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„Ich führe Sie nun in die heiligen Hallen dieser Universität, in die Alte Bibliothek“, erklärte der betagte grauhaarige Führer der Reisegruppe, die ausschließlich aus Abiturienten bestand, und fuhr fort: „Ich sage ausdrücklich Alte Bibliothek, weil es auf dem Campus auch noch die Neue Bibliothek gibt. Sie können sich ja denken, warum man diese Unterscheidung macht. In der Neuen befindet sich die Literatur, mit der die Studenten täglich arbeiten müssen, während in der Alten unsere Kostbarkeiten aufbewahrt werden. Unser ältestes Buch ist eintausendzweihundert Jahre alt und natürlich handgeschrieben. Es waren wahrscheinlich Mönche, die ein Leben lang daran gearbeitet haben, die Texte und Zeichnungen zu Papier zu bringen.“
Der alte Mann dirigierte die Gruppe durch ein Gewölbe, dann in ein Untergeschoss, wo er sie schließlich in einen großen Raum führte, der keine Fenster besaß. Er knipste das Licht an.
„In diesem Raum haben wir im Sommer wie im Winter die gleiche Temperatur und eine schwache und sehr konstante Luftfeuchtigkeit. Ultraviolettes Licht, das dem Papier schaden könnte, gibt es nicht, wie Sie sehen.“ Er deutete mit einer Hand auf eine riesige Regalwand, die Hunderte alter Folianten enthielt. Die Beschriftungen auf den Buchrücken waren kaum noch zu erkennen und die Farben der Buchdeckel weitgehend verblichen. Sie waren nicht zugänglich. Die gesamte Wand war hinter Glastüren verborgen.
„In diesen Büchern befindet sich das alte Wissen unserer Ahnen. Die Mythologie unserer Vorfahren, ihre Kunst, ihre gesamte Kultur, ihre Entwicklungsgeschichte, vor allem ihre Kenntnisse über die Natur und das richtige Leben mit ihr, und das vollständig und in Epochen unterteilt bis in die Neuzeit.
Ein gutes Beispiel, das jeder heute nachvollziehen kann, ist das frühere Wissen der Pflanzenmedizin. Heute sehnen sich viele Menschen nach natürlicher Medizin, aber während die Chinesen beispielsweise ihr Wissen über Jahrtausende erhalten und gemehrt haben, ist es bei uns weitgehend verlorengegangen. Es wäre ganz weg, wenn wir diese Bücher nicht hätten. Oder denken Sie an die Alchemie.“
Alchemie? Was zum Teufel ist das? Ein Schüler, der in vorderster Reihe stand, holte sein Smartphone hervor und gab den Begriff ein. Als der alte Mann eine kleine Sprechpause machte, ergriff der Junge das Wort: „Das Wissen, das ich brauche, ist hier drin. Wozu diese alten schweren Bücher? Bei mir steckt alles in einem kleinen Chip, und wenn ich etwas wissen will, gebe ich die Frage einfach ein, und Google gibt mir die Antwort.“
Einige in der Gruppe kicherten verhalten, anderen war der Einwand sichtlich peinlich. Doch niemand war bereit, sich an dem Disput, der sich da anbahnte, zu beteiligen.
„Das ist nicht das Wissen, was ich meine, junger Freund“, antwortete der alte Mann. „Diese Bücher enthalten das Wissen, auf dem unsere heutigen Kenntnisse und unsere Kultur basieren. Sie beschreiben tiefgründig, wie im Laufe von Jahrhunderten, ja Jahrtausenden, unser Verständnis von den Dingen entstand. Mit allen Irrungen und Wirrungen, Falscheinschätzungen und Fehlbeurteilungen. Nehmen Sie zum Beispiel die Astrolo…“
„Das interessiert doch heute keinen Menschen mehr. Wichtig ist doch nur, dass man zum richtigen Ergebnis kommt, wenn man mal nicht Bescheid weiß.“
„Aber um die richtigen Fragen zu stellen, benötigt man da nicht eine entsprechende Vorbildung?“
Der Junge verdrehte die Augen. „Nein, braucht man nicht. Ich jedenfalls nicht.“
„Gut! Den anderen hier sage ich: Diese Bücher vermitteln Wissen. Wissen ist die Voraussetzung für Bildung, Bildung unerlässlich für Weisheit, die Art und Weise also, wie man mit der Bildung umgeht. Doch die Krönung der Weisheit …“ Er unterbrach sich für einen Moment und zeigte auf eine etwa einen Meter große Fotographie, die zwischen zwei Bücherregalen die Wand zierte. „Doch die Krönung der Weisheit, die finden wir noch heute in Stein gehauen am Eingang des Tempels von Delphi. Dort heißt es GNOTHI SEAUTON. Wer von euch hat davon schon mal gehört?“
Schweigen. Der alte Mann blickte, da er etwas erhöht stand, über die Köpfe der Gruppe und verfolgte, wie ausnahmslos alle Schüler ihre Smartphones hervorkramten, auf die Fotographie starrten, sich offensichtlich die Schreibweise dieser beiden griechischen Wörter einprägten und dann unverzüglich ihre Fragen in die Tastatur tippten.
Die Sekunden verstrichen. Die Schüler waren vertieft in ihre Aufgabe und nicht mehr ansprechbar. Als Google den Schnellsten unter ihnen die ersten Treffer schickte, blickten sie freudestrahlend auf, um dem alten Mann die Antwort zu präsentieren. Doch der hatte sich abgewandt und war längst nicht mehr da.
„Ich führe Sie nun in die heiligen Hallen dieser Universität, in die Alte Bibliothek“, erklärte der betagte grauhaarige Führer der Reisegruppe, die ausschließlich aus Abiturienten bestand, und fuhr fort: „Ich sage ausdrücklich Alte Bibliothek, weil es auf dem Campus auch noch die Neue Bibliothek gibt. Sie können sich ja denken, warum man diese Unterscheidung macht. In der Neuen befindet sich die Literatur, mit der die Studenten täglich arbeiten müssen, während in der Alten unsere Kostbarkeiten aufbewahrt werden. Unser ältestes Buch ist eintausendzweihundert Jahre alt und natürlich handgeschrieben. Es waren wahrscheinlich Mönche, die ein Leben lang daran gearbeitet haben, die Texte und Zeichnungen zu Papier zu bringen.“
Der alte Mann dirigierte die Gruppe durch ein Gewölbe, dann in ein Untergeschoss, wo er sie schließlich in einen großen Raum führte, der keine Fenster besaß. Er knipste das Licht an.
„In diesem Raum haben wir im Sommer wie im Winter die gleiche Temperatur und eine schwache und sehr konstante Luftfeuchtigkeit. Ultraviolettes Licht, das dem Papier schaden könnte, gibt es nicht, wie Sie sehen.“ Er deutete mit einer Hand auf eine riesige Regalwand, die Hunderte alter Folianten enthielt. Die Beschriftungen auf den Buchrücken waren kaum noch zu erkennen und die Farben der Buchdeckel weitgehend verblichen. Sie waren nicht zugänglich. Die gesamte Wand war hinter Glastüren verborgen.
„In diesen Büchern befindet sich das alte Wissen unserer Ahnen. Die Mythologie unserer Vorfahren, ihre Kunst, ihre gesamte Kultur, ihre Entwicklungsgeschichte, vor allem ihre Kenntnisse über die Natur und das richtige Leben mit ihr, und das vollständig und in Epochen unterteilt bis in die Neuzeit.
Ein gutes Beispiel, das jeder heute nachvollziehen kann, ist das frühere Wissen der Pflanzenmedizin. Heute sehnen sich viele Menschen nach natürlicher Medizin, aber während die Chinesen beispielsweise ihr Wissen über Jahrtausende erhalten und gemehrt haben, ist es bei uns weitgehend verlorengegangen. Es wäre ganz weg, wenn wir diese Bücher nicht hätten. Oder denken Sie an die Alchemie.“
Alchemie? Was zum Teufel ist das? Ein Schüler, der in vorderster Reihe stand, holte sein Smartphone hervor und gab den Begriff ein. Als der alte Mann eine kleine Sprechpause machte, ergriff der Junge das Wort: „Das Wissen, das ich brauche, ist hier drin. Wozu diese alten schweren Bücher? Bei mir steckt alles in einem kleinen Chip, und wenn ich etwas wissen will, gebe ich die Frage einfach ein, und Google gibt mir die Antwort.“
Einige in der Gruppe kicherten verhalten, anderen war der Einwand sichtlich peinlich. Doch niemand war bereit, sich an dem Disput, der sich da anbahnte, zu beteiligen.
„Das ist nicht das Wissen, was ich meine, junger Freund“, antwortete der alte Mann. „Diese Bücher enthalten das Wissen, auf dem unsere heutigen Kenntnisse und unsere Kultur basieren. Sie beschreiben tiefgründig, wie im Laufe von Jahrhunderten, ja Jahrtausenden, unser Verständnis von den Dingen entstand. Mit allen Irrungen und Wirrungen, Falscheinschätzungen und Fehlbeurteilungen. Nehmen Sie zum Beispiel die Astrolo…“
„Das interessiert doch heute keinen Menschen mehr. Wichtig ist doch nur, dass man zum richtigen Ergebnis kommt, wenn man mal nicht Bescheid weiß.“
„Aber um die richtigen Fragen zu stellen, benötigt man da nicht eine entsprechende Vorbildung?“
Der Junge verdrehte die Augen. „Nein, braucht man nicht. Ich jedenfalls nicht.“
„Gut! Den anderen hier sage ich: Diese Bücher vermitteln Wissen. Wissen ist die Voraussetzung für Bildung, Bildung unerlässlich für Weisheit, die Art und Weise also, wie man mit der Bildung umgeht. Doch die Krönung der Weisheit …“ Er unterbrach sich für einen Moment und zeigte auf eine etwa einen Meter große Fotographie, die zwischen zwei Bücherregalen die Wand zierte. „Doch die Krönung der Weisheit, die finden wir noch heute in Stein gehauen am Eingang des Tempels von Delphi. Dort heißt es GNOTHI SEAUTON. Wer von euch hat davon schon mal gehört?“
Schweigen. Der alte Mann blickte, da er etwas erhöht stand, über die Köpfe der Gruppe und verfolgte, wie ausnahmslos alle Schüler ihre Smartphones hervorkramten, auf die Fotographie starrten, sich offensichtlich die Schreibweise dieser beiden griechischen Wörter einprägten und dann unverzüglich ihre Fragen in die Tastatur tippten.
Die Sekunden verstrichen. Die Schüler waren vertieft in ihre Aufgabe und nicht mehr ansprechbar. Als Google den Schnellsten unter ihnen die ersten Treffer schickte, blickten sie freudestrahlend auf, um dem alten Mann die Antwort zu präsentieren. Doch der hatte sich abgewandt und war längst nicht mehr da.