Nullpunkt

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hesa

Mitglied
Als ich das erste Mal aufwache spüre ich nichts. Die Erinnerung an gestern lauert schon, aber ich ducke mich vor ihr und flüchte zurück in den Schlaf. Beim zweiten Mal entkomme ich ihr nicht. Alles ist noch ganz langsam, mein T-Shirt riecht nach Rauch und bei dem Gedanken an Zigaretten wird mir übel. Ich will mich auf etwas anderes konzentrieren, da schießen die Erinnerungsfetzen hervor und erwischen mich kalt. Obwohl ich weiß, dass ich dort nichts finde, fasse ich neben mich. Da, wo meine Finger das Laken streifen, sollte ich deine weiche Haut spüren, sollte dein warmer Körper liegen – dort hat er gelegen, bis ich dich vor ein paar Stunden rausgeworfen habe. Ich bin immer noch betrunken, aber vielleicht ist das gut, denn so fühlt sich mein Körper und dein Fehlen nur dumpf an. Momentaufnahmen der letzten Nacht schließen sich zusammen und ergeben ein löchriges Bild – Hatte ich wieder zu viele Drinks? Ich versuche mich zu erinnern: Ein Bier auf dem Weg, zwei als wir zusammen in der Menge standen und dann, als du hinterher mit dem Gin Tonic auf mich zukamst – da habe ich irgendwie aufgehört zu zählen. Es hat den Schmerz so angenehm erträglich gemacht, den Gedankenstrudel ausgebremst und ich konnte einfach nicht widerstehen.

Als der Ärger die Müdigkeit verdrängt ziehe ich mir die Decke über den Kopf. Es konnte einfach nicht gut gehen, ich wusste es und habe es ignoriert. Es war einfacher auszublenden, dass ich schon am Ende meiner Kräfte war, als wir uns auf den Weg gemacht haben. Aber davon habe ich dir nichts erzählt, denn ich wollte uns den Abend nicht versauen, nicht deswegen. Ich wollte dir nicht sagen, dass es wieder so weit war – dass mich der Sog gepackt hatte und seit Tagen in den Abgrund zog. Ich wollte nicht zugeben, dass meine Gedanken wieder schwer und düster waren und ich all meine Kraft aufbringen musste, um einfach zu existieren. Wie schön es wäre es, wenn einfach alles still wäre. Du hättest es verstanden, du verstehst es immer. Wahrscheinlich hättest du mich in den Arm genommen und mich schweigen lassen. Aber ich wollte so nicht sein. Nicht an diesem Abend, der dir so viel bedeutet hat. Ich wollte fröhlich sein und gemeinsame Erinnerungen schaffen, denn ich will nicht auf Erinnerungen mit dir verzichten, nur weil mein Kopf manchmal macht was er will.

Anfangs ging alles gut und ich hatte kurz Hoffnung, die Fassade aufrecht erhalten zu können. Da war dieser Moment, als ich von der Toilette kam und mich an all den Menschen vorbeidrängen musste, um dich zu finden. Du standest etwa zehn Meter entfernt, dein Blick war wach, du hast wie alle anderen zur Bühne geschaut und warst so perfekt, dass mein Herz einen Sprung gemacht hat. Für einen Moment nur Helligkeit. Die Menge hat getobt und geschwitzt, aber ich wollte stehen bleiben, dich einfach nur ansehen und mich an deinem Anblick festhalten. Als hättest du es geahnt, hast du den Kopf gedreht, dir eine Strähne hinter das Ohr gestrichen. Ich habe dein warmes Lächeln erwidert und mich zu dir durchgeboxt, direkt in deine Arme. In diesem kurzen Moment war da nur Platz für Licht.

Wenige Stunden später mussten wir dann den Weg zum Taxi suchen, es gab nur einen und wir fanden ihn trotzdem fast nicht. Auch das Licht konnte ich nicht mehr finden, in meinem Kopf war wieder Nacht. Es kam mir vor, als hätte ich es mit jedem Schluck aus mir herausgespült. Du hattest längst gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Ich sah dich neben mir, dein Zopf lose, deine Augen glasig. Wieder hast du meinen Blick gespürt und den Kopf zu mir gedreht, aber das Lächeln war weg, da war nur noch Ratlosigkeit und Alkoholnebel. Durch ihn konntest du nicht erkennen was mit mir war und ich habe mich schuldig gefühlt. Schweigend sind wir ins Taxi gestiegen und als wir zwanzig Minuten später bei mir ankamen war es immer noch still zwischen uns.

So schnell es ging bin ich ins Bad verschwunden und habe von dir ich nicht mehr viel mitbekommen. Ich habe alle Kraft gebraucht, um den Selbsthass im Zaum zu halten. Erinnerungslücke. Du im Bett neben mir, schreist mich an – oder war ich es, der geschrien hat? Am Ende macht das keinen Unterschied, einer von uns ist ein Arschloch und der andere soll sich ficken. Dabei sind wir immer noch betrunken und überzeugt davon, nüchtern zu sein. Warum es eskaliert habe ich nicht mehr mitbekommen. Dafür aber, wie sehr es dich verletzt hat. Um nicht den Verstand zu verlieren bin ich hart, eiskalt und zu gefangen in mir selbst, um dir die Last zu nehmen. Bis du dich wegdrehst und sagst »Ich hab's satt, scheiß auf das alles!«.

Der Satz trifft mich hart. Dein bebender Rücken und die Erschöpfung in deiner Stimme reißen mir den Boden unter den Füßen weg. Ich habe gewusst, dass du es irgendwann nicht mehr aushalten würdest, dass die Gewitterwolke über mir zu viel für dich wäre. Ich halte sie ja selbst kaum aus. Ich verstehe, dass die Stimmungen dich zermürben und du mir doch nur Frieden wünscht. Mir fehlen einfach die Worte, um dir zu erklären, wie grundlos schwer manchmal alles ist und wie schwer es sich dann anfühlt, ich zu sein. Ich kann dir nicht versprechen, dass es aufhört – Also musstest du gehen. Ich kann nicht neben dir schlafen und aufwachen, während du realisierst, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der nächste Sturm mich mitreißt und dass die Stille nie von Dauer ist. Wem könnte man das schon zumuten? Du musstest gehen, aber das hat dich nur noch wütender gemacht. Woher solltest du auch wissen, dass es nichts mit dir zu tun hatte. »Wenn ich jetzt gehe, dann komme ich nicht wieder« – Worte wie ein Schlag ins Gesicht, der mich verstummen lässt. Als ich endlich meine Stimme wiederfinde warst du längst weg.

Die Kopfschmerzen setzen ein, also werden ich langsam nüchtern. Der Ärger wird zu Angst und dann ist da nur noch die gewohnte Leere, die schlimmer ist als alles andere. Ich kann nicht darüber nachdenken, was die Nacht für uns bedeutet. Ich weiß, ich will dich nicht verlieren und dass du das nicht verdient hast. Doch im Augenblick kostet es mich alle Überwindung, einfach dazuliegen und zu atmen. Ich bin am Nullpunkt angekommen. Stunden vergehen aber die Leere im Bett und in mir bleibt. Ich weiß, dass ich dich anrufen sollte, schaffe es aber nicht. Ich habe Angst davor, was dann passiert und will den Moment aufschieben – am liebsten bis es mir besser geht. Wann auch immer das sein mag.

Das plötzliche Vibrieren scheint surreal, aber ich sehe dein Foto auf dem Bildschirm. Du hast mein Hemd an, lachst fröhlich und siehst so lebendig aus wie ich es gern wäre. Ich will nicht rangehen, sondern lieber für immer dieses Foto ansehen. Ich nehme ab. Meine Zunge ist zu schwer für ein Hallo, also warte ich und du scheinst auch zu warten, denn auch du sagst kein Wort. Ich höre wie du dich bewegst, spüre dich durchs Telefon. Dein Atmen klingt ruhig und ich hätte dich so gern bei mir. Neben dir wäre die Kälte erträglicher. Du atmest und die Liebe streckt zaghaft ihre Fühler in meine Finsternis. Ich weiß nicht, ob ich sie willkommen heißen kann, denn ich weiß nicht was mich erwartet. Meine Angst liegt neben mir im Bett, auf deinem Platz, und hält wie ich den Atem an. Sekunden vergehen bis du dich endlich räusperst und sprichst. Deine Stimme klingt nach wenig Schlaf, ganz warm und vertraut meinem Ohr als du sagst »Ich weiß schon. Bleib liegen, ich komme jetzt zu dir!«.
 
G

Gelöschtes Mitglied 21215

Gast
Mich hat die Geschichte, sehr bewegt. In meinem Leben wäre ich eher der/die zweite. Ich wünsche dir, dass es anderen genauso geht, und hoffe, es ist nicht zu früh für dich, sie den vielen unbeteiligten Lesern zu zeigen, will sagen, dass der Schmerz eine Weile lang her sein sollte.

Mühe hatte ich nur beim Hineinfinden, kann aber nicht sagen, ob es anderen auch so geht.

Ich würde sie gerne so lesen, dass sie beginnt, als du neben dich greifst, an die leere Stelle.

Gruß von Janus.
 

hesa

Mitglied
Hallo Janus,

danke für deine netten Zeilen! Es ist natürlich schön, als erstes positive Resonanz zu bekommen – das Thema ist ja wirklich nicht einfach und sicher wird sich nicht jeder durch den Text erkannt fühlen. Umso mehr freue ich mich, dass die Geschichte dich abholen konnte.

Deine Anregung finde ich interessant, dadurch würde man direkt in die Beziehung der beiden Figuren starten. Danke für deine Offenheit!

Liebe Grüße
Hesa
 



 
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