Nur ein Sack Reis

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Silberstreif

Mitglied
Der kleine, gelbe Mann war unscheinbar. Er gehörte zu der Sorte Menschen, die man sieht und gleich darauf wieder vergißt.
Sein Gesicht war ausdruckslos, der stumpfe Blick müde. Das Einzige was er ausstrahlte, war ein wenig Traurigkeit. Er sprach mit niemandem, blieb nie stehen, keiner wusste wo er herkam, oder wo er hin ging. Seine Kleidung war abgetragen, farblos, seine Schuhe staubverkrustet. Er war mager und von unbestimmbarem Alter; vielleicht mochte er 40 sein, vielleicht auch 80. Es interessierte niemanden.

Das einzig Auffällige an ihm war der große Sack, den er auf dem Rücken trug. Ein durchaus handelsüblicher Sack, wie es sie zu Tausenden gab, für den Transport und das Lagern von Reis. Aussergewöhnlich war, dass der kleine, gelbe Mann den schweren Sack ständig mit sich trug, ihm dieses aber keine große Mühe zu bereiten schien. Manchmal tuschelten die Leute hinter seinem Rücken, stellten Mutmaßungen an und verloren sich in Spekulationen über sagenhafte Schätze, die ihm zur Beute gefallen waren, oder geheimnisvolle Zauberkräuter, deren magische Kräfte ungeahnte Verwüstungen herbeiführen könnten.
Die Leute waren überall auf der Welt sensationslüstern und tratschwütig. Sie waren sich natürlich der Tatsache bewusst, dass in dem Sack auch einfach nur alte Lumpen sein könnten, doch diese Möglichkeit bot natürlich keinerlei Klatschpotential. Deswegen währte das Interesse auch überall nur kurz und der geheimnisvolle, kleine, gelbe Mann mitsamt seinem Sack, war schnell wieder aus den Dörfern und den Köpfen verschwunden.
Doch so wenig wie die Leute den kleinen, gelben Mann kannten, so gut kannte er sie. Er wußte um die verborgenen Geheimnisse eines jeden von ihnen, um ihre Wünsche und Träume, denn er beherrschte ihre Gefühle.
Nicht dass er eine besondere Gabe hatte, oder gar dieses Wissen und diese Macht anstrebte. Er wäre sogar sehr dankbar gewesen, wenn ihm diese Bürde nie auferlegt worden wäre, doch hatte er sich nun, binnen der ungezählten Jahre, die er schon über die Erde wanderte, daran gewöhnt und hatte es längst aufgegeben darüber nachzudenken. Niemals wäre ihm auch in den Sinn gekommen, seine 'Aufgabe', wie er es nannte, zu verraten, oder gar zu seinem Vorteil zu nutzen. Vielleicht war er genau deswegen ausgewählt worden, weil es Menschen wie ihn nicht sehr häufig gab.
Ohne Murren, doch auch ohne Stolz, trug er seinen Sack von einem Ort zum anderen und er begnügte sich damit, nur gelegentlich die dicke Schnur aufzuknüpfen und mit beiden Händen in den Sack zu greifen um den Reis durch seine Finger rieseln zu lassen.

Oh ja, er wusste, dass es kein gewöhnlicher Reis war, obwohl er sich kaum davon unterschied. Die Körner waren etwas größer, unregelmässiger und auch farblich viel nuancierter. Es gab gelbliche lange Körner, fast runde, von leicht grauer Farbe und dann spitze, nahezu goldglänzende. Die rötlichen waren ziemlich klein, die caramelfarbenen flacher als alle anderen. So gab es verschiedene Arten zu Hunderten und aus einem ihm völlig unerklärlichen Grund, kannte er sie alle. Er wusste welches die Wut beherbergte, welches die Sehnsucht, welches die Trauer, den Neid, die Freundschaft, den Schmerz, die Hoffnung, die Missgunst, die Liebe, den Hass, die Zufriedenheit, die Lust, die Gier, den Ekel, die Verzweiflung und alle anderen Gefühle. Er kannte alle Gefühle, kannte ihre Facetten und Abwandlungen und wusste, dass es nur eine begrenzte Anzahl gab und keinesfalls unendliche, wie die Leute alle glaubten. Es gab nur genausoviele Gefühle, wie Reiskörner in seinen Sack passten und wie er - und nur er - tragen konnte.
Nur er allein wusste, dass die Gefühle der Welt nicht in den Herzen, den Seelen oder gar Köpfen der Leute beherbergt waren, sondern in Reiskörnern in einem abgewetzten Sack, den er zeitlebens auf dem Rücken tragen würde.
Wie das mit den Gefühlen und den Leuten die sie ja zweifellos spürten (das kannte er von sich selbst) nun tatsächlich funktionierte, hätte er nicht zu sagen gewusst, so wie er auch sonst nicht viel zu sagen gewusst hätte. Er trug einfach des Tags seinen Sack durch die Gegend und Nachts diente er ihm als Ruhestatt, für sein müdes Haupt.

Er hatte kein bestimmtes Ziel, keine Anweisung wohin er gehen sollte, sondern lief jeden Morgen einfach drauflos, so weit ihn seine Beine trugen. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, dass sich daran je etwas ändern würde.
Eines Tages, als er gerade eine Stadt durchwanderte, deren Namen er sich wie gewöhnlich nicht gemerkt hatte, war etwas geschehen. Er hatte bereits seit einer Weile die Gewissheit, dass etwas anders geworden war, bis ihm einfiel, dass ein Korn fehlte. Er fand die winzige, durchgescheuerte Stelle im Sack, durch die er das Korn verloren hatte. Zunächst dichtete er die Stelle sorgfältig ab, um weiteren Schaden zu vermeiden, bevor er die Schnur aufband, die Augen schloß und mit beiden Händen in den Sack fuhr. Die Körner rieselten wie gewöhnlich durch seine Finger und sein ganzes Selbst und sehr bald wusste er, welches Korn fehlte. Es war das Glück.

Er selbst war nie besonders gebeutelt worden von den Gefühlen die er mit sich trug, und das Glück war in ihm nur als Ahnung, doch wusste er, wie wichtig es den Leuten zu sein schien. Nun fehlte es. Die Konsequenzen konnte er freilich nicht erahnen. Er begann mit der Suche.
Da er keinerlei Zeitgefühl hatte und nur Tag und Nacht wirklich voneinander unterschied, war ihm nicht klar, wann und somit auch wo er das Glück verloren hatte.
Genauso teilnahmslos wie er bisher seine Last getragen hatte, übernahm er die zusätzliche Aufgabe - die Suche nach dem Glück.
Und mit ihm, suchen seither alle Leute ebenfalls danach, natürlich in völliger Unkenntnis der Hintergründe und ohne jede Ahnung von dem kleinen, gelben Mann.
Das Glück liegt auf der Straße.
 

Zarathustra

Mitglied
Hallo Silberstreif

SCHADE DASS DEINE ERZÄHLUNG SO WENIG GELESEN WIRD!

... eine wunderbare Parabel hast du da geschrieben.
Jedenfalls ist man schon anfangs sehr gespannt, was denn in dem Sack ist.

Nur ein Sach Reis, so scheint es uns doch immer...

Die Spannung in deiner Geschichte bleibt bis zum Schluss, der uns ja allen wohlbekannt sein dürfte.

Schön zweideutig!
Erstens, weil es wirklich notwendig ist, das fehlende Körnchen zu finden; -
zweitens, wegen dem endlos nervenden "pursuit of happiness" der amerikanischen Lebensphilosophie.

Ein, zwei Holprigkeiten in der Sprache verzeiht man der Geschichte gerne.
 

Silberstreif

Mitglied
danke Zarathustra, für Deinen wohlwollenden Beitrag.

Könntest Du mir die ein bis zwei Holprigkeiten vielleicht noch verdeutlichen? Will ja nicht, dass jemand stolpert und womöglich hinfällt...

Ich freue mich, dass sie Dir gefällt

Grüße vom Silberstreif
 

Zarathustra

Mitglied
@ilberstreif

Liebe Silberstreif,

an eine, wirklich nur kleine Holprigkeit erinnere ich mich spontan:

Niemals wäre ihm auch in den Sinn gekommen, seine 'Aufgabe', wie er es nannte, zu verraten, oder gar zu seinem Vorteil zu nutzen.

Es ging mir um den Ausdruck "Aufgabe". Mir erschien das ein bisschen nach Schule zu klingen. Eine Aufgabe, die man lösen will. Darüber bin ich zuerst gestolpert.
Dann wurde mir klar, dass du Aufgabe in dem Sinne meinst,
dass der kleine gelbe Mann eine "Mission" zu erfüllen hat, ... in dem Sinne, dass er das Kreuz tragen muss (darf) das ihm auferlegt wurde.
Mir kam es halt so vor, dass er den Sack trägt wie ein Kreuz. Und dass keiner der Menschen versteht, was das alles bedeutet...

Aber das ist nur meine Interpretation...

Übrigens:
Das Zitat von Virgina Wolf, den du in deiner Biografie hinterlegt hast, hat mir sehr gut gefallen.
Trifft jeden Machomacho ins Herz. Ich habe eine kleine Persiflage darüber entworfen. Vielleicht wird sie mal fertig und ich stelle sie in die Leselupe...

Also bis dann...
 
Hallo Silberreif,
gerne hätte ich Dir für diese Geschichte, die beste Bewertung gegeben, aber da die sprachliche Qualität meiner Meinung nach den Erzählfluß stark hemmt, habe ich mich für die 2. Beste entschieden. Du hast eine spannende und einfallsreiche Geschichte geschrieben, die, wenn man sie überarbeitet wirklich super sein könnte.
Vielleicht liegt mir Dein Stil nicht, ich weiß es nicht, aber ich möchte Dir ein paar Stellen zeigen, die ich anders gemacht hätte:

Der Anfang:
Es lebte einmal ein kleiner gelber Mann, der so unscheinbar war, dass man ihn schnell wieder vergaß.
Sein Gesicht war ausdruckslos, sein Blick stumpf und seine Beine müde von den langen Reisen...

Zitat: Das einzig Auffällige -> würde ich weglassen
-> Er trug einen schweren Sack auf seinem krummen Rücken, einen handelsüblichen, ...

Zitat: Die Leute waren überall auf der Welt sensationslüstern und tratschwütig -> würde ich weglassen
-> Man erzählte sich von dem Mann, der ein Geheimnis auf seinem Rücken trug , aber da er immer nur kurz auftauchte, ging das Geheimnis mit seiner Gestalt unter...

Zitat: Ohne Murren, doch auch ohne Stolz, trug er seinen Sack von einem Ort zum anderen
-> Mit großer Mühe trug er den Sack von einem Ort zum anderen ...er sagte sich,solange ihn die Füße tragen würden, so lange würde er ihn bei sich haben.

Das jetzt nur so auf die Schnelle.
Viele Grüße Herbert
 

Silberstreif

Mitglied
Der kleine, gelbe Mann war unscheinbar. Er gehörte zu der Sorte Menschen, die man sieht und gleich darauf wieder vergisst.
Sein Gesicht war ausdruckslos, der stumpfe Blick müde. Das Einzige was er ausstrahlte, war ein wenig Traurigkeit. Er sprach mit niemandem, blieb nie stehen, keiner wusste wo er herkam, oder wo er hin ging. Seine Kleidung war abgetragen, farblos, seine Schuhe staubverkrustet. Er war mager und von unbestimmbarem Alter; vielleicht mochte er 40 sein, vielleicht auch 80. Es interessierte niemanden.

Das einzig Auffällige an ihm war der große Sack, den er auf dem Rücken trug. Ein durchaus handelsüblicher Sack, wie es sie zu Tausenden gab, für den Transport und das Lagern von Reis. Aussergewöhnlich war, dass der kleine, gelbe Mann den schweren Sack ständig mit sich trug, ihm dieses aber keine große Mühe zu bereiten schien. Manchmal tuschelten die Leute hinter seinem Rücken, stellten Mutmaßungen an und verloren sich in Spekulationen über sagenhafte Schätze, die ihm zur Beute gefallen waren, oder geheimnisvolle Zauberkräuter, deren magische Kräfte ungeahnte Verwüstungen herbeiführen könnten.
Die Leute waren überall auf der Welt sensationslüstern und tratschwütig. Sie waren sich natürlich der Tatsache bewusst, dass in dem Sack auch einfach nur alte Lumpen sein könnten, doch diese Möglichkeit bot natürlich keinerlei Klatschpotential. Deswegen währte das Interesse auch überall nur kurz und der geheimnisvolle, kleine, gelbe Mann mitsamt seinem Sack, war schnell wieder aus den Dörfern und den Köpfen verschwunden.
Doch so wenig wie die Leute den kleinen, gelben Mann kannten, so gut kannte er sie. Er wußte um die verborgenen Geheimnisse eines jeden von ihnen, um ihre Wünsche und Träume, denn er beherrschte ihre Gefühle.
Nicht dass er eine besondere Gabe hatte, oder gar dieses Wissen und diese Macht anstrebte. Er wäre sogar sehr dankbar gewesen, wenn ihm diese Bürde nie auferlegt worden wäre, doch hatte er sich nun, binnen der ungezählten Jahre, die er schon über die Erde wanderte, daran gewöhnt und hatte es längst aufgegeben darüber nachzudenken. Niemals wäre ihm auch in den Sinn gekommen, seine 'Aufgabe', wie er es nannte, zu verraten, oder gar zu seinem Vorteil zu nutzen. Vielleicht war er genau deswegen ausgewählt worden, weil es Menschen wie ihn nicht sehr häufig gab.
Ohne Murren, doch auch ohne Stolz, trug er seinen Sack von einem Ort zum anderen und er begnügte sich damit, nur gelegentlich die dicke Schnur aufzuknüpfen und mit beiden Händen in den Sack zu greifen um den Reis durch seine Finger rieseln zu lassen.

Oh ja, er wusste, dass es kein gewöhnlicher Reis war, obwohl er sich kaum davon unterschied. Die Körner waren etwas größer, unregelmässiger und auch farblich viel nuancierter. Es gab gelbliche lange Körner, fast runde, von leicht grauer Farbe und dann spitze, nahezu goldglänzende. Die rötlichen waren ziemlich klein, die caramelfarbenen flacher als alle anderen. So gab es verschiedene Arten zu Hunderten und aus einem ihm völlig unerklärlichen Grund, kannte er sie alle. Er wusste welches die Wut beherbergte, welches die Sehnsucht, welches die Trauer, den Neid, die Freundschaft, den Schmerz, die Hoffnung, die Missgunst, die Liebe, den Hass, die Zufriedenheit, die Lust, die Gier, den Ekel, die Verzweiflung und alle anderen Gefühle. Er kannte alle Gefühle, kannte ihre Facetten und Abwandlungen und wusste, dass es nur eine begrenzte Anzahl gab und keinesfalls unendliche, wie die Leute alle glaubten. Es gab nur genausoviele Gefühle, wie Reiskörner in seinen Sack passten und wie er - und nur er - tragen konnte.
Nur er allein wusste, dass die Gefühle der Welt nicht in den Herzen, den Seelen oder gar Köpfen der Leute beherbergt waren, sondern in Reiskörnern in einem abgewetzten Sack, den er zeitlebens auf dem Rücken tragen würde.
Wie das mit den Gefühlen und den Leuten die sie ja zweifellos spürten (das kannte er von sich selbst) nun tatsächlich funktionierte, hätte er nicht zu sagen gewusst, so wie er auch sonst nicht viel zu sagen gewusst hätte. Er trug einfach des Tags seinen Sack durch die Gegend und Nachts diente er ihm als Ruhestatt, für sein müdes Haupt.

Er hatte kein bestimmtes Ziel, keine Anweisung wohin er gehen sollte, sondern lief jeden Morgen einfach drauflos, so weit ihn seine Beine trugen. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, dass sich daran je etwas ändern würde.
Eines Tages, als er gerade eine Stadt durchwanderte, deren Namen er sich wie gewöhnlich nicht gemerkt hatte, war etwas geschehen. Er hatte bereits seit einer Weile die Gewissheit, dass etwas anders geworden war, bis ihm einfiel, dass ein Korn fehlte. Er fand die winzige, durchgescheuerte Stelle im Sack, durch die er das Korn verloren hatte. Zunächst dichtete er die Stelle sorgfältig ab, um weiteren Schaden zu vermeiden, bevor er die Schnur aufband, die Augen schloß und mit beiden Händen in den Sack fuhr. Die Körner rieselten wie gewöhnlich durch seine Finger und sein ganzes Selbst und sehr bald wusste er, welches Korn fehlte. Es war das Glück.

Er selbst war nie besonders gebeutelt worden von den Gefühlen die er mit sich trug, und das Glück war in ihm nur als Ahnung, doch wusste er, wie wichtig es den Leuten zu sein schien. Nun fehlte es. Die Konsequenzen konnte er freilich nicht erahnen. Er begann mit der Suche.
Da er keinerlei Zeitgefühl hatte und nur Tag und Nacht wirklich voneinander unterschied, war ihm nicht klar, wann und somit auch wo er das Glück verloren hatte.
Genauso teilnahmslos wie er bisher seine Last getragen hatte, übernahm er die zusätzliche Aufgabe - die Suche nach dem Glück.
Und mit ihm, suchen seither alle Leute ebenfalls danach, natürlich in völliger Unkenntnis der Hintergründe und ohne jede Ahnung von dem kleinen, gelben Mann.
Das Glück liegt auf der Straße.
 

Odilo Plank

Mitglied
Liebe silberstreif,
ein merkwürdiger Zufall hat mich zu Deiner in lupianischer Tiefe versunkenen Erzählung geführt.
Es ist eine Parabel, die meine Aufmerksamkeit erregt.
Die Hauptperson hast Du gekonnt verschlüsselt. Wer dem kleinen gelben Mann nicht hinter die Schliche kommt, versteht den Text nicht. Es ist auch völlig sinnlos, anderen diesen Prot zu deuten. Das muss schon jeder Leser selber leisten.
Ich bin ganz schön alt darüber geworden.
Dein Text gefällt mir sehr!
LG Odilo
 



 
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