schicksal hätte uns in unseren gemeinsamen Traum werfen können! Ich war enttäuscht, dass dem nicht so war und ich mich alleine in meinem Traum befand. Anscheinend fühlte mein Dämon, dass ich in meinen Gedanken die Hoffnung auf ein mir dir näher bringendes Gespräch nicht aufgeben wollte. Ich konnte dich, meinen Leser in diesem Moment noch nicht loslassen. Das hässliche, kleine Wesen vor mir sah mich ruhig an und meinte sanft: Du hältst dich in deinem bedeutendsten Traum, in deinem Traum des Lebens auf. Unterschätze diesen Traum nicht! Er ist sehr mächtig. Ich schaute meinen Dämon mit grossen Augen an. Ich sagte trotzig: Ohne ihn, meinen Vermissten ist dieser Traum wertlos und ich kann den Traum getrost vergessen. Dieser Mensch ist mir sehr wichtig? Er muss hier sein! Ich will, dass er hier ist! Weshalb kann ich diesen Mann hier nicht antreffen? Mein Dämon hielt den Kopf schräg und erklärte mir immer noch geduldig: Hier gibt es keinen Platz für Luftschlösser. Dieser Mann ist nicht so, wie du ihn zu kennen glaubst. Ich fing im Traum an zu weinen, denn diese Aussage schmerzte mich. Ich habe geglaubt dich zu kennen. Mein hässlicher, netter Dämon sprach weiter und schimpfte ein wenig mit mir: Hier in diesem Traum ist kein Ort für Befehle und Urteile. Du kannst diesen Mann nicht hierher zaubern. Hier ist alles, wie es ist. Es ist der wahrste aller Träume. Mit deinem 3. Auge solltest du sehen, dass hier egoistische Ziele keine Bedeutung mehr haben. Bedürfnisse und Erwartungen findest du hier nicht. Nimm an, was dir das Leben zu zeigen bereit ist, lasse deine starren Erwartungen los und sei dankbar für das, was auf dich zukommt! Ich schaute unsicher auf den Boden. Ich verspürte eine Leere in mir. Muss ich mich, wie in einem Fluss treiben lassen und habe ich keinen Einfluss, wohin ich geführt werde? Ich fühlte mich unwohl. Ich hatte kein großes Selbstvertrauen in diesem Augenblick und ich empfand mich als unwichtig und unvollständig. Habe ich ein Mitspracherecht in meinem Leben oder muss ich alles ohne Einfluss über mich ergehen lassen? Erneut verstand mich mein Dämon, der ein Teil von mir ist, ganz genau. Er hatte die Absicht, mich aus meinen grübelnden Gefühlen heraus zu holen und wollte mich stärken. Er erzählte eindrucksvoll: Hier in diesem Traum an deinem Platz der Ruhe bist du, so wie du bist, immer willkommen. Du musst niemandem etwas beweisen. Du brauchst keinen Menschen zu beeindrucken. Dein Ansehen musst du dir nicht erkämpfen. Du darfst Fehler machen und musst keine Angst haben vor Bestrafung oder Missgunst. Du brauchst dich niemals zu verstellen. Hier darfst du denken und sagen, was du willst. Niemand wird über dich richten. Du bist hier dich selbst und du bist jederzeit frei. Ich schenkte den Worten meines Dämons kaum Beachtung. Dieser Ort gefällt mir nicht! log ich. Ohne diesen Mann erscheint mir sogar mein Platz der Ruhe mit all seinen Besonderheiten als wertlos! Warf ich dem kleinen, hässlichen Wesen ins Gesicht. Du lügst! Und du verleugnest dein natürliches Selbst. Glaubst du nicht gut genug zu sein, so wie du bist? Brauchst du einen anderen Menschen, um wertvoll zu sein? Hier an deinem Platz der Ruhe hast du alles, was du für ein gutes Leben brauchst, sagte mein Dämon ernst. Ich wollte mir in diesem Traum diese gestellten Fragen nicht beantworten. Ich wollte nicht der Tatsache ins Auge schauen, dass ich dich nicht brauche, um zu leben. Ich fühlte mich von den Worten meines Dämons bedrängt und vor den Kopf gestossen.
Er sieht nicht ein, dass du mein Leser mir wichtig bist! Habe ich nicht die Macht mein Leben nach meinem Willen zu gestalten! Ich wünsche mir ein Leben mit dem Menschen, den ich hier nicht finden kann, rief ich meinem Dämon wütend zu. Du kannst nicht selbst bestimmen, was dir das Leben bereithalten soll. Das Leben macht das, was für dich am besten ist und erfüllt dir nicht all deine Wünsche, erklärte mein geduldiger, kleiner Dämon immer noch ruhig und gelassen. Ich hatte allerdings meine Gelassenheit längst verloren. Ich schrie erregt: Ich habe den Wert, den ich mir selbst gebe. Ich sehe die Welt, die ich sehen will und ich fühle die Gefühle, die ich mir zugestehen will. Mein Leben liegt in meinen Händen! Mein Dämon entgegnete mir mit zusammengedrückten Augen: Du kannst die Verantwortung für dein Handeln, für deine Wortwahl und für deine Stimmung übernehmen. Aber nur selten werden deine Lebenspläne so ausgeführt, wie du es dir vorstellt hast. Zudem haben weitere Menschen andere Pläne. Hast du diesen Mann, deinen Vermissten je einmal gefragt, wie er sich seine Zukunft vorstellt? Kennst du seine Wünsche? Weisst du, was ihm wichtig ist?Kennst du seine Lieblingsfarbe oder weisst du, was nicht gerne isst? Kennst du seine Träume? Du weisst nichts über ihn! Ich überlegte und fragte mich in diesem Traum zum ersten Mal: Kenne ich dich mein Leser? Bin ich bereit dir zuzuhören? Weiss ich, dass du nicht immer die gleichen Meinung haben wirst, wie ich? Respektiere und achte ich dich, obwohl ich erkannt habe, dass du keineswegs perfekt sein kannst?
Ich hielt inne und sagte nichts mehr. Mein Dämon bemerkte, dass ich anfing dich, meinen Leser als echten, wahren, selbstbestimmten Menschen wahrzunehmen und nicht mehr als meine Erweiterung. Meine unrealistische, eingebildete Vorstellung von dir, zerplatze in der Luft. Mein kleiner, hässliche Dämon beobachtete mich. Zustimmend nickte das keine hässlichen Wesen vor meinen Augen. Wenn du mich brauchst, bin ich für dich da, versprach es mir mit einem schräg lachenden Gesicht. Dann war mein Dämon verschwunden und ich erwachte.
Als ich meine Augen öffnete, lag ich in meinem eigenen, flauschigen Bett in meiner Wohnung. Es war Morgen und ein neuer Tag begann. Ich erinnerte mich deutlich an jede Einzelheit des Geträumten. All das Vorgefallene in meinen vergangenen Träumen blieb in meinem Gedächtnis haften, sodass ich dann die Gabe hatte, diesen Text zu schreiben.
Heute bin ich nicht mehr der gleiche Mensch, der gestern zu Bett ging, denn meine Träume dieser Nacht haben mich verändert. Heute denke ich anders.
Dieser Traum verwandelte mich in einen neuen Menschen.
Der Raum
Ich lag auf einem schäbigen Metallbett auf einer stinkenden Strohmatratze und öffnete meine Augen. Wo bin ich bloß? Ich wurde von keiner flauschigen Bedecke bedeckt, wie ich es von meinem eigenen Heim gewohnt war. Eine schmutzige dünne Wolldecke war über mich gelegt worden und sie fiel auf den Boden, als ich mich aufsetze. Ich hatte ein dünnes Pyjama an und fror. Ich fühlte mich unwohl. Es war kalt und still um mich herum. Ich bin in einem unbekannten, ärmlichen Heim weit weg in der Fremde gelandet, fiel mir mit großem Erstaunen auf. Und ich bin alleine. Die Bewohner dieses Zimmers sind nicht zu Hause, stellte ich fest.
Ich befand mich in einem kleinen schlicht eingerichteten Zimmer mit braunen Lehmwänden. Ich konnte die Tageszeit nicht erraten, denn dieses Zimmer war fensterlos und düster. Es gab keine Bodenfliesen. Der Fußboden bestand aus gestampfter, brauner Erde. Auf dem Erdboden im Ecken dieses Raumes lag eine aus Steinen erbaute, schlichte Feuerstelle. Darüber wurde ein Rohr als Rauchabzug in das einfache Wellblechdach eingesetzt. In der offenen Feuerstelle glimmte ein wenig Gut. Dieser feine Lichtschein der Glut erhellte bedürftig den stickigen, fensterlosen Raum, in dem ich ängstlich auf dem schäbigen Bett sass. Weder Stromleitungen noch Wasserrohre waren hier hin verlegt worden. Auf jeglichen Luxus musste ich leider in diesem Traum verzichten. Dieser Ort gefällt mir nicht! Es roch nach verbrannten Kräutern. Die Luft in diesem kleinen Raum war stickig und staubig. Ich hatte schmerzende, rote Augen.
Weshalb bin ich hier? wollte ich wissen. Bestimmt war ich wieder in einem meiner wirren, surrealen Träume gestrandet, die mir die geheimnisvollen Stimmen zukommen ließen. Manche dieser Träume lassen mich daran erinnern, dass ich alte, wertvolle Erkenntnisse, die ich einst verinnerlicht hatte, bereits wieder vergessen hatte. Viele dieser Träume geben mir wertvolle Erinnerungen zurück. Wurde ich auch in diesen Traum geworfen, um zu lernen und zu verstehen? Ist dieser Traum ein Geschenk oder eine Plage? fragte ich mich zu diesem Zeitpunkt. Ich untersuchte mit meinen Augen gelangweilt meine fremde, ärmliche Umgebung, den spärlich eingerichteten Raum mit den kahlen, fensterlosen Lehmwänden. Zwei kleine eingerahmte schwarz-weiß Fotos hingen an den Lehmwänden. Ein günstiges, halb verfallenes Küchenmöbel aus Pressholz stand neben der Feuerstelle. Mehrere Töpfe und ungewaschenes Geschirr war auf dem Möbel unordentlich abgestellt worden. Ich wollte diesen Traum verlassen, denn mir war nicht danach geduldig zu beobachten und zu lernen. Ich fand meine menschenleere, ärmliche Umgebung uninteressant und belanglos. Manche Träume können sehr anstrengend und nervenaufreibend sein. Ich hatte eine Vorahnung, dass dieser Traum viel von mir fordern würde.
Ich stand auf. Das Metallbett gierte. Nichts rührte sich. Niemand besuchte mich. Weder Tierlaute noch menschliche Stimmen waren zu hören. Was soll ich nur tun? Was ist meine Aufgabe in diesem Traum? Das spärlich eingerichtete Zimmer erschien mir schrecklich klein und seine Lehmwänden drohten mich zu erdrücken. Hier gibt es nichts zu erforschen, was meine Aufmerksamkeit verdient hätte.
So suchte ich im Traum nach einer anderen, spannenden, lehrreichen Umgebung, die zu Ergründen meine Traumzeit mir wert war. Ich ging zur einzigen, schlichten Holztür im Zimmer neben dem Bett und öffnete diese sachte. Sie war nicht abgeschlossen. Leider konnte ich auf diesem Weg das schäbige Zimmer nicht verlassen, denn außerhalb dieses Raumes gab es nichts. Ich starrte zur Tür hinaus und sichtete die vollkommene Finsternis. Dort draußen gab es keinen Fußboden, auf dem ich gehen konnte. Es gab keine Luft zum Atmen und kein Licht, das mir den Weg weisen konnte. Es gab keine Schwerkraft, die bestimmte, wo sich Unten und wo sich Oben befand. Somit gab es keinen Himmel mit funkelnden Sternen und kein Universum, in das ich eingebettet war. Mein Traum zwingt mich, meine Zeit vollkommen alleine in einem bizarren, ärmlichen, schwebenden Raum im Nirgendwo zu verbringen!
Ich musste erkennen, dass mein Traum es mit mir nicht gut meinte und er nicht vorhatte, dass ich diesen schäbigen Raum schlicht und einfach durch die Tür verließ. Er forderte mehr von mir. Ich schloss die Tür resigniert und suchte lange und leider erfolglos nach einem anderen Ausgang aus dieser verrückten Situation. Da ich unbedingt der Enge dieses Raumes und meiner Langeweile entkommen wollte, schossen Tränen der Verzweiflung in meine Augen. Wie soll ich bloß diesen Alptraum verlassen? Muss ich eine halbe Ewigkeit hier in diesem engen, menschenleeren Raum verweilen, bis mein Verstand sich auflöst hat und ich verrückt bin? Die Tatsache, dass ich in meinem eigenen Traum gefangen war, machte mich rasend wütend.
Zornig warf ich die wenigen, nicht nagelfesten Gegenstände im Zimmer auf eine braune Lehmwand links von mir. Ich hatte die Hoffnung, ich könnte mit dieser Aktion die Wand und den kompletten Raum zwingen, mich frei zu geben. Doch der Lehm bekam keine Risse. Es entstand kein neuer Ausweg! Die Lehmwand hielt meinem zornigen Wutausbruch ohne weiteres stand. Ich zertrümmerte ein Bild mit einem schwarz-weiß Portrait auf der Lehmwand. Ein Nachttopf zerbrach in zahlreiche Einzelteile, als ich ihn auf die gleiche Stelle der Wand warf. Der hart gestampfte Erdboden in dem Raum war nun übersät mit spitzen Keramikscherben. Ich verschnitt mir mit diesen Scherben meine nackten Füße. Die blutigen Wunden schmerzten schrecklich und die aussichtslose Situation in Gefangenschaft entfachte starke Aggressionen in mir. Ich wollte mich unbedingt befreien und war dafür bereit, jedes Risiko in Kauf zu nehmen.
Ich hielt mit viel Anstrengung das metallene Bettgestell mit der Matratze in die Höhe und wollte auch das grösste Möbelstück im Zimmer auf die harte Lehmwand links von mir werfen. Auch wenn meine Aktionen bisher erfolglos geblieben waren, erhoffte ich mir weiterhin mit gewalttätigem Handel die Befreiung aus diesem Alptraum. Dann geschah ein Unglück! Aus Versehen glitt die stinkende Strohmatratze aus meinem Griff und landete hinter mir auf der glimmenden Glut in der offenen Feuerstelle. Benommen sah ich zu, wie das trockene Stroh der Matratze Feuer fing. Ich erschrak, als ich bemerkte, was ich angerichtet hatte! Schon bald brannte die alte Matratze lichterloh. Sie qualmte überwältigend stark. Nur ein kleiner Teil des stinkenden, dunklen Rauches der brennenden Matratze verließ den Raum durch den im Wellblechdach eingesetzten Rauchabzug. Die schlechte Durchlüftung hatte zur Folge, dass sich das kleine Zimmer schnell von oben bis unten mit dunklem, beissenden Rauch füllte und ich kaum mehr atmen konnte. Dieser dunkle Rauch kratzte in meiner Lunge und ich hustete stark. Bald sah ich vor lauter dichten Rauchwolken nicht mehr meine eigenen Finger vor meinen Augen. Muss ich nun langsam und qualvoll sterben? frage ich mich reumütig. Hätte ich doch besser aufgepasst und die Strohmatratze nicht aus Versehen in Brand gesteckt! Weshalb werde ich bloss wütend, wenn ich doch weiss, dass ich in diesem Zustand nur Unheil anrichte?
Meine Überlebensinstinkte übernahmen die Kontrolle über meinen Verstand. Ich suchte keine Antwort mehr auf die Frage, ob mir schreckliche Qualen vor meinem Traumtod bevorstehen würden. Ich röchelte und schnappte nach Luft. Ein Fluchtweg aus dem Rauch gefüllten, fensterlosen Raum war nicht in Sicht. Ohne zu sehen, wohin mich meine Schritte führten, rannte ich panisch und ziellos mit meinen blutenden Füßen in dem kleinen Raum herum. Ich blieb erst stehen, als mein Kopf hart in etwas hinein prallte. Der Stoss tat fürchterlich weh. Beinahe hätte ich mein Bewusstsein verloren.
Nun ertönte ein bizarrer Laut, der mich an einen reißenden Stofffetzen erinnerte. Ganz in meiner Nähe war durch den harten Aufprall etwas zu Bruch gegangen. Was war gerissen? Unerwartet drang grelles Licht in den dunklen Raum hinein. Glücklicherweise zog der dichte Rauch durch einen neu entstandenen, bizarren Spalt ab. Nach kurzer Zeit bekam ich wieder genügend Luft zum Atmen und erkannte wieder klar und deutlich meine nahe Umgebung. Was ich sah, verwirrte mich! Ich starrte auf einen im Zimmer schwebenden Riss, der von oben nach unten führte. Diese neu entstandene Öffnung sah aus, als wäre sie mit einem dunklen Filzstift, wie in einem billigen Trickfilm, in die Luft skizziert worden. Als ich meinen Kopf drehte, wanderte der bizarre Spalt mit meiner Kopfbewegung mit, während der belanglose Raum dahinter an Ort und Stelle blieb. Ich sah durch den Spalt hinaus in einen neuen Traum.
Meine Gedanken beschäftigten sich immer noch mit der entgangenen Gefahr des qualvollen Erstickungstodes. Meine volle Aufmerksamkeit galt dem lebensrettenden, künstlichen, irrealen Riss, der echtes Sonnenlicht und reine Luft zum Atmen in den kleinen Raum eintreten ließ. Ich realisierte nun, dass ich endlich die Möglichkeit bekam, dieser Enge im Zimmer zu entkommen. Ich habe einen Ausweg gefunden.
Leider war der Spalt zu klein, um mit meinem Körper hindurch zu schlüpfen. Also fasste ich mit meinen Händen in die bizarre Öffnung und versuchte, die beiden künstlich aufgezeichnet wirkenden Risshälften weiter auseinander zu ziehen. Ich hatte erwartet, dass sich die Kanten des Spaltes hart und kalt anfühlen. Jedoch fasste ich auf warme, verformbare Rissenden. Was ich in den Händen hielt, fühlte sich erstaunlicherweise lebendig und vital an. Erst jetzt erkannte ich, in was mein Kopf im Rauch gefüllten Raum hinein gestoßen war und weshalb der entstandene Riss künstlich aufgezeichnet wirkte. Es war mein eigenes Sichtfeld, das aufgerissen vor mir hängte! Deshalb wanderte der Spalt mit den Bewegungen meiner Augen mit. Der Raum hatte sich nicht verändert, sondern meine Sicht der Dinge.
Wie ein großes dehnbares Gummiband ließ sich der Riss in meinem Sichtfeld mit viel Anstrengung auseinander spreizen und vergrößern. Leider musste die entstandene Öffnung stets aufgehalten werden, wenn ich verhindern wollte, dass sie sich mit ihrem Gummiband-Effekt von selbst wieder verschloss.
Um dem öden Zimmer so schnell wie möglich zu entkommen, hielt ich angestrengt mit beiden Händen die getrennten Sichtfeld Hälften so weit wie ich vermochte auseinander. Als die Öffnung genügend groß war für meinen Körper, sprang ich mit einem kraftvollen Schwung durch die aufgehaltene Öffnung. Hinter mir schnellte das nun nicht mehr aufgespannte, gerissene Sichtfeld wieder zusammen und verschloss sich von selbst.
Ich war in einem neuen Traum angekommen.
Die Wüste
Nun war mein leichtes Pyjama in einen schicken, braunen Hosenanzug mit Strohhut verwandelt worden. Meine unverletzten Füße waren in Lederne Sandalen gewickelt. Da ich mich in einem neuen Traum befand, war ich darin auch neu eingekleidet. Mein Körper hatte keine Kratzer und Wunden des vergangenen Traumes mitgebracht. Ich stand gesund und munter auf einer steinigen Ebene und sah in allen Himmelsrichtungen bis zum weiten Horizont Pink. Die orange Sonne ging im Osten auf. Zart erhellte sie die wundervolle Umgebung in meinem neuen Traum. In dieser Wüste hatte es vor kurzem stark geregnet und feine Wassertropfen fielen auch jetzt vom Himmel. Die pinkfarbenen Bigelow-Affenblumen bedeckten mit ihren prachtvollen Blüten die weite Ebene. Ich strich mit meinen Handflächen über das farbige Blütenmeer und schritt bewundernd voran. Eine derart wunderschöne, blühende Ebene hatte ich noch nie gesehen. Einen solch bezaubernden Ort gibt es nur in Träumen! ging mir durch den Kopf. Hier fühlte ich mich sehr wohl. Es war hell und farbig. Diesem Traum schenkte ich meine Aufmerksamkeit gerne. Hier gab es keine Grenzen. Ich konnte gehen, wohin ich wollte. Ich war frei und glücklich.
Dieser lebendige Ort war jedoch starken Veränderungen unterworfen, wie ich erleben durfte. Die Sonne stieg höher bis zum Zenit und es wurde plötzlich sehr heiß. Die pinken Blüten der Bigelow-Affenblumen verwelkten und vielen auf den steinigen Boden. Die Pflanzen zogen sich zurück in die harte Erde. Bald stand ich alleine in einer stillen, leeren Steinwüste und musste schnell einen sonnengeschützten Unterschlupf finden, wenn ich nicht austrocknen wollte. Lange schritt ich auf der Suche nach Schatten umher. Doch es gab keine hohen Felsen und keine Erdlöcher, die mir Schutz vor dem brennenden Sonnenlicht hätten anbieten können. Zudem hatte ich fürchterlich Durst. Leider war das seltene Regenwasser, das für kurze Zeit dieses prachtvolle Blütenmeer hervorgebracht hatte, vollständig verdunstet. Eine Wasserstelle war nicht auffindbar. Erneut erlitt ich große Qualen. Diese Wüste war endlos groß. Auch in diesem Traum fand ich keinen Ausweg, der offensichtlich vor meiner Nase lag. Ich musste zuerst suchen und lernen.
Ich war schrecklich müde. Ich will mich ausruhen und schlafen! sagte jede Zelle in mir. Das darf ich nicht! teilten mir meine Schutzengel mit. Ich wusste, wenn ich mich ausruhen würde, dann würde ich sterben und den Traum verlassen. Was bisher im Traum vorgefallen war, würde nach meinem Erwachen verblassen und geschwind vollständig aus meinem Gedächtnis verschwinden. Dann würde ich nicht mit Hilfe dieses Traumes Verstehen lernen. Ich habe hier eine Aufgabe! wusste ich jetzt. Ich musste weitermachen! Nachdem ich durch mein zerrissenes Sichtfeld aus dem kleinen Zimmer entfliehen konnte, hatte ich nun die Gewissheit, dass mir ebenfalls ein Ausweg aus dieser neuen unangenehmen Situation vorbestimmt war. Ich fand mein Urvertrauen wieder. Ich hielt meine Augen offen und gab dem Drang nach Schlaf nicht nach. Ich war auf jede Veränderung in meiner heißen Umgebung aufmerksam.
Tatsächlich geschah in diesem Augenblick etwas merkwürdiges. Auf dem steinigen Wüstenboden, etwa zwei Meter von mir entfernt, lag ausgestreckt und bewegungslos eine mittelgroße Schlange. Diese hellbraune, giftige Hornviper fixierte mich mit ihren schlitzförmigen Pupillen, als würde sie mich fressen wollen.
Dieses kleine, übermütige Tier überschätzt seine Stärke, wenn es glaubt, es könne sich eine zehnmal größere und stärkere Beute aussuchen, dachte ich schmunzelnd und wollte der selbstsicheren Schlange ausweichen.
Den starrenden, gelben Augen dieses gefährlichen Tieres konnte ich jedoch nicht entfliehen. Als ich bemerkte, dass die harmlos erscheinende Hornviper Macht über mich hatte, bekam ich es mit Angst zu tun. Ich wollte mich zurückziehen und rannte so schnell ich konnte davon. Trotz vielen, weiten Schritten bewegten mich meine Füße keinen Millimeter von der Schlange weg. Ich bleibe im Sichtfeld dieses gefährlichen Tieres gefangen, wurde mir mit einem Schrecken bewusst. Den einzigen Weg, den ich zu gehen vermochte, war näher an die Schlange heran.
Ich hasse Schlangen. Ich finde sie eklig und abstoßend. Und nun war ich in diesem Traum gezwungen, immer näher an eine giftige Hornviper heranzutreten. Zu allem Überfluss blieb die hellbraune Schlange mit ihrem hübschen Muster nicht ein kleines Tier, das ich mit einem Fusstritt hätte verscheuchen können. Nein! Mit jedem Schritt, mit dem ich mich dem gefährlichen Tier näherte, wurde ich selbst kleiner und die Viper größer. Als der Kopf der Schlange eine Größe von 50 cm erreicht hatte, wollte ich mich erneut umdrehen und die Flucht ergreifen. Leider gab es weiterhin keinen Rückweg für mich. Alle Schritte, die mich nicht näher an die Schlange heran brachten, blieben wirkungslos. Ich konnte weder nach rechts, noch nach links und schon gar nicht nach hinten ausweichen. Mein Platz vor der mich fixierenden Schlange blieb strikt bestehen. Ich konnte diesem giftigen Tier nicht entkommen.
Die erbarmungslose Schlange fixierte mich mit ihren schlitzförmigen Pupillen weiterhin und hielt mich mit ihrem Blick gefangen. Ich gebe auf! Die Schlange hat gewonnen! Ich füge mich meinem Schicksal, gestand ich mir ein. Vorsichtig und resigniert trat ich auf die hellbraune, immer noch bewegungslose Hornviper zu und verschloss dabei ängstlich meine Augen. Als ich sie wieder öffnete, blickte ich in die riesigen gespaltenen Pupillen eines 3 Meter großen Schlangenkopfes. Das Tier schien zu lächeln. Das Monster bekam, was es wollte. Es öffnete langsam seinen Mund und da es mein einziger begehbarer Weg war, der mir in diesem Traum vorbestimmt war, lief ich in den riesigen Rachen der Viper hinein. Als ich mich im Schatten unter der immensen Mundöffnung befand, kam es mir vor, als würde ich ein Portal durchschreiten. Über mir tropfte die Speichelflüssigkeit von zwei riesigen Giftzähnen auf mich herunter. Die übergroße Schlange schloss langsam ihren Mund. Eilig schritt ich weiter in den Rachen hinein, um nicht von den Giftzähnen verletzt zu werden. Nun war ich gefangen in einer schleimigen Finsternis.
In diesem dunklen, feuchten Tunnel tastete ich mich vorwärts. Es war sehr heiß. Immer weiter führte mein Weg hinein in den Schlangenkörper. Doch ich landete in keinem tötenden Magen mit Verdauungssäften, wie ich erwartet hatte. Die Tunnelwände verloren nach und nach ihre Lebendigkeit. Schon bald befand ich mich in einem großen, leeren Gang, der aussah wie ein verlassener Strassentunnel. Bläuliches Licht begleitete meinen unbekannten Weg. Die Luft in diesem menschenleeren Tunnel wurde immer kühler. Da meine Beine von Schwäche befallen waren und mir den Dienst versagten, fiel ich Kopf voran auf den harten Steinboden. Der bizarre Gang neigte sich unerwartet abwärts und ich schlitterte, als würde ich mich auf einer steilen Rutsche befinden, bergab auf ein unbekanntes Ziel zu. Immer schneller rutschte ich in die Tiefe. Kraftvoll kam ich in einem neuen Traum an, als ich aus dem Gang katapultiert wurde und ein weiteres Portal durchquerte.
Der Schneesturm
Ich landete auf einem Gras bedeckten, weichen Berghang. In meinem neuen Traum befand ich mich auf einer einsamen, grünen Alp. Liebliche, runde, erdige Hügel voller gelber Löwenzahn Blüten und wenige, auffällige Gesteinsbrocken sichtete ich um mich herum. Die Sonne schien über den vereinzelt herum treibenden Wolken und es roch nach nasser Erde, vermischt mit Gras. Auch hier hatte es vor kurzer Zeit geregnet. Ich war in wasserdichte Wanderausrüstung eingepackt und gute Wanderschuhe umhüllten meine Füße. In diesem neuen Traum landete ich automatisch und unverletzt mit geeigneter, der Umgebung angepasster Kleidung.
Unter mir im weichen Tal glitzernden mehrere, atemberaubend schöne Bergseen. Wie Sterne leuchteten ihre Wasseroberflächen in einem hellen Weiss. Von einer menschlichen Zivilisation waren weit und breit keine Spuren zu sehen. Erneut befand ich mich Menschenseelen alleine in einem lehrreichen Traum. Es störte mich nicht, dass ich keine menschlichen Gesprächspartner hatte, denn ich fühlte mich wohl und behaglich in meiner neuen Umgebung. Es schien mir, als könnte ich mit allem kommunizieren, was um mich herum auf dieser Alp existierte. Die Steine beobachteten und beschützten mich. Die Ameisen bewunderten meine Macht und die Gras-Hälmchen flüsterten mir zu, welchen Weg ich einschlagen sollte. Die runden, Gras bewachsenen Berge summten Lieder für mich und die vereinzelten Wolken spielten mit mir Verstecken.
Leider hatte auch dieser wundervolle Traumort keinen Bestand. Es zog schon bald ein starker, aggressiver, feindlicher Wind auf und klirrende Kälte brach herein. Die kleinen Wolken spielten nicht mehr mit mir. Sie verdichteten sich und verwehrten mir den Blick auf die helle Sonne. Es fing an zu schneien und das Wasser in den vielen kleinen, glitzernden Bergseen im Tal fror ein. Die starren Seen verschwanden schon bald unter einer dicken Schneeschicht.
Ein Schneesturm wirbelte um mich herum. Die kalten Schneeflocken krochen in meine Kleidung und schmolzen auf meiner warmen Haut. Bald war ich trotz guter, wasserdichter Ausrüstung vollständig durchnässt und durchgefroren. Die erbarmungslose Kälte drohte mich langsam und qualvoll zu töten. Ich irrte lange umher, bis ich vergaß, wohin ich eigentlich gehen wollte. Wusste ich einst, wo sich mein Ziel befindet? Gibt es tatsächlich eine Aufgabe in diesem Traum, die ich lösen muss? Weshalb bin ich hier? fragte ich mich und stellte mein Vertrauen in die Traumwelt in Frage. Soll ich all die Qualen in diesem Traum über mich ergehen lassen, ohne zu wissen, ob dies alles einen Sinn hat? Meine Zweifel ließen mich beinahe den schnellen Freitod wählen. Ich stand oberhalb einer senkrechten, steilen Felswand und hatte vor, freiwillig in die Tiefe zu springen. Ohne einen Sinn meiner Existenz zu erkennen, wollte ich diesen Traum so schnell wie möglich verlassen. Mir war es gleichgültig, dass ich das bereits Geträumte schnell vergessen würde und keine Lehre aus diesem Traum ziehen würde, wenn ich nun im Traum sterbe. Ich wollte aufgeben und in meinem eigenen Bett erwachen.
Der Schneesturm lichtete sich ein wenig. Ich stand an der Felskante, bereit in die Tiefe zu springen. Einen letzten Blick auf die Traumwelt, die ich bereit war sogleich zu verlassen und zu vergessen, gewährte ich mir noch. Ich sah hinunter in das ruhige, verschneite, stille Tal und hinauf auf einen kleineren, eisigen, runden Hügelberg über mir. Was ich dort erkannte, hätte ich mir nie vorgestellt! Ich sah durch das Schneetreiben hindurch dich, meinen Leser auf diesem schneeweißen, eisigen Hügel stehen. Du warst tatsächlich dort! Etwa 30 Meter höher den Berg hinauf, erkannte ich klar und deutlich deine dunkle Silhouette vor dem weißen Himmel. Du bist auf dem höchsten Punkt dieses runden Eishügels gestanden und hast dich nicht vom Fleck bewegt. Die kalten Windböen schienen dich kein bisschen zu beeindrucken. Deine Haare wehten um dein Gesicht und deiner männlichen Erscheinung schien das nasse und kalte Schneetreiben nichts anhaben zu können. Aufrecht krönte dein Antlitz die höchste Rundung dieses weißen Berges. Du hast aufmerksam und fasziniert auf deine Füße geschaut und mich nicht wahrgenommen. Was gibt es dort vor deinen Füßen bloß, was dich derart in den Bann zieht? wollte ich unbedingt wissen. Ich habe laut und deutlich nach dir gerufen. Der starke Wind trug jedoch meine Laute von dir weg. Du hast nicht meine erstaunten Blicke gesehen und keine meiner Worte wahrgenommen. Mir schenkst du kein bisschen Beachtung, dachte ich traurig vor dem Abgrund stehend.
Dich in diesem Traum anzutreffen, war für mich Freude und Wut zugleich. Weshalb verfolgst du mich in meinem Traum, obwohl ich geglaubt habe, seit langem mit dir abgeschlossen zu haben? Weshalb erwarte ich von dir, dass du mich wahrnimmst und mir Beachtung schenkst, obwohl viel Zeit verflossen ist, in der wir uns entfremdet haben? Ich hasste dich in diesem Moment, weil ich damals vor langer Zeit hohe Erwartungen und spezifische Vorstellungen was uns beide betrifft hatte und diese mir vorgestellt Zukunft nie real wurde. Ist die Tatsache, dass heute nichts so ist, wie ich erhofft hatte, ein Grund dich zu hassen? Ist es nicht meine unrealistische Voreingenommenheit, die dich zum Gehassten macht? fragte ich mich unschlüssig. Hattest du jemals Schuld, da du nicht so bist, wie ich dich gerne haben möchte?
Ich wollte mit dir darüber sprechen und versuchte, den eisigen Hügel, auf dem du dich aufgehalten hast, zu erklimmen. Langsam entfernte ich mich von der gefährlich steilen Felskante. Den Gedanken freiwillig in die Tiefe zu springen, um aus diesem Traum zu erwachen, verwarf ich sofort.
Vielleicht erfahre ich dennoch, wie es in dir aussieht, wenn ich vor dir stehe, mit dir spreche kann und in deine dunklen Augen schaue! Vielleicht erkennst du, dass ich dir nie schaden wollte? Vielleicht verzeihst du mir mein abweisendes, flüchtendes Verhalten, wenn du verstehst, wie es in meinem Innersten aussieht? Ich dachte an die schönen Gedanken, die du einst mit mir geteilt hast. Ich dachte daran, dass ich mit deiner Hilfe die Welt in einer anderen Sicht hätte betrachten lernen können. Ich dachte an dein Lächeln und an das Gefühl, verstanden zu werden. Ich will mit dir sprechen! Der Wind mit seinen Schneeflocken wollte mir deine Nähe jedoch nicht gestatten. Er wehte mir ins Gesicht und wollte mich daran hindern, den Hügel zu besteigen. Ich kämpfte mit aller Kraft darum, in die Höhe zu dir klettern zu können, ohne von den Windböen weggeweht und in den Abgrund geworfen zu werden. Mein Fingernägel krallte ich in den eisigen Boden. Langsam kroch ich zu dir hinauf auf die Hügelkuppe.
Nun endlich erkannte ich, was deine Faszination derart fesselte. Vor deinen Füssen auf dem höchsten Punkt der Hügelkuppe befand sich ein etwa ein Meter breites, tiefes Eisloch. Dieses war exakt rund, senkrecht und sah künstlich ausgebohrt aus. In dieses eigenartige Loch hast du die ganze Zeit hinein gestarrt. Es ist ein Portal in einen neuen, unbekannten Traum! fiel mir auf. Mit großer Anstrengung hast du versucht herauszufinden, in was für einen neuen Traum dieses faszinierende Portal, das Eisloch im Boden führen wird. Du warst versunken in deinen eigenen Gedanken und hast nichts und niemanden um dich herum wahrgenommen. Das Portal nahm all deine Aufmerksamkeit für sich in Anspruch und deshalb hast du meine Anwesenheit komplett ignoriert. Du bist mit dir selbst beschäftigt, dachte ich traurig. Für mich gab es nie einen Platz in deinem Leben, musste ich enttäuscht hinnehmen.
Kaum bin ich kriechend neben dir angekommen, hast du beschlossen, dieses Portal in einen neuen Traum zu durchschreiten. Ohne mich zu erkennen, bist du mit einem simplen Sprung durch das Eisloch im Boden mit den Füssen voran verschwunden. In Tränen aufgelöst und schrecklich durcheinander über dein Verschwinden hielt ich auf dem Eis kniend den Kopf in das runde Loch hinein und schrie verzweifelt deinen Namen. Wirst du mich nun nie mehr anlächeln? War das Bildnis, das ich von dir hatte, derart falsch, dass es in meinem Traum für immer verschwinden und sich auflösen musste? War es eine Täuschung zu glauben, ich könnte dich kennen und verstehen? Meine Tränen fielen in das runde Eisloch, vor dem ich kniete. Ich weinte nicht um dich! Ich weinte um die verlorene, wunderbare Vorstellung, die ich von dir hatte. Ich weinte darum, dass ich geglaubt hatte, du seist ein aufmerksamer, edler und aufrichtiger Mensch, dem auch ich etwas bedeute. Erst jetzt erkannte ich, dass dieses Bild von dir alleine in meinem Kopf Bestand hatte und es niemals der Realität entsprochen hatte. Unsere Lebenswege haben sich gestreift, doch wir hatten niemals die Gelegenheit gefunden, uns wirklich kennenzulernen. Haben wir dies je einmal gewollt?
Den Kopf nach unten haltend bemerkte ich, dass dieses senkrechte Loch unglaublich tief war, denn ich sah kein Ende. Soll ich dir in dieses Eisloch und somit in einen neuen Traum folgen? Würdest du mir gerne anvertrauen, welchen Traum du für deine Zukunft hast? Möchtest du mir erzählen, was dir wichtig ist und für was du brennst? Besteht immer noch Hoffnung, dass wir offen und ehrlich miteinander sprechen können? fragte mein Herz erwartungsvoll. Mein Verstand widersprach dem Versuch, dir zu folgen und verbot mir, dir hinterher zu springen. Jeder Mensch kann im besten Fall sich selbst nahe sein. Der wahre Kern eines Menschen bleibt einem anderen immer fremd und größtenteils verschlossen.
Der Wind packte mich und warf mich gegen meinen Willen in das tiefe Eisloch. Ich fiel in eine unendliche Tiefe.
Der freie Fall
Bald lösten sich die Eiswände um mich herum auf und ich fiel in eine tiefe, dunkle Leere hinunter. Nichts existierte mehr um mich herum. Ich war komplett nackt. Es war weder kalt noch heiß. Ich sah kein hoffnungsvolles Licht. Ich hörte keine kommunikativen Geräusche. Es roch keineswegs nach Gerüchen. Ich fühlte nichts mehr. Lange Zeit fiel ich, ohne zu bemerken, dass die Zeit ungenutzt verstrich. Dann ertönte unerwartet eine merkwürdige Stimme in meinem Kopf: Breite deine Flügel aus und fliege! befahl sie mir. Wer ist hier? wollte ich wissen. Ich sah weiterhin nichts um mich herum außer vollkommener Finsternis. Niemand war in meiner Nähe angekommen. Ich bin dein Dämon, antwortete mir die unheimliche Stimme in meinem Kopf. Die Zeit rennt dir davon! Beeile dich! Fliege nun! fügte die Stimme im Kopf hastig hinzu. Nun sah ich Bilder von meinem eigenen, vergangenen Leben in meinem Kopf ablaufen. Die kompletten Erinnerungen meines Lebens liefen im Eiltempo vor meinem inneren Auge ab. Ich wurde geboren und lag hilflos in den Armen meiner Mutter. Als Kleinkind ging ich mit meinen unbeholfenen Schritten an der Hand meines Papas. Ich kam in die Schule, hatte Prüfungen und Abschlüsse zu bestehen, lernte einen ausgesuchten Beruf, gründete eine eigene Familie und…
Beeile Dich! Breite endlich deine Flügel aus! schrie mein Dämon in meinem Kopf. Was will diese Stimme von mir? Wie soll ich ohne Flügel fliegen! fragte ich mich verwirrt. Unsicher streckte ich meine Arme aus. Vielleicht verwandeln sich meine Arme in Flügel, erhoffte ich mir. Mein Dämon schrie wütend: Mit deinen Armen kannst du nicht fliegen. Strecke deine weißen Federflügel aus. Du bist ein Engel. Du kannst das. Ich glaube an Dich! Verwirrt überlegte ich: Habe ich all die Jahre nicht bemerkt, dass ich ein Engel bin und fliegen kann? Ich tastete mit meinen Fingern ungläubig meinen nackten Rücken ab. Und tatsächlich fühlte ich das erste Mal in meinem Leben die weißen Federflügel, die aus meinem Rückengrat wuchsen. Unbeholfen faltete ich meine weißen Flügel auseinander. Halte deinen freien Fall auf. Du bist stark! Los! rief mein Dämon in meinem Kopf nervös.
Gleichzeitig mit dem Ertasten meiner Flügel lief in meinem Kopf immer noch mein komplettes, vergangenes Leben in sehr schnellem Tempo an mir vorbei. Ich habe mehrmals meinen Wohnort, meine Arbeitsstelle und meine Partner gewechselt. Meine Kinder wurden langsam erwachsen. Ich erlebte erneut in Eiltempo meine Frust Momente und auch nochmals meine freudigen Erlebnisse, eingebettet in das Alltagsgeschehen. Ich war in der Mitte meines Lebens, im Jetzt angekommen. Es wurde Zeit! Meine nun mit viel Mühe ausgestreckten weißen Federflügel auf meinem Rücken fingen meinen freien Fall endgültig auf. Ich hatte zuerst Schwierigkeiten, nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten und meine Flügel gerade auszustrecken. Doch nach kurzer Übungszeit hatte ich den Dreh raus. Ich kann fliegen! rief ich glücklich in die Stille hinein. Jede Flugrichtung konnte ich mit meinem freien Willen wählen. Ich musste mich nur entscheiden, wohin mein Weg führen sollte. Es war ein wunderbares Gefühl, die Verantwortung für mein Schicksal übernommen zu haben.
Die Dunkelheit bestand jedoch weiter. Gut gemacht! Nun musst du dein drittes Auge öffnen, verlangte mein Dämon von mir. Wie soll das denn gehen? Ich habe nur zwei Augen! rief ich in die Dunkelheit meinem unsichtbaren Dämon zu. Ich verspürte einen kleinen Druck auf meiner Stirn in der Mitte oberhalb meiner zwei Augen. Etwas hat mich berührt. Hat mein Dämon mich angefasst? Hör auf zu denken! Öffne nun dein 3. Auge! Forderte mich die Stimme in meinen Ihren erneut auf. Dank eines bizarren Knistern bemerkte ich, dass auf meiner Stirn ein weiteres Auge im Begriff war, sich zu öffnen. Es war mir jedoch fremd und ich konnte es kaum mit meiner Willenskraft kontrollieren. Ich brauchte ein wenig Zeit, bis ich verstand, dass dieses Auge nicht wirklich zu meinem Körper gehörte. Es öffnete sich zu meiner Verwunderung ganz von alleine.
Nun wurde die Dunkelheit von hellem Licht vertrieben. In weiter Entfernung sah ich einen hübschen Planeten mit einem Mond. Ich flog mit meinen breiten, weißen Federflügel näher an den Planeten heran und bemerkte nun, dass ich unsere Erde vom Weltraum aus betrachteten durfte. Ich sah Wolken, die über der Erdoberfläche wundervolle Muster bildeten. Die große blaugrüne Meeresoberfläche wechselte sich mit hellbraunen oder grünen Landflächen ab. Die Kontinente der Erde waren klar und deutlich zu erkennen. Der Planet kam mir von meinem Aussichtspunkt im Weltraum aus klein, zerbrechlich und zugleich wundervoll lebendig vor. Such dir deinen Platz, an dem du Ruhe findest. forderte mein unsichtbarer Dämon von mir. Wo bist du? Weshalb höre ich deine Stimme in meinem Kopf, aber sehe dich auch mit meinem 3. Auge nicht? wollte ich von meinem Dämon wissen. Die Stimme erklärte mir: Ich verstecke mich vor dir. Ich bin ein scheuer Dämon. Richte dich zuerst an deinem Platz der Ruhe neu ein. Ich verzog unglücklich mein Gesicht. Ich mag es nicht, wenn jemand Neues sich nicht zu erkennen gibt. Doch nackt, wie ich war, wollte ich auch nicht jemandem Fremden gegenüber treten. Mein Dämon schien meine Gedanken zu erraten. Er ergänzte liebevoll: Ich verspreche Dir, mich persönlich an deinem Platz der Ruhe vorzustellen! Dann darfst du mich sehen.
So blieb ich ruhig und geduldig. Ich machte mich auf die Suche nach meinem eigenen Platz, wie mein Dämon es mir empfohlen hatte. Ich segelte hinunter näher heran an die Erdoberfläche und sah genau hin, wo sich mein Platz der Ruhe verstecken könnte. Ich schwebte vorbei an großen, belebten Städten, über stürmische Meere mit einsamen Inseln, über hohe, steinige Berge mit tiefen Tälern und entlang trockener, öden Steppen. Ich bestaunte vergessene Orte, andersartige Menschen und fremde Kulturen. Doch an keinem dieser Orte fühlte ich mich zu Hause. Nirgends fand ich Ruhe. Auch wenn die Fremde noch so faszinierend und abwechslungsreich war; Ich gehörte an keinen dieser Orte. Müde suchte ich weiter und überflog schlussendlich meine vertraute Umgebung, in der ich aufgewachsen war. Dort stach mir eine einsame, von der Zivilisation unberührte Flussbiegung in einem grünen, hellen Wald ins Auge. Der blaue Fluss war wild und der grüne Wald naturbelassen. Die Sonne schien und es war angenehm warm in der Umgebung dieser Flussbiegung. Beim genaueren Betrachten bemerkte ich: Diesen Ort kenne ich bereits! Als Kind habe ich diesen wilden Fluss häufig in meinen Träumen besucht. Ich hatte damals viele glückliche Traummomente unter den ausladenden Weiden am steinigen Flussufer verbracht. Leider habe ich mit dem Erwachsenwerden vergessen, wie ich in diesen Traum zurückfinden kann. Diesen wiedergefundenen Ort muss ich mir genauer ansehen! dachte ich euphorisch.
Ich landete mit den Füßen voran auf einer hellgrünen Grasfläche neben dem wilden Wasser und faltete meine weißen Federflügel sorgsam zusammen. Nun brauchte ich die Flügel nicht mehr, denn ich war am richtigen Ort angekommen. Dies fühlte ich sogleich, als meine Füße diesen besonderen Boden berührten. Die Federflügel verschwanden langsam von meinem Rücken. Ich war unbesorgt. Ich wusste, wenn ich meine Flügel einst wieder brauchen würde, dann wären sie erneut für mich da. Hier an diesem wilden Fluss und unter den großen, weiten Bäumen fühlte ich mich sehr, sehr wohl. Ich erkundete meine bereits bekannte, wiedergefundene Umgebung und erinnerte mich an viele kindliche Traumerlebnisse, die ich vergessen geglaubt hatte. Wie damals als Kind spielte ich erneut voller unschuldigem Elan mit dem wilden Flusswasser. Ich sprach mit den vorbeifliegenden, summenden Hummeln. Ich beschmutzte meinen ganzen, nackten Körper am matschigen Flussufer mit dem weichen Schlamm und ich sang selbst erfundene, lustige Lieder. Als ich müde wurde, bedeckte ich meinen nackten Körper mit großen Pflanzenblätter. Ich legte mich erschöpft mit einem Lächeln im Gesicht auf das weiche, braun grüne Moos unter eine große, ausladende Ulme. Das Flusswasser rauschte gleichmäßig und beruhigend. Ich hörte verschiedene, ausgelassene Vögel zwitschern. Gelbe Grillen zirpen um mich herum und die riesigen, Schatten spendenden Baumblätter über mir raschelten sanft im Wind. Ich hatte meinen eigenen, persönlichen Ort der Ruhe wieder gefunden und war sehr, sehr glücklich, hier verweilen zu dürfen. Ich lag auf dem weichen Moos und schaute durch das grüne Blätterdach in den sonnigen Himmel hinein. Wo ist mein Dämon geblieben? war mein letzter Gedanke, bevor in diesem Traum der Schlaf über mich herfiel.
Das Treffen
Als ich meine Augen schloss und ich mich zwischen dem Schlafzustand und dem Erwachen aufhielt, wartete auf mich das Bild eines schrecklichen, hässlichen Monsters. Dieses unschöne, bizarre Wesen mit einem schwarzen Mund und spitzen Zähnen lächelte mich schräg an. Das verzogene, rote Gesicht mit langen, spitzen Ohren und gelben Kulleraugen befand sich sehr nahe vor meinen Augen. Hier bin ich, wie versprochen, rief dieses Wesen mit seiner schrillen Stimme. Erschrocken fragte ich: Bist du mein Dämon? Das Monster antwortete und spuckte mir dabei fein ins Gesicht. Natürlich! Ich bin dein Dämon! Erkennst du meine Stimme nicht? Mit offenem Mund starrte ich das eigenartige, hässliche Wesen vor mir an. Dieses rümpfte die Nase und meinte eingeschnappt: Was hast du denn erwartet? Gefalle ich dir nicht? Mein Dämon stellte aufdringlich den Kopf schräg und wartete ungeduldig auf meine Antwort. Ich wollte dieses Wesen vor meinen Augen keinesfalls verärgern. Schließlich hatte mein Dämon mich vorhin gerettet, indem er mich ermutigt hatte, meine Flügel auszubreiten. Dank seiner Hilfe bin ich nun hier und falle nicht weiterhin gefühllos in eine unendliche Tiefe. Wer weiss, wie viel von meinem Leben nun bereits vergangen wäre, wenn mein Dämon mich nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, dass ich ein Engel bin und fliegen kann. Ohne das Öffnen meines dritten Auges wäre ich immer noch blind. Vielleicht wäre ich ohne dieses bizarre Wesen nun schon lange tot! Ich hatte also jeden Grund dieses Wesen zu schätzen und zu ehren.
Ich habe mir meinen Dämon, der zu mir gehört, anders vorgestellt, musste ich mir jedoch eingestehen. Dieses Wesen vor meinen Augen war klein, verschrumpelt und glich einem bösen Gnom in einem alten Märchen. Mein Damon sah aus wie eine Jux-Figur oder ein Geisterbahn-Insasse, der Kinder erschreckt. Wenn man dieses Wesen alleine nach seinem Aussehen beurteilen würde, so könnte es von niemandem Respekt und keinerlei Anerkennung erwarten.
Ich dachte, mein eigener Dämon, der ein Teil von mir ist, wäre groß, stark und muskulös. Ich habe mir erhofft, dass mein Dämon schöne, gleichmäßige Gesichtszüge habe und eine interessante, ernst zu nehmende Ausstrahlung besitzen würde. Auf dieses hässliche Wesen vor mir traf allerdings mein Wunschdenken kein bisschen zu. Ich musste erkennen, dass mein inneres Bild dieses Wesens, das ich mir vorgestellt habe, als ich seine Stimme hörte, keinesfalls der Realität entspricht. Die Illusion, dass mein eigener Dämon schön wäre, zerplatzte wie eine Seifenblase. Ich war enttäuscht und antwortete meinem Gegenüber nicht sofort.
Dies war jedoch nicht nötig, denn mein Dämon las all meine Gedanken in meinem Kopf. Schließlich ist er ein Teil von mir, wurde mir bewusst. Er sagte ein wenig beleidigt: Ich bin sehr mächtig. Ich habe zahlreiche Fähigkeiten. Unterschätze mich nicht! Jeder Mensch hat seinen eigenen, zuständigen Dämon. Ich kenne einige Dämonen, die haargenau deiner Vorstellung eines stattlichen, hübschen, muskulösen Wesens gleichen. Diese Dämone haben allerdings nur drei Neuronen im Kopf, sind unbrauchbar und nicht von Bedeutung. Die Menschen, denen sie dienen, bedaure ich. Der kleine, hässliche Dämon vor meinen Augen nahm tief Luft und erklärte mir weiter: Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich dein Dämon bin. Auch wenn ich dir nicht gefalle, wirst du mit der Zeit bestimmt sehr dankbar für meine Dienste sein. Erstaunt fragte ich: Du bist mein Diener? Ich überlegte in Sekundenschnelle, dass dieses kleine, hässliche Wesen vielleicht mehr weiss, als ich annahm. Ich wollte meinen hilfreichen Dämon nutzen und über sein Wissen ausfragen. Der Wind hat mich in einen neuen Traum zu dir meinem Leser geworfen. Das Schicksal hat entschieden, dass wir zwei noch nicht miteinander abgeschlossen haben, dachte ich damals zu verstehen. Hastig schossen die ausformulierten Fragen aus meinem Mund: Lieber Dämon, hast du einen Mann gesehen, der vor mir ebenfalls in die unendliche Tiefe, in diesen Traum gestürzt ist? Wie geht es ihm? Ist er gesund und munter? Hat er seinen freien Fall mit seinen Flügeln stoppen können und sieht er etwas dank seinem 3. Auge? Mein Dämon schaute mich mitfühlend an und schüttelte langsam seinen Kopf. Ich weiss nicht, wie es diesem Menschen geht! Dies hier ist dein Traum und nicht der eines anderen! Ich wurde wütend, denn ich hatte erwartet, dass du und ich uns im gleichen Traum aufhalten. Das Schicksal hätte uns in unseren gemeinsamen Traum werfen können! Ich war enttäuscht, dass dem nicht so war und ich mich alleine in meinem Traum befand. Anscheinend fühlte mein Dämon, dass ich in meinen Gedanken die Hoffnung auf ein mir dir näher bringendes Gespräch nicht aufgeben wollte. Ich konnte dich, meinen Leser in diesem Moment noch nicht loslassen. Das hässliche, kleine Wesen vor mir sah mich ruhig an und meinte sanft: Du hältst dich in deinem bedeutendsten Traum, in deinem Traum des Lebens auf. Unterschätze diesen Traum nicht! Er ist sehr mächtig. Ich schaute meinen Dämon mit grossen Augen an. Ich sagte trotzig: Ohne ihn, meinen Vermissten ist dieser Traum wertlos und ich kann den Traum getrost vergessen. Dieser Mensch ist mir sehr wichtig? Er muss hier sein! Ich will, dass er hier ist! Weshalb kann ich diesen Mann hier nicht antreffen? Mein Dämon hielt den Kopf schräg und erklärte mir immer noch geduldig: Hier gibt es keinen Platz für Luftschlösser. Dieser Mann ist nicht so, wie du ihn zu kennen glaubst. Ich fing im Traum an zu weinen, denn diese Aussage schmerzte mich. Ich habe geglaubt dich zu kennen. Mein hässlicher, netter Dämon sprach weiter und schimpfte ein wenig mit mir: Hier in diesem Traum ist kein Ort für Befehle und Urteile. Du kannst diesen Mann nicht hierher zaubern. Hier ist alles, wie es ist. Es ist der wahrste aller Träume. Mit deinem 3. Auge solltest du sehen, dass hier egoistische Ziele keine Bedeutung mehr haben. Bedürfnisse und Erwartungen findest du hier nicht. Nimm an, was dir das Leben zu zeigen bereit ist, lasse deine starren Erwartungen los und sei dankbar für das, was auf dich zukommt! Ich schaute unsicher auf den Boden. Ich verspürte eine Leere in mir. Muss ich mich, wie in einem Fluss treiben lassen und habe ich keinen Einfluss, wohin ich geführt werde? Ich fühlte mich unwohl. Ich hatte kein großes Selbstvertrauen in diesem Augenblick und ich empfand mich als unwichtig und unvollständig. Habe ich ein Mitspracherecht in meinem Leben oder muss ich alles ohne Einfluss über mich ergehen lassen? Erneut verstand mich mein Dämon, der ein Teil von mir ist, ganz genau. Er hatte die Absicht, mich aus meinen grübelnden Gefühlen heraus zu holen und wollte mich stärken. Er erzählte eindrucksvoll: Hier in diesem Traum an deinem Platz der Ruhe bist du, so wie du bist, immer willkommen. Du musst niemandem etwas beweisen. Du brauchst keinen Menschen zu beeindrucken. Dein Ansehen musst du dir nicht erkämpfen. Du darfst Fehler machen und musst keine Angst haben vor Bestrafung oder Missgunst. Du brauchst dich niemals zu verstellen. Hier darfst du denken und sagen, was du willst. Niemand wird über dich richten. Du bist hier dich selbst und du bist jederzeit frei. Ich schenkte den Worten meines Dämons kaum Beachtung. Dieser Ort gefällt mir nicht! log ich. Ohne diesen Mann erscheint mir sogar mein Platz der Ruhe mit all seinen Besonderheiten als wertlos! Warf ich dem kleinen, hässlichen Wesen ins Gesicht. Du lügst! Und du verleugnest dein natürliches Selbst. Glaubst du nicht gut genug zu sein, so wie du bist? Brauchst du einen anderen Menschen, um wertvoll zu sein? Hier an deinem Platz der Ruhe hast du alles, was du für ein gutes Leben brauchst, sagte mein Dämon ernst. Ich wollte mir in diesem Traum diese gestellten Fragen nicht beantworten. Ich wollte nicht der Tatsache ins Auge schauen, dass ich dich nicht brauche, um zu leben. Ich fühlte mich von den Worten meines Dämons bedrängt und vor den Kopf gestossen.
Er sieht nicht ein, dass du mein Leser mir wichtig bist! Habe ich nicht die Macht mein Leben nach meinem Willen zu gestalten! Ich wünsche mir ein Leben mit dem Menschen, den ich hier nicht finden kann, rief ich meinem Dämon wütend zu. Du kannst nicht selbst bestimmen, was dir das Leben bereithalten soll. Das Leben macht das, was für dich am besten ist und erfüllt dir nicht all deine Wünsche, erklärte mein geduldiger, kleiner Dämon immer noch ruhig und gelassen. Ich hatte allerdings meine Gelassenheit längst verloren. Ich schrie erregt: Ich habe den Wert, den ich mir selbst gebe. Ich sehe die Welt, die ich sehen will und ich fühle die Gefühle, die ich mir zugestehen will. Mein Leben liegt in meinen Händen! Mein Dämon entgegnete mir mit zusammengedrückten Augen: Du kannst die Verantwortung für dein Handeln, für deine Wortwahl und für deine Stimmung übernehmen. Aber nur selten werden deine Lebenspläne so ausgeführt, wie du es dir vorstellt hast. Zudem haben weitere Menschen andere Pläne. Hast du diesen Mann, deinen Vermissten je einmal gefragt, wie er sich seine Zukunft vorstellt? Kennst du seine Wünsche? Weisst du, was ihm wichtig ist?Kennst du seine Lieblingsfarbe oder weisst du, was nicht gerne isst? Kennst du seine Träume? Du weisst nichts über ihn! Ich überlegte und fragte mich in diesem Traum zum ersten Mal: Kenne ich dich mein Leser? Bin ich bereit dir zuzuhören? Weiss ich, dass du nicht immer die gleichen Meinung haben wirst, wie ich? Respektiere und achte ich dich, obwohl ich erkannt habe, dass du keineswegs perfekt sein kannst?
Ich hielt inne und sagte nichts mehr. Mein Dämon bemerkte, dass ich anfing dich, meinen Leser als echten, wahren, selbstbestimmten Menschen wahrzunehmen und nicht mehr als meine Erweiterung. Meine unrealistische, eingebildete Vorstellung von dir, zerplatze in der Luft. Mein kleiner, hässliche Dämon beobachtete mich. Zustimmend nickte das keine hässlichen Wesen vor meinen Augen. Wenn du mich brauchst, bin ich für dich da, versprach es mir mit einem schräg lachenden Gesicht. Dann war mein Dämon verschwunden und ich erwachte.
Als ich meine Augen öffnete, lag ich in meinem eigenen, flauschigen Bett in meiner Wohnung. Es war Morgen und ein neuer Tag begann. Ich erinnerte mich deutlich an jede Einzelheit des Geträumten. All das Vorgefallene in meinen vergangenen Träumen blieb in meinem Gedächtnis haften, sodass ich dann die Gabe hatte, diesen Text zu schreiben.
Heute bin ich nicht mehr der gleiche Mensch, der gestern zu Bett ging, denn meine Träume dieser Nacht haben mich verändert. Heute denke ich anders.