H
HFleiss
Gast
November
Es war Herbst geworden, November. November des Jahres 2005. Noch lag nasses, verfärbtes Laub in den Straßen, kühl wehte mir der Wind in den Anorak. Auf die Straße ging ich jetzt nur noch zum Einkaufen. Auch abends blieb ich gegen meine Gewohnheit zu Hause, versuchte dem Fernseher irgendeine halbwegs zumutbare Sendung zu entreißen, gab es dann jedesmal auf. Ich ging früh zu Bett in diesen Novembertagen, der Schlaf vor Mitternacht ist immer noch der gesündeste.
An einem dieser verregneten Morgen, in meinem Briefkasten steckte die Bezirkszeitung, ein Vierseitenblättchen, ein paar Artikel aus der Region, zwei Seiten Annoncen, eine Seite Veranstaltungen im Kiez, stutzte ich: eine Lesung aus den Memoiren eines Stasihäftlings. Ganz in meiner Nähe, im Nachbarschaftshaus um die Ecke, heute abend. Und der Autor: Jörg P.
Jörg. Ich hatte ihn seit Jahren aus den Augen verloren. Ein Kollege aus meiner Redaktion, damals, als es sie noch gab, Anfang der achtziger Jahre. Jung war er damals, erst ein Jahr weg von der Journalistenschule in Leipzig, gerade Vater geworden. Die Gewerkschaft hatte ihm eine Wohnung verschafft in einem der neuen Wohngebiete. Heute werden sie abschätzig Plattenbauten genannt, damals war es wie ein Fünfer im Lotto. Mit Balkon und fließend Warmwasser! Einen ganzen Tag lang schwärmte er mir vor, wie er sie einrichten würde: mit Sperrmüllmöbeln und Postern an den Wänden, bloß keine Schrankwand! „Na, wenn das deiner Frau gefällt“, sagte ich und griente. Das Grienen hatte er mir ein bisschen übelgenommen.
Eines Tages erschien er nicht zum Dienst. Dafür tauchten zwei Männer auf, die wir nicht kannten, die beiden kamen vom Ministerium für Staatssicherheit. Ich war Redaktionssekretärin und führte sie ins Chefzimmer, wo sie ein paar Minuten allein herumsaßen, bis mein Chef Horst erschien. Hastig riss er die Tür auf und schloss sie hinter sich, ich hatte den Eindruck, er würde sie verrammeln. Ich setzte mich an meine Schreibmaschine und begann zu tippen, sie sollten nicht denken, ich würde sie belauschen.
In der Redaktionssitzung erfuhren wir, warum Jörg heute nicht gekommen war. Er war festgenommen worden, irgendeine Sache, über die es nicht angebracht war zu sprechen, politisch, sagte Horst. Jörg habe ihn zutiefst enttäuscht. In der Parteigruppe könne man, soweit es die Umstände zuließen, Näheres besprechen. Das war alles, was er von sich gab.
Ich war als einzige in der Redaktion nicht in der Partei. Trotzdem erfuhr ich damals, weshalb Jörg festgenommen worden war: Er hatte sich auffällig an der Grenze herumgedrückt. Die Grenze war für uns Normalsterbliche nicht existent, als DDR-Bürger konnte man sie, wenn man einen günstigen Aussichtspunkt erwischte, von weitem sehen. Näher heranzugehen schien nicht ratsam. Im Grunde hatte ich sie vor der Maueröffnung nie gesehen. Heute frage ich mich, wie ich das so lange ausgehalten hatte: die Mauer, das Damoklesschwert zwischen Ost und West, und ich hatte sie vor dem 9. November 89 nur im Westfernsehen gesehen, niemals live.
Heute abend würde Jörg im Nachbarschaftshaus lesen. Memoiren hatte er also geschrieben. Ich freute mich, einen alten Kumpel wiederzutreffen. Aber ich hatte Manschetten: Wie würde er jetzt, nach so vielen Jahren sein? Würde ich ihn überhaupt wiedererkennen? Und er mich? Wollte er mich, eine von seiner Redaktion, überhaupt wiedertreffen? Und ich hatte Angst, dass er zu sehr verändert war, einer von den Leuten geworden war, mit denen ich nichts zu tun haben wollte. Diese Leute spuckten Gift und Galle, stöhnten in der Presse und im Fernsehen überall herum, wie sehr sie doch in der DDR gelitten hatten, und den Politikern, egal, ob von einer Westpartei oder sogar neuerdings der PDS, gefiel das. Nein, mit solchen Leuten wollte ich nichts zu tun haben, sie kassierten für das, was ihnen tatsächlich oder angeblich im DDR-Unrechtsregime widerfahren war. Im stillen feixten sie über die Blödheit der antikommunistisch fixierten Westpolitiker, denen an allem gelegen war, was gegen die DDR ging. Im Grunde also auch gegen mich, denn ich hatte in der DDR gelebt, gar nicht so schlecht, und ich hatte - je mehr Zeit verstrich, wurde ich mir darüber klar - gern in der DDR gelebt. Das sollte mir peinlich sein, Ostalgie nennen sie das heute in den Medien. Jedenfalls hatte ich lieber in der DDR gelebt als jetzt, in der wiedervereinigten Bundesrepublik. Kein Wunder: Mit meiner Minirente! Fünfunddreißig Jahre ununterbrochen gearbeitet, und jetzt dieses Almosen. So viel, dass ich nicht verhungerte und meine Abgaben bezahlen konnte, aber schon ein Zeitungsabonnement war nicht mehr drin. Erst recht nicht eine Reise. Für die wir ja angeblich, auch, unsere Bananenrevolution 89 gemacht hatten. Mein Internetzugang gar war unzulässiger Luxus, dafür sparte ich am Essen und mied alles, was Geld kostete. Hegel und Marx hatten recht: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Aber nicht nur.
Ich hatte mich wegen des Wetters angepummelt. Jörg kannte mich als sehr schlanke Frau in den besten Jahren, und nun würde ich vor ihn treten, fünfundzwanzig Jahre älter, eine Seniorin, wie Rentner heute beschönigend genannt werden, Falten im Gesicht und raus aus der Arbeit. Auch raus aus seinen Erinnerungen?
Der Raum war nicht allzu groß, es roch nach dem Zeug, mit dem sie heute die Fußböden bearbeiten, parfümig, und nach feuchten Klamotten, die an der Eingangstür am Ständer hingen. Viele Leute waren es nicht, die schon auf den Stühlen saßen, die, wie Soldaten ausgerichtet, wie es sich eben gehörte bei einer Veranstaltung, schon mit einem Zettel belegt waren: Werbung für Jörgs Buch, eigenhändig am Computer geschrieben.
Er kam. Ein Mann mit verschämten Bierbauch in den Vierzigern, schütterem blondem Haar, in Norwegerpullover und Jeans. Er setzte sich, ohne hochzublicken, hinter seinen Tisch vorm Fenster, auf dem ein Stapel seines Buches lag, und begann nach der Begrüßung mit fremder Altherrenstimme zu lesen. Er hatte ein paar Kapitel ausgewählt: das, in dem er von seinem ersten Tag im Knast erzählte, ein paar Unterhaltungen mit Mithäftlingen. Und dann, wie er gefoltert wurde. Mit Wasser und Strom, und wie sie ihn psychisch fertig gemacht hatten und dass sich seine Frau hatte scheiden lassen. Er differenzierte nicht, für ihn waren alle Vernehmer Stasi-Bestien, die mit den abgefeimtesten Methoden alles, was sie wissen wollten, aus ihm herausgequetscht hatten. Die Leute stöhnten auf, als er beschrieb, wie sie die Elektroden an seine Hoden ansetzten und wie er mit den Füßen im Wasser stand. Ein Mann, schon älter, war aufgesprungen und fuchtelte mit den Armen herum. „Schweine! Schweine! Wenn ich erst mal meine Memoiren schreibe!“, schrie er, hochrot im Gesicht. Die Wellen der Sympathie fluteten Jörg zu. Wie warmer Milchbrei von Müller, dachte ich. Wenn Jörg bloß nicht daran erstickte.
Der Raum hatte sich ziemlich gefüllt, nur ein paar Stühle in der hinteren Reihe waren leer geblieben. Die Leute wogten vor Empörung auf ihren Stühlen. Ich sah mich um, nach hinten. Ein paar Gesichter, vor allem von älteren Frauen, verzerrt, hochrot.
Ich blieb misstrauisch: Die Geschichte mit der Folterung hatte sich Jörg ausgedacht. Oder abgeschrieben. Mir war, als hätte ich sie schon mal gelesen. Damals, als die ersten Berichte aus Chile kamen, nach dem Putsch gegen Allende. Das waren, hatte man uns gesagt, CIA-Methoden, um Geständnisse herauszuholen. Und die Stasi, der ich so ziemlich alles zutraute, war also nicht besser als die CIA? Nun ja, auch die Stasi, Schild und Schwert der Partei, der Avantgarde der Arbeiterklasse, hatte mit verbrecherischen Geheimdienstmethoden gearbeitet. Doch, schon vorstellbar. Warum sollte Jörg Märchen erzählen?
Die Lesung war zu Ende. Jörg fragte, ob wir Fragen hätten. Ein paar Männer, nahe der Siebzig, hatten keine Fragen, aber sie gaben Statements ab: Dass sie froh wären, dass das nun alles hinter uns lag, und wie sehr ihnen Jörg leid tat. Eine Frau, deren Mann bei der Stasi gearbeitet hatte, outete sie sich, pflichtete den anderen bei: Ihr habe es auch nicht gefallen, dass ihr geschiedener Mann beim Geheimdienst gearbeitet hätte, und immer wollte sie, dass er was anderes gemacht hätte. Aber es sei alles noch viel schlimmer gewesen, ihr Mann habe da einiges kucken lassen. Blass vor Aufregung setzte sie sich, und alle klatschten Beifall, irgendwie mitleidig.
Jörg wollte nach dem Buchverkauf gehen. Am Kleiderständer stand ich dann neben ihm. „Jörg? Kennst du mich noch?“
Er blinzelte. Er hatte jetzt keine Brille mehr auf. „Nee, sollte ich?“
„Na ich, Hanna, von der Redaktion, euer gutes Stück, wie ihr immer gesagt habt. Ich bin doch damals Sekretärin gewesen, damals, als du ...“
Es dämmerte bei ihm. „Ach du! Die Hanna! Na kiek mal, hätte dich ja kaum wiedererkannt! Mensch! Ist aber lange her.“ Er musterte mich von Kopf bis Fuß. „Bist älter geworden, Hanna.“
„Du nicht?“
„Doch, schon. Gehen wir einen Kaffee trinken?“
Es war eher ein Stehcafé, in das mich Jörg führte, als ein richtiges Café. Ein paar Tische und Stühle, beinahe keine Gäste, ein hochbeschäftigter Thekenmann.
Unser Gespräch kam nicht in Gang. Der Kaffee schmeckte wie damals unser Kantinenkaffee. Ich sagte es Jörg. Er lachte. „Kannst recht haben.“
„Sag mal, Jörg“, ich wollte auf sein Buch kommen, auf die Foltergeschichte, sie ließ mir keine Ruhe, „stimmt das eigentlich? Das, Jörg, was du schreibst, ich meine, das mit der Folter und dass die Stasi genauso schlimm war wie die CIA?“
Er grinste. „Du verrätst mich doch nicht? Also, das mit der Folter ist so eine Sache. Ich selbst bin nicht gefoltert worden. Aber ich kenne da ein paar Leute, die sind, echt, die sind wirklich gefoltert worden. Aber die schreiben eben keine Memoiren. Und sie haben mich gebeten, ein Kapitel dazu zu schreiben. Wir müssen zusammenhalten. So ist das.“
„Also hat die Stasi gefoltert?“
„Genau kann ich es nicht sagen, jedenfalls nicht als Augenzeuge. Aber die Leute waren glaubwürdig. Sie haben mir ihre Narben gezeigt.“
„Hm. Hätte ich aber nicht gemacht. Ich meine, dass ich das als Erlebnisbericht geschrieben hätte, Jörg."
„Na, du schreibst ja auch nicht!“ Er war wütend geworden. Ich musste ihn wieder runterholen, wenn ich Gewissheit über die Folter haben wollte.
„Doch, ich schreibe. Neuerdings. Seit ich so viel Zeit habe. Geschichten und so.“
„Na, dann weißt du ja, wie schwer es ist mit der Wahrheit. Wenn man Memoiren schreibt. Du hast doch bestimmt auch Memoiren geschrieben?“
„Ja, ein paar Kapitel. Bin aber erst bei der Kindheit.“
„Und die DDR sparst du aus!“
„Nein. Ich werde das schreiben, an das ich mich erinnere. Hatte ja kein Tagebuch geführt. Kann also schon passieren, dass ich was auslasse.“
„Tagebuch! Du spinnst ja! Wenn ich Tagebuch geführt hätte, hätten sie mir mehr als die vier Jahre Bautzen II aufgedrückt!“
Wir tranken unseren Kaffee aus. Jörg wollte gehen. Er stand schon. „Schön, dich mal wiedergesehen zu haben.“
„Jörg, bevor du gehst – ich kann ja verstehen, dass du noch immer in Brass bist, war bestimmt kein Zuckerschlecken -, Jörg, sag mir, ich muss es wissen: Was ist dran an der Folterei bei der Stasi!“
Jörg setzte sich wieder. „Also gut, weil du es bist. Also, wie schon gesagt, die Stasi hat gefoltert. Die haben da bestimmte Ecken gehabt, die Leute wurden da hingekarrt, irgendwelche Kaffs auf dem Land. Schreib ich doch in meinem Buch, nicht aus dem kleinen Finger gezuzzelt. Und wenn sie wiederkamen, haben sie nichts verlauten lassen. Die Leute, mein ich. Und als sich rumgesprochen hatte, dass ich über Bautzen schreibe, sind sie gekommen. Die, die ich noch kannte. Die hatten sich damals nicht getraut, ist doch verständlich. Erst jetzt rücken sie raus mit der Sprache.“
„Früher hast du nichts vom Hörensagen geglaubt. Du wärst ein guter Journalist geworden, Jörg.“
„Hat sich was mit Journalist. Alles Mögliche habe ich gemacht nach der Entlassung, sogar Pförtner. Berlin-Verbot. Ich sage nur: Prenzlau. Dieses miese kleine Prenzlau mit den netten Vorgärten.“
„Du schreibst, sie haben dich wegen Spionage eingebuchtet. Hätte ich nicht vermutet, ich kannte dich doch. Glaubte ich jedenfalls.“
„Hach, diese alten Geschichten, Hanna. Ich sag dir, wie es war: Mich haben auf einer Dienstreise ein paar Leute angesprochen, zwei Männer, damals. Westtypen. Haben sich nicht vorgestellt. Ob ich ein bisschen Westgeld verdienen wollte. Klar, wollte ich. Ein paar Artikel, nicht ganz auf Linie, Horst, der Döskopp, hätte das überhaupt bemerkt. Dachte ich. Und dann sollte ich so dicht wie möglich an die Mauer rankommen, mich ein bisschen umsehen. Das war alles.“
„Und? Hast du’s gemacht?“
„Einen Artikel, und den hat Horst dann in den Papierkorb geschmissen und mich aufgeklärt über die DDR-Politik. Die internationale Bedrohung und der amerikanische militärisch-industrielle Komplex und so. Du weißt doch, wie väterlich der einem ins Gewissen reden konnte. An der Mauer haben sie mich gekriegt. Und dann Bautzen II. Mehr sag ich nicht.“
„Brauchst du auch nicht. Kann mir einiges vorstellen. Was wolltest du übrigens mit dem Westgeld? Weißt du noch, wie Christa rumgeeiert hatte: Warum sie ihr Gehalt nicht zur Hälfte in West kriegt? Die war bis zum Schluss dabei, bis sie uns auflösten. Hat ziemlichen Blödsinn gequatscht.“
„Haben ja wohl so einige. Ich lese Zeitung. Manchmal, du glaubst es kaum, findest du einen Namen. Einen von früher. Wendemanöver. Drum links, zwei, drei, wo dein Platz, Genosse ist ... Westgeld? Hab nie welches gesehen, wenn du es genau wissen willst. Was schon? Einkaufen. Im Intershop. Wo sonst. Ein paar Bücher durchschleusen. Wollte ja die DDR nicht umstülpen.“ Er grinste. Wie damals. Jetzt erst erkannte ich ihn wieder.
„Nein, wolltest du nicht. Aber es ist spät.“
Er gab mir die Hand. „Sorge dich nicht und trink Coca-Cola. Wird schon schiefgehen. Ich meine, alles, das hier.“
„Du meinst: Jetzt, wo wir Westen sind?“
„Na ja.“
Auf der Straße war es noch windiger als am Tage geworden, ich glitschte über nasses Laub. Der Winter würde kalt werden. Verdammt kalt.
(2006)
Es war Herbst geworden, November. November des Jahres 2005. Noch lag nasses, verfärbtes Laub in den Straßen, kühl wehte mir der Wind in den Anorak. Auf die Straße ging ich jetzt nur noch zum Einkaufen. Auch abends blieb ich gegen meine Gewohnheit zu Hause, versuchte dem Fernseher irgendeine halbwegs zumutbare Sendung zu entreißen, gab es dann jedesmal auf. Ich ging früh zu Bett in diesen Novembertagen, der Schlaf vor Mitternacht ist immer noch der gesündeste.
An einem dieser verregneten Morgen, in meinem Briefkasten steckte die Bezirkszeitung, ein Vierseitenblättchen, ein paar Artikel aus der Region, zwei Seiten Annoncen, eine Seite Veranstaltungen im Kiez, stutzte ich: eine Lesung aus den Memoiren eines Stasihäftlings. Ganz in meiner Nähe, im Nachbarschaftshaus um die Ecke, heute abend. Und der Autor: Jörg P.
Jörg. Ich hatte ihn seit Jahren aus den Augen verloren. Ein Kollege aus meiner Redaktion, damals, als es sie noch gab, Anfang der achtziger Jahre. Jung war er damals, erst ein Jahr weg von der Journalistenschule in Leipzig, gerade Vater geworden. Die Gewerkschaft hatte ihm eine Wohnung verschafft in einem der neuen Wohngebiete. Heute werden sie abschätzig Plattenbauten genannt, damals war es wie ein Fünfer im Lotto. Mit Balkon und fließend Warmwasser! Einen ganzen Tag lang schwärmte er mir vor, wie er sie einrichten würde: mit Sperrmüllmöbeln und Postern an den Wänden, bloß keine Schrankwand! „Na, wenn das deiner Frau gefällt“, sagte ich und griente. Das Grienen hatte er mir ein bisschen übelgenommen.
Eines Tages erschien er nicht zum Dienst. Dafür tauchten zwei Männer auf, die wir nicht kannten, die beiden kamen vom Ministerium für Staatssicherheit. Ich war Redaktionssekretärin und führte sie ins Chefzimmer, wo sie ein paar Minuten allein herumsaßen, bis mein Chef Horst erschien. Hastig riss er die Tür auf und schloss sie hinter sich, ich hatte den Eindruck, er würde sie verrammeln. Ich setzte mich an meine Schreibmaschine und begann zu tippen, sie sollten nicht denken, ich würde sie belauschen.
In der Redaktionssitzung erfuhren wir, warum Jörg heute nicht gekommen war. Er war festgenommen worden, irgendeine Sache, über die es nicht angebracht war zu sprechen, politisch, sagte Horst. Jörg habe ihn zutiefst enttäuscht. In der Parteigruppe könne man, soweit es die Umstände zuließen, Näheres besprechen. Das war alles, was er von sich gab.
Ich war als einzige in der Redaktion nicht in der Partei. Trotzdem erfuhr ich damals, weshalb Jörg festgenommen worden war: Er hatte sich auffällig an der Grenze herumgedrückt. Die Grenze war für uns Normalsterbliche nicht existent, als DDR-Bürger konnte man sie, wenn man einen günstigen Aussichtspunkt erwischte, von weitem sehen. Näher heranzugehen schien nicht ratsam. Im Grunde hatte ich sie vor der Maueröffnung nie gesehen. Heute frage ich mich, wie ich das so lange ausgehalten hatte: die Mauer, das Damoklesschwert zwischen Ost und West, und ich hatte sie vor dem 9. November 89 nur im Westfernsehen gesehen, niemals live.
Heute abend würde Jörg im Nachbarschaftshaus lesen. Memoiren hatte er also geschrieben. Ich freute mich, einen alten Kumpel wiederzutreffen. Aber ich hatte Manschetten: Wie würde er jetzt, nach so vielen Jahren sein? Würde ich ihn überhaupt wiedererkennen? Und er mich? Wollte er mich, eine von seiner Redaktion, überhaupt wiedertreffen? Und ich hatte Angst, dass er zu sehr verändert war, einer von den Leuten geworden war, mit denen ich nichts zu tun haben wollte. Diese Leute spuckten Gift und Galle, stöhnten in der Presse und im Fernsehen überall herum, wie sehr sie doch in der DDR gelitten hatten, und den Politikern, egal, ob von einer Westpartei oder sogar neuerdings der PDS, gefiel das. Nein, mit solchen Leuten wollte ich nichts zu tun haben, sie kassierten für das, was ihnen tatsächlich oder angeblich im DDR-Unrechtsregime widerfahren war. Im stillen feixten sie über die Blödheit der antikommunistisch fixierten Westpolitiker, denen an allem gelegen war, was gegen die DDR ging. Im Grunde also auch gegen mich, denn ich hatte in der DDR gelebt, gar nicht so schlecht, und ich hatte - je mehr Zeit verstrich, wurde ich mir darüber klar - gern in der DDR gelebt. Das sollte mir peinlich sein, Ostalgie nennen sie das heute in den Medien. Jedenfalls hatte ich lieber in der DDR gelebt als jetzt, in der wiedervereinigten Bundesrepublik. Kein Wunder: Mit meiner Minirente! Fünfunddreißig Jahre ununterbrochen gearbeitet, und jetzt dieses Almosen. So viel, dass ich nicht verhungerte und meine Abgaben bezahlen konnte, aber schon ein Zeitungsabonnement war nicht mehr drin. Erst recht nicht eine Reise. Für die wir ja angeblich, auch, unsere Bananenrevolution 89 gemacht hatten. Mein Internetzugang gar war unzulässiger Luxus, dafür sparte ich am Essen und mied alles, was Geld kostete. Hegel und Marx hatten recht: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Aber nicht nur.
Ich hatte mich wegen des Wetters angepummelt. Jörg kannte mich als sehr schlanke Frau in den besten Jahren, und nun würde ich vor ihn treten, fünfundzwanzig Jahre älter, eine Seniorin, wie Rentner heute beschönigend genannt werden, Falten im Gesicht und raus aus der Arbeit. Auch raus aus seinen Erinnerungen?
Der Raum war nicht allzu groß, es roch nach dem Zeug, mit dem sie heute die Fußböden bearbeiten, parfümig, und nach feuchten Klamotten, die an der Eingangstür am Ständer hingen. Viele Leute waren es nicht, die schon auf den Stühlen saßen, die, wie Soldaten ausgerichtet, wie es sich eben gehörte bei einer Veranstaltung, schon mit einem Zettel belegt waren: Werbung für Jörgs Buch, eigenhändig am Computer geschrieben.
Er kam. Ein Mann mit verschämten Bierbauch in den Vierzigern, schütterem blondem Haar, in Norwegerpullover und Jeans. Er setzte sich, ohne hochzublicken, hinter seinen Tisch vorm Fenster, auf dem ein Stapel seines Buches lag, und begann nach der Begrüßung mit fremder Altherrenstimme zu lesen. Er hatte ein paar Kapitel ausgewählt: das, in dem er von seinem ersten Tag im Knast erzählte, ein paar Unterhaltungen mit Mithäftlingen. Und dann, wie er gefoltert wurde. Mit Wasser und Strom, und wie sie ihn psychisch fertig gemacht hatten und dass sich seine Frau hatte scheiden lassen. Er differenzierte nicht, für ihn waren alle Vernehmer Stasi-Bestien, die mit den abgefeimtesten Methoden alles, was sie wissen wollten, aus ihm herausgequetscht hatten. Die Leute stöhnten auf, als er beschrieb, wie sie die Elektroden an seine Hoden ansetzten und wie er mit den Füßen im Wasser stand. Ein Mann, schon älter, war aufgesprungen und fuchtelte mit den Armen herum. „Schweine! Schweine! Wenn ich erst mal meine Memoiren schreibe!“, schrie er, hochrot im Gesicht. Die Wellen der Sympathie fluteten Jörg zu. Wie warmer Milchbrei von Müller, dachte ich. Wenn Jörg bloß nicht daran erstickte.
Der Raum hatte sich ziemlich gefüllt, nur ein paar Stühle in der hinteren Reihe waren leer geblieben. Die Leute wogten vor Empörung auf ihren Stühlen. Ich sah mich um, nach hinten. Ein paar Gesichter, vor allem von älteren Frauen, verzerrt, hochrot.
Ich blieb misstrauisch: Die Geschichte mit der Folterung hatte sich Jörg ausgedacht. Oder abgeschrieben. Mir war, als hätte ich sie schon mal gelesen. Damals, als die ersten Berichte aus Chile kamen, nach dem Putsch gegen Allende. Das waren, hatte man uns gesagt, CIA-Methoden, um Geständnisse herauszuholen. Und die Stasi, der ich so ziemlich alles zutraute, war also nicht besser als die CIA? Nun ja, auch die Stasi, Schild und Schwert der Partei, der Avantgarde der Arbeiterklasse, hatte mit verbrecherischen Geheimdienstmethoden gearbeitet. Doch, schon vorstellbar. Warum sollte Jörg Märchen erzählen?
Die Lesung war zu Ende. Jörg fragte, ob wir Fragen hätten. Ein paar Männer, nahe der Siebzig, hatten keine Fragen, aber sie gaben Statements ab: Dass sie froh wären, dass das nun alles hinter uns lag, und wie sehr ihnen Jörg leid tat. Eine Frau, deren Mann bei der Stasi gearbeitet hatte, outete sie sich, pflichtete den anderen bei: Ihr habe es auch nicht gefallen, dass ihr geschiedener Mann beim Geheimdienst gearbeitet hätte, und immer wollte sie, dass er was anderes gemacht hätte. Aber es sei alles noch viel schlimmer gewesen, ihr Mann habe da einiges kucken lassen. Blass vor Aufregung setzte sie sich, und alle klatschten Beifall, irgendwie mitleidig.
Jörg wollte nach dem Buchverkauf gehen. Am Kleiderständer stand ich dann neben ihm. „Jörg? Kennst du mich noch?“
Er blinzelte. Er hatte jetzt keine Brille mehr auf. „Nee, sollte ich?“
„Na ich, Hanna, von der Redaktion, euer gutes Stück, wie ihr immer gesagt habt. Ich bin doch damals Sekretärin gewesen, damals, als du ...“
Es dämmerte bei ihm. „Ach du! Die Hanna! Na kiek mal, hätte dich ja kaum wiedererkannt! Mensch! Ist aber lange her.“ Er musterte mich von Kopf bis Fuß. „Bist älter geworden, Hanna.“
„Du nicht?“
„Doch, schon. Gehen wir einen Kaffee trinken?“
Es war eher ein Stehcafé, in das mich Jörg führte, als ein richtiges Café. Ein paar Tische und Stühle, beinahe keine Gäste, ein hochbeschäftigter Thekenmann.
Unser Gespräch kam nicht in Gang. Der Kaffee schmeckte wie damals unser Kantinenkaffee. Ich sagte es Jörg. Er lachte. „Kannst recht haben.“
„Sag mal, Jörg“, ich wollte auf sein Buch kommen, auf die Foltergeschichte, sie ließ mir keine Ruhe, „stimmt das eigentlich? Das, Jörg, was du schreibst, ich meine, das mit der Folter und dass die Stasi genauso schlimm war wie die CIA?“
Er grinste. „Du verrätst mich doch nicht? Also, das mit der Folter ist so eine Sache. Ich selbst bin nicht gefoltert worden. Aber ich kenne da ein paar Leute, die sind, echt, die sind wirklich gefoltert worden. Aber die schreiben eben keine Memoiren. Und sie haben mich gebeten, ein Kapitel dazu zu schreiben. Wir müssen zusammenhalten. So ist das.“
„Also hat die Stasi gefoltert?“
„Genau kann ich es nicht sagen, jedenfalls nicht als Augenzeuge. Aber die Leute waren glaubwürdig. Sie haben mir ihre Narben gezeigt.“
„Hm. Hätte ich aber nicht gemacht. Ich meine, dass ich das als Erlebnisbericht geschrieben hätte, Jörg."
„Na, du schreibst ja auch nicht!“ Er war wütend geworden. Ich musste ihn wieder runterholen, wenn ich Gewissheit über die Folter haben wollte.
„Doch, ich schreibe. Neuerdings. Seit ich so viel Zeit habe. Geschichten und so.“
„Na, dann weißt du ja, wie schwer es ist mit der Wahrheit. Wenn man Memoiren schreibt. Du hast doch bestimmt auch Memoiren geschrieben?“
„Ja, ein paar Kapitel. Bin aber erst bei der Kindheit.“
„Und die DDR sparst du aus!“
„Nein. Ich werde das schreiben, an das ich mich erinnere. Hatte ja kein Tagebuch geführt. Kann also schon passieren, dass ich was auslasse.“
„Tagebuch! Du spinnst ja! Wenn ich Tagebuch geführt hätte, hätten sie mir mehr als die vier Jahre Bautzen II aufgedrückt!“
Wir tranken unseren Kaffee aus. Jörg wollte gehen. Er stand schon. „Schön, dich mal wiedergesehen zu haben.“
„Jörg, bevor du gehst – ich kann ja verstehen, dass du noch immer in Brass bist, war bestimmt kein Zuckerschlecken -, Jörg, sag mir, ich muss es wissen: Was ist dran an der Folterei bei der Stasi!“
Jörg setzte sich wieder. „Also gut, weil du es bist. Also, wie schon gesagt, die Stasi hat gefoltert. Die haben da bestimmte Ecken gehabt, die Leute wurden da hingekarrt, irgendwelche Kaffs auf dem Land. Schreib ich doch in meinem Buch, nicht aus dem kleinen Finger gezuzzelt. Und wenn sie wiederkamen, haben sie nichts verlauten lassen. Die Leute, mein ich. Und als sich rumgesprochen hatte, dass ich über Bautzen schreibe, sind sie gekommen. Die, die ich noch kannte. Die hatten sich damals nicht getraut, ist doch verständlich. Erst jetzt rücken sie raus mit der Sprache.“
„Früher hast du nichts vom Hörensagen geglaubt. Du wärst ein guter Journalist geworden, Jörg.“
„Hat sich was mit Journalist. Alles Mögliche habe ich gemacht nach der Entlassung, sogar Pförtner. Berlin-Verbot. Ich sage nur: Prenzlau. Dieses miese kleine Prenzlau mit den netten Vorgärten.“
„Du schreibst, sie haben dich wegen Spionage eingebuchtet. Hätte ich nicht vermutet, ich kannte dich doch. Glaubte ich jedenfalls.“
„Hach, diese alten Geschichten, Hanna. Ich sag dir, wie es war: Mich haben auf einer Dienstreise ein paar Leute angesprochen, zwei Männer, damals. Westtypen. Haben sich nicht vorgestellt. Ob ich ein bisschen Westgeld verdienen wollte. Klar, wollte ich. Ein paar Artikel, nicht ganz auf Linie, Horst, der Döskopp, hätte das überhaupt bemerkt. Dachte ich. Und dann sollte ich so dicht wie möglich an die Mauer rankommen, mich ein bisschen umsehen. Das war alles.“
„Und? Hast du’s gemacht?“
„Einen Artikel, und den hat Horst dann in den Papierkorb geschmissen und mich aufgeklärt über die DDR-Politik. Die internationale Bedrohung und der amerikanische militärisch-industrielle Komplex und so. Du weißt doch, wie väterlich der einem ins Gewissen reden konnte. An der Mauer haben sie mich gekriegt. Und dann Bautzen II. Mehr sag ich nicht.“
„Brauchst du auch nicht. Kann mir einiges vorstellen. Was wolltest du übrigens mit dem Westgeld? Weißt du noch, wie Christa rumgeeiert hatte: Warum sie ihr Gehalt nicht zur Hälfte in West kriegt? Die war bis zum Schluss dabei, bis sie uns auflösten. Hat ziemlichen Blödsinn gequatscht.“
„Haben ja wohl so einige. Ich lese Zeitung. Manchmal, du glaubst es kaum, findest du einen Namen. Einen von früher. Wendemanöver. Drum links, zwei, drei, wo dein Platz, Genosse ist ... Westgeld? Hab nie welches gesehen, wenn du es genau wissen willst. Was schon? Einkaufen. Im Intershop. Wo sonst. Ein paar Bücher durchschleusen. Wollte ja die DDR nicht umstülpen.“ Er grinste. Wie damals. Jetzt erst erkannte ich ihn wieder.
„Nein, wolltest du nicht. Aber es ist spät.“
Er gab mir die Hand. „Sorge dich nicht und trink Coca-Cola. Wird schon schiefgehen. Ich meine, alles, das hier.“
„Du meinst: Jetzt, wo wir Westen sind?“
„Na ja.“
Auf der Straße war es noch windiger als am Tage geworden, ich glitschte über nasses Laub. Der Winter würde kalt werden. Verdammt kalt.
(2006)