Homosapiens
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Nachdem Frank telefonisch die Nachricht von Gudruns Unfalltod bekommen hatte, legte er sich einfach angezogen flach auf sein Bett und rührte sich nicht. Das Fenster stand offen und ließ den kalten Nebel aus der herbstlichen Dämmerung hereinziehen. Gut so. Wunden, Verbrennungen und Schnitte kühlt man am besten.
Ihm war, als hätte es Gudrun vom Anbeginn seines Lebens an gegeben, obwohl sie sich erst ein paar Jahre kannten und nie zusammen gewohnt hatten. Das ist ohnehin schwierig für Paare, die im fortgeschrittenen Alter zusammenfinden, jeder hat seinen Lebensstil und seine Gewohnheiten. Die waren allerdings ausgeprägt bei ihnen beiden, und zwar grundverschieden.
Er war seit Kindertagen ordentlich, um nicht zu sagen penibel, eine Folge des strengen Arzthaushaltes, in dem er groß geworden war. Seine Wohnumgebung bestand aus Chrom und Glas, klinisch rein poliert. Spürte er einmal Lustlosigkeit, hörte er noch heute die ungeduldigen Stimmen der Eltern, die das Hausmädchen für Nachlässigkeiten tadelten oder ihn für sein unaufgeräumtes Zimmer. Solche Stimmen können in die Ewigkeit hallen und ihre Besitzer um ein ganzes Menschenleben überdauern. Ein stets aufgeräumter Schreibtisch, Sagrotan im Bad und eine dauerhaft leere, trockengeriebene Edelstahlspüle waren die Folgen für ihn.
Was hatte ihn immer wieder zu Gudrun gezogen? Schon beim Betreten ihrer Wohnung hatte er gewußt, daß hier das Abstellen der Straßenschuhe vor der Haustür nutzlos war. Gudrun war unordentlich und nachlässig. Um ihre Staffeleien mußte er vorsichtig herumlaufen, ihr Posteingang von etlichen Tagen lag absturzgefährdet nahe an einer Tischkante. Die betagte Katze Raphaela verteilte großzügig ihre Fellflocken bis ins Bett. Ein Tier, das überall herumstrich, im Kleiderschrank döste und mit Trockenfutter umherkrümelte. "Wie kann man nur so leben?" hatte Frank bei seinem allerersten Besuch gestöhnt, ehrlich erschrocken.
Gudrun hätte offenbar gar nicht anders leben wollen, Raphaela war als Wohnungskatze so sauber wie der Haushalt, und man könne es doch auch übertreiben! Wenn Gudrun an einem ihrer Bilder malte, hatte sie ohnehin kaum einen Blick für anderes. Nur Raphaela bemerkte sie trotzdem. Strich ihre Katze in knapper Entfernung an ihr vorbei, entspannte ein flüchtiges Lächeln Gudruns Gesicht, ohne daß sie den Blick von der Leinwand nahm. Frank betrachtete ihr Gesicht oft stumm wie einen wechselhaften Himmel, bald strahlend wie ein Sonnenaufgang, wenn das Gemälde zügig wuchs, bald düster und bewölkt, wenn die Farben nicht stimmen wollten. Frank fühlte derweil alle Schwere des Alltags von sich abfallen, während er nach und nach die große Keksschale leerte und ungestraft sogar ein paar Tropfen Tee verschüttete. Nur mit Raphaela war er nie warm geworden. Gudrun hatte dem Katzenbaby vor siebzehn Jahren einen Namen gegeben, der auch eines Menschen würdig gewesen wäre. Obwohl sie das Tier nie auf den Arm oder Schoß nahm, war eine selbstverständliche Verbundenheit zwischen den beiden spürbar, die Frank der Katze von Herzen neidete. Sie mußte schließlich nicht zurück in das aufgeräumte Appartment und erstmal zur Fusselbürste greifen. Sie durfte einfach auf Dauer tun, was sie wollte, bekam, was sie brauchte und durfte Gudrun jederzeit zuschauen bei allen ihren schöpferischen Lebensäußerungen.
Ja, bei Gudrun war er ein anderer, einer, der er eigentlich immer hätte sein können, ohne die alltäglichen Reglementierungen bei sich zu Hause. Raphaela war einfach nur da, für sich selbst und zu Gudruns stiller Freude. Ihm würde nie ein Tier ins Haus kommen! War ihm das Beruhigung? Oder auch neidvolles Bedauern angesichts dieser Idylle, in der er immer nur Gast auf Zeit war?
Frank fuhr hoch aus seinem Dämmerzustand. Was? Gudrun nicht mehr da? Ein Loch in seiner Welt, stockfinster, für immer? Raphaela war jetzt allein, hungrig vielleicht, einsam, verstört. Gudrun hatte sie nie länger als einen Tag alleingelassen, jetzt aber waren zwei Tage vergangen, ehe Frank aus seiner Erstarrung erwacht war. Er griff Gudruns Schlüsselbund, das sie ihm für alle Fälle überlassen hatte. Jetzt war es der Fall der Fälle!
Schon vom dunklen Flur aus sah er Raphaelas Augen glimmen, sie kauerte in einer Ecke, das Fell leicht gesträubt. Wie ich, durchfuhr es Frank. Er knipste das Licht an und betrat die Wohnung wie eine nächtliche Kirche, lange nach dem Gottesdienst. Sein vergessener Schal hing noch am Garderobenhaken, ein paar achtlos abgelegte Geldscheine auf der Tischkante. Gudrun hatte sich nicht viel gemacht aus irgendetwas außer ihren Bildern und Raphaela. Frank mußte sich setzen, schaffte es noch bis zu dem zerschlissenen Sessel. Er blickte direkt auf die Staffelei, von der ihn Raphaelas Portrait mit Gleichmut betrachtete. Unter dem fertigen Bild stand in feiner Tuscheschrift: für Frank.
Endlich konnte er weinen. Er drückte einen herumliegenden Farblappen gegen seine Augen und spürte den Druck, mit dem die Wassermassen seinen Körper verließen und an ihm herabströmten. Als er das durchnäßte Tuch von seinem Gesicht nahm, saß Raphaela nur wenig entfernt von ihm und hatte ihren ruhigen Blick auf ihn gerichtet. Sie kannte ihn genau. Als er jetzt die ersten Worte sprach, wunderte er sich über die Klarheit seiner eigenen Stimme. "Sie hat mich gemeint. Nicht nur dich, Raphaela." Die Katze hörte ihren Namen und stellte ihre Ohren ein wenig weiter nach vorn, Gudruns Liebste. Ach, ach! Liebste Gudrun!
Frank nahm nur die Katze mit, vergaß sogar seinen Schal, nunmehr zum zweiten Mal. Raphaela, das letzte bißchen Leben von Gudrun, würde heute in sein Appartment einziehen. Um den Rest hier mochten sich die Nachfahren kümmern.
Es würde sich alles ändern für ihn. Aber war das nicht schon längst geschehen?
Ihm war, als hätte es Gudrun vom Anbeginn seines Lebens an gegeben, obwohl sie sich erst ein paar Jahre kannten und nie zusammen gewohnt hatten. Das ist ohnehin schwierig für Paare, die im fortgeschrittenen Alter zusammenfinden, jeder hat seinen Lebensstil und seine Gewohnheiten. Die waren allerdings ausgeprägt bei ihnen beiden, und zwar grundverschieden.
Er war seit Kindertagen ordentlich, um nicht zu sagen penibel, eine Folge des strengen Arzthaushaltes, in dem er groß geworden war. Seine Wohnumgebung bestand aus Chrom und Glas, klinisch rein poliert. Spürte er einmal Lustlosigkeit, hörte er noch heute die ungeduldigen Stimmen der Eltern, die das Hausmädchen für Nachlässigkeiten tadelten oder ihn für sein unaufgeräumtes Zimmer. Solche Stimmen können in die Ewigkeit hallen und ihre Besitzer um ein ganzes Menschenleben überdauern. Ein stets aufgeräumter Schreibtisch, Sagrotan im Bad und eine dauerhaft leere, trockengeriebene Edelstahlspüle waren die Folgen für ihn.
Was hatte ihn immer wieder zu Gudrun gezogen? Schon beim Betreten ihrer Wohnung hatte er gewußt, daß hier das Abstellen der Straßenschuhe vor der Haustür nutzlos war. Gudrun war unordentlich und nachlässig. Um ihre Staffeleien mußte er vorsichtig herumlaufen, ihr Posteingang von etlichen Tagen lag absturzgefährdet nahe an einer Tischkante. Die betagte Katze Raphaela verteilte großzügig ihre Fellflocken bis ins Bett. Ein Tier, das überall herumstrich, im Kleiderschrank döste und mit Trockenfutter umherkrümelte. "Wie kann man nur so leben?" hatte Frank bei seinem allerersten Besuch gestöhnt, ehrlich erschrocken.
Gudrun hätte offenbar gar nicht anders leben wollen, Raphaela war als Wohnungskatze so sauber wie der Haushalt, und man könne es doch auch übertreiben! Wenn Gudrun an einem ihrer Bilder malte, hatte sie ohnehin kaum einen Blick für anderes. Nur Raphaela bemerkte sie trotzdem. Strich ihre Katze in knapper Entfernung an ihr vorbei, entspannte ein flüchtiges Lächeln Gudruns Gesicht, ohne daß sie den Blick von der Leinwand nahm. Frank betrachtete ihr Gesicht oft stumm wie einen wechselhaften Himmel, bald strahlend wie ein Sonnenaufgang, wenn das Gemälde zügig wuchs, bald düster und bewölkt, wenn die Farben nicht stimmen wollten. Frank fühlte derweil alle Schwere des Alltags von sich abfallen, während er nach und nach die große Keksschale leerte und ungestraft sogar ein paar Tropfen Tee verschüttete. Nur mit Raphaela war er nie warm geworden. Gudrun hatte dem Katzenbaby vor siebzehn Jahren einen Namen gegeben, der auch eines Menschen würdig gewesen wäre. Obwohl sie das Tier nie auf den Arm oder Schoß nahm, war eine selbstverständliche Verbundenheit zwischen den beiden spürbar, die Frank der Katze von Herzen neidete. Sie mußte schließlich nicht zurück in das aufgeräumte Appartment und erstmal zur Fusselbürste greifen. Sie durfte einfach auf Dauer tun, was sie wollte, bekam, was sie brauchte und durfte Gudrun jederzeit zuschauen bei allen ihren schöpferischen Lebensäußerungen.
Ja, bei Gudrun war er ein anderer, einer, der er eigentlich immer hätte sein können, ohne die alltäglichen Reglementierungen bei sich zu Hause. Raphaela war einfach nur da, für sich selbst und zu Gudruns stiller Freude. Ihm würde nie ein Tier ins Haus kommen! War ihm das Beruhigung? Oder auch neidvolles Bedauern angesichts dieser Idylle, in der er immer nur Gast auf Zeit war?
Frank fuhr hoch aus seinem Dämmerzustand. Was? Gudrun nicht mehr da? Ein Loch in seiner Welt, stockfinster, für immer? Raphaela war jetzt allein, hungrig vielleicht, einsam, verstört. Gudrun hatte sie nie länger als einen Tag alleingelassen, jetzt aber waren zwei Tage vergangen, ehe Frank aus seiner Erstarrung erwacht war. Er griff Gudruns Schlüsselbund, das sie ihm für alle Fälle überlassen hatte. Jetzt war es der Fall der Fälle!
Schon vom dunklen Flur aus sah er Raphaelas Augen glimmen, sie kauerte in einer Ecke, das Fell leicht gesträubt. Wie ich, durchfuhr es Frank. Er knipste das Licht an und betrat die Wohnung wie eine nächtliche Kirche, lange nach dem Gottesdienst. Sein vergessener Schal hing noch am Garderobenhaken, ein paar achtlos abgelegte Geldscheine auf der Tischkante. Gudrun hatte sich nicht viel gemacht aus irgendetwas außer ihren Bildern und Raphaela. Frank mußte sich setzen, schaffte es noch bis zu dem zerschlissenen Sessel. Er blickte direkt auf die Staffelei, von der ihn Raphaelas Portrait mit Gleichmut betrachtete. Unter dem fertigen Bild stand in feiner Tuscheschrift: für Frank.
Endlich konnte er weinen. Er drückte einen herumliegenden Farblappen gegen seine Augen und spürte den Druck, mit dem die Wassermassen seinen Körper verließen und an ihm herabströmten. Als er das durchnäßte Tuch von seinem Gesicht nahm, saß Raphaela nur wenig entfernt von ihm und hatte ihren ruhigen Blick auf ihn gerichtet. Sie kannte ihn genau. Als er jetzt die ersten Worte sprach, wunderte er sich über die Klarheit seiner eigenen Stimme. "Sie hat mich gemeint. Nicht nur dich, Raphaela." Die Katze hörte ihren Namen und stellte ihre Ohren ein wenig weiter nach vorn, Gudruns Liebste. Ach, ach! Liebste Gudrun!
Frank nahm nur die Katze mit, vergaß sogar seinen Schal, nunmehr zum zweiten Mal. Raphaela, das letzte bißchen Leben von Gudrun, würde heute in sein Appartment einziehen. Um den Rest hier mochten sich die Nachfahren kümmern.
Es würde sich alles ändern für ihn. Aber war das nicht schon längst geschehen?