Nur noch eine Chance

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Arcos

Mitglied
Wenn du jemand anderen heiratest,
dann heiratest du auch seine Probleme, Baby.

Meine kennst du bereits.
Sie sind heulende Katzen in der Nacht,
die dich nur selten wecken.
Wenn du den letzten Traum abgeschüttelt hast,
erkennst du ihr harmloses Gejammer.
Ein kleiner Säugling,
der die Brust seiner Mutter vermisst.

Nun lass das Eis wieder tauen
und das Rinnsal der Vergebung
langsam hinunterfließen.
Vielleicht wächst es zu einem klaren Bach,
der unter blauem Himmel zwischen Bäumen fließt.
Er bringt den Vögeln das Wasser
und den Fischen die gesamte Welt.

Nein,
ich will nicht meine Hände in Unschuld waschen, Baby.
Der Schmutz soll mich immer
an die Tage deiner Tränen erinnern.
An den Dolch, der deinen Arm streifte
und jetzt tief in meinem Herzen steckt.
 

sufnus

Mitglied
Hey Arcos!
Für mich ist die zentrale Metapher, die den Duktus dieser Verse bestimmt, der Säugling (der sogar noch zusätzlich adjektivisch verkleinert wurde) und sein Jammern nach der Mutterbrust. Das ist psychologisch ein Bild maximaler Regression, die völlige Hilflosigkeit der Erzählstimme.
Auf eine Beziehung angewendet ist das eine extreme "Message", es beschreibt einen Zustand Säuglings-gleicher existentieller Abhängigkeit und appeliert bei der angesprochenen Person an den vielleicht am tiefsten verwurzelten Instinkt überhaupt, den Mutterinstinkt. In gewisser Weise steckt in diesem Appell auch ein sehr grenzüberschreitendes Momentum, denn wer sich dem Mutterinstinkt verweigert, der begeht den ultimativen Tabubruch.
Kann auf Basis einer solchen Pistole, die dem Gegenüber an den Kopf gehalten wird, der Neubeginn realisiert werden? Fast eine rhetorische Frage, aber nur fast, denn die Welt ist nicht schwarz und weiß und ein problematisches Bild entscheidet nicht über Wohl & Wehe. Bemerkenswert ist bei dem Gedicht außerdem, dass es einen doppelten Regressionspfeil gibt: Auch die Angesprochene wird zum Baby (klar, das ist erstmal ein konventioneller Kosename, aber im Zusammenklang mit der Selbstregression der Erzählstimme ist das womöglich nicht insignifikant).
Soweit meine, diesmal rein inhaltsgetriebenen und höchst unvollständig-subjektiven Gedanken.
LG!
S.
 

Arcos

Mitglied
Besten Dank sufnus für deine Gedanken.
Ja, wenn man sich schuldig gemacht hat, ist der Rückzug in die kindlichen Ängste fast automatisch, weil es so oft trainiert wurde. Zuerst wird die Schuld natürlich kleinlaut zugegeben, während man gleichzeitig zeigt, dass man selbst und die eigenen Absichten völlig harmlos und ohne Strategie und Hintergedanken sind. Dann versucht man eine Bestätigung zu bekommen, dass man doch eigentlich mit allem was man ist, bestens bekannt und vertraut ist.
Und am Ende kommt natürlich das Bitten um Vergebung, verziert mit Rosen, Blumenduft und einer Schleife aus feinstem hauchdünnem Gold.

Liebe Grüße
Önder
 

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Mitglied
Mir geht es ähnlich wie sufnus, lieber Önder!

Da eröffnen sich Ebenen in deinem Gedicht, in deren Tiefen man sich schon mal gerne verlieren kann.

Das Rinnsal der Vergebung, das den Vögeln das Wasser und den Fischen die gesamte Welt bringt, finde ich dabei besonders bemerkenswert.
Vergebung bedeutet ja zuallererst immer, die Verwundung anzuerkennen, und in deinem Gedicht ist der, der verwundet hat, der Partnerin schon einen Schritt voraus. Sehr stimmig finde ich auch, dass das LyrIch, dessen "Natur" der Text sehr authentisch und glaubhaft abbildet, in seiner Sprache bleibt - direkt und die eigenen Fehler eingestehend, aber nicht um Vergebung flehend (also einen gewissen, verbohrten Reststolz wahrend)...und das ist wiederum sehr stimmig!

Eine feine Darstellung eines Psychogramms und eines häufigen Kommunikations-Musters.
Der Text lässt offen, ob diese Art des "Eigentlich-nicht-aber-irgendwie-doch-um-Verzeihung-Bittens" beim Gegenüber ankommt oder die Fronten eher verhärtet. Und das ist wiederum sehr lebensnah, denn für die einen funktioniert das fabelhaft, bei anderen Paaren verhärtet das die Fronten enorm.

Sehr gerne gelesen! Und auch die Rafinessen, die sufnus schon ausreichend dargelegt hat, habe ich so wahrgenommen. Ob jetzt "passiert" oder bewusst so gestaltet ist letztlich egal...die meisterliche Leistung schmälert es so oder so nicht! Ein tolles Gedicht, das sich wie eine Zwiebel in ihrem vollen Aroma Schicht für Schicht entfaltet. Sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße,
Claudia
 

Arcos

Mitglied
Vielen herzlichen Dank liebe Claudia für die tolle Kritik.
Habe mich sehr darüber gefreut.

Es ist schön zu sehen, dass das Werk beim Leser auch genauso ankommt, wie es ursprünglich geplant war.

Die vielschichtige Tiefe, die in einer einfachen Sprache definiert und beschrieben wird.

Die zwei Seiten des kleinen Kindes:
Die anbetungswürdige Schönheit und Reinheit gepart mit der Hilfsbedürftigkeit und Harmlosigkeit.

Fast immer ist es auch so, dass man völlig übersieht, wie tief die Wunde desjenigen ist, der selber die anderen vielleicht nur leicht gestreift hat, wie lange er mit sich selber gerungen hat, während das schlechte Gewissen langsam seine gesamte Persönlichkeit, sein Denken, umschloss.
Er will und kann es nicht zugeben, bewahrt die Maske und die Rüstung, unter der das Blut aus der klaffenden Wunde quillt.

Liebe Grüße
Önder
 



 
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