Objektiv subjektiver

Irgendwann fängt ein älterer Mann mit gewissem intellektuellen Anspruch (so wie ich) an zu philosophieren. Und da mit den Jahren von Natur aus der körperlichen Lust in der Praxis immer engere Grenzen gesetzt sind, lag es nahe, sich rein philosophisch (sprich: theoretisch) mit der Liebe auseinander zu setzen. Denn die Sehnsucht danach hört einfach nicht auf. Und selbstredend wäre ich als Alter gern noch das begehrte Objekt einer möglichst tiefen Leidenschaft.
Doch es fanden sich keine Frauen, die mich als Opfer ihrer unstillbaren Liebeslust akzeptieren wollten.
So blieb mir vor allem die Rolle des Subjekts, des angeblich überzeugten Eigenbrödlers, der objektiv betrachtet nahezu unbemerkt immer einsamer zu werden drohte und genau das sich ungern eingestand.
Liebe dient, genauer betrachtet, einer möglichst gelungenen gleichberechtigten Verbindung aus Objekt und Subjekt. Einerseits das Objekt, das sich fallen sowie gefallen lassen kann und andererseits das Subjekt, das auffängt, damit das Objekt, das ansonsten auch als Subjekt auftritt, sich nicht fallen gelassen fühlt. Kompliziert und doch wahr.
In meiner damalige Lage, vor der mich meine Frau Eva eines bedeutend jüngeren Liebesobjektes wegen fallen ließ, ohne auch nur die geringesten Anstalten zu machen, mich aufzufangen, verbrachte ich meine Zeit als Objekt suchendes Subjekt.
Eigentlich heiße ich Heinrich. Doch das klang mir immer schon viel zu altmodisch. Also pries ich mich selbstüberschätzend als Heiner an, einen rüstigen und unternehmungslustigen zukünftigen Partner im allerbesten Mannesalter – sportlich, zärtlich und zärtlichkeitsbedürftig, an Kultur interessiert, mit Führerschein und eigenem Wagen.
Selbstverständlich suchte ich eine jüngere Frau, mit der ich noch bestens mithalten zu können glaubte.
Wenn Eva sich einem über zwanzig Jahre jüngeren Galan zuwenden konnte, dann konnte ich mir das als Mann bei einer jungen Frau schon lange leisten.
Und im Grunde war mir Eva, die mich knapp ein Jahr zuvor verließ, ohnehin viel zu alt. Das hatte ich ihr aus Gründen der Höflichkeit nie eingestanden, aber aus Rache, nachdem sie mich verließ, in einem vorläufig letzten gemeinsamen Telefonat durchaus verdeutlicht.

Klar, war es mir peinlich, mich auf elektronische Partnersuche zu begeben.
Aber wenn ich unverzagt den zeitgemäßen Weg der Partnerschaftsanbahnung einschlug, zeugte das immerhin auch davon, dass ich noch in der glücklichen Lage war, mit der Zeit zu gehen. Aufgeben wäre doch selbst in meinem Alter vollkommen unmännlich.
Natürlich hätte ich – wie viele meiner Altersgenossen – mich auch als erklärter Gegner virtueller Welten ausgeben und auf realen Ü-Sechzig-Parties wahllos herumflirten können.
Doch als eingefleischter Nichttänzer wäre ich dort chancenlos. Ich punktete bei Frauen schon immer, wenn ich mich sitzend mit ihnen unterhielt. Denn ich habe Humor. Und das mögen Frauen aller Altersklassen.
Außerdem sind Damen unter sechzig Lebensjahren bei diesen Parties ohnehin nur beim gastronomischen Personal zu finden.
Aber was sollte ich mit einer Freundin, die abends kellnern, hinter der Bar oder in der Küche stehen muss.
Gerade am Abend ist Alleinsein vor dem Fernsehgerät, das einen sentimentalen Liebesfilm nach dem anderen zeigt, besonders schmerzhaft. Ich kann doch nicht nur immer Krimis und Kulturprogramme ansehen. Und wenn in einem Werbespot auch noch vital aussehende Senioren von vital kräftigenden Mitteln schwärmen, die angeblich bis ins hohe Alter wirken, zeigen sich bei mir folgerichtig und überfallartig extrem altersdepressive Symptome.
Ich gestehe es ungern, aber mir kamen einmal, da ich wieder allein und zu lange vor dem Gerät saß, bei einer Liebesszene in einem ansonsten äußerst brutalen Krimi ganz unerwartet die Tränen. Zum schnellen Trost mehrere Cognak zu trinken, wäre in meinem Alter weder gesundheitsfördernd noch – bei meinen damaligen depressiven Neigungen - wirklich lustig.

Nun, schließlich wollte sie mich zum ersten Mal leibhaftig besuchen, die bisher virtuelle Renate, mit der ich viel über Liebe philosophierte und schließlich über Einsamkeit geklagt hatte. Wenn meine Internet-Partnerinnensuch-Bekanntschaft mir nicht nur Photos aus jüngeren Lebensjahren präsentiert hatte, musste sie noch recht frisch aussehen. Ihr Alter hatte sie mir bisher verschwiegen. Ich ihr das meine auch.
Eigentlich wollte Renate ja, dass ich zuerst sie in ihrer Wohnung besuche. Aber ich fühlte mich als Objekt einer neuen Bekanntschaft in der mir bekannten Umgebung einfach sicherer.
So überzeugte ich sie mit der Ausrede, ich könne das Haus nicht verlassen, da ich meiner alten kranken Nachbarin zuliebe, mich dieser zur Verfügung halten wollte. Offenbar hatte ich mit dieser sozialen Einstellung bei Renate zusätzlich gepunktet, auch wenn – was meine Internet-Bekanntschaft nicht wusste - Nachbarin Elke erst zweiundfünfzig Jahre zählt und ihre sehr leichte Grippe schon fast auskuriert hatte.
Selbstverständlich hatte ich alles für Renates Empfang vorbereitet. Und da ich auch zu der Zeit bereits zu einer gewissen Erinnerungsschwäche neigte, hoffte ich, nichts Wesentliches vergessen zu haben.
Das Sonntagsgeschirr stand auf einer weißen Tischdecke so, dass wir nebeneinander auf der Couch sitzen mussten. Ich war eben schon immer ein Stratege und Taktiker. Ein teurer italienischer Rotwein, dessen Marke ich bisher nicht kannte, wartete wohl temperiert. Die beiden silbernen Kerzenleuchter aus dem Erbe meiner reichen Großmutter verbreiteten romantisches Licht neben einer Vase mit fünfzehn hellroten langstieligen Rosen. Fünfzehn, da wir seit 15 Wochen virtuell bekannt waren. Und hellrote Rosen, da dunkelrote viel zu eindeutig gewesen wären .
Obwohl mir Eva zur silbernen Hochzeit sogar einen gemeinsamen Kochkurs schenken wollte, bin ich ein schlechter Koch geblieben. So ließ ich ein Wildgericht mit Steinpilzen in meinem Stammrestaurant so vorbereiten, dass ich es nur noch im Backofen aufzuwärmen brauchte.
Das alte Ehe-Bett hatte ich, obwohl ich mir damit durchaus auch Zeit lassen wollte, für alle Fälle frisch bezogen.
Ich schlief, seitdem Eva mich verlassen hatte, auf der Couch im Wohnzimmer. Allein habe ich im Ehebett viel zu viel Platz und nichts zum Anlehnen.
Das Bad hatte ich gründlich geputzt und auch dort ein paar Kerzen aufgestellt.
In meinen offenen Hemdkragen sprühte ich drei Spritzer meines Parfüms mit der angeblich besonders sportlichen Note – passend zu meinem Deo, der mich laut Etikett ebenfalls sportlich frisch duften lassen sollte.

Und dann klingelte es.
Die Wohnzimmeruhr zeigte fünf Minuten nach drei.
Sie wollte eigentlich erst eine Stunde später kommen.
Hastig schaute ich im Flur in den Garderobenspiegel, griff mir ins noch relativ volle graue Haar, um es in gepflegte Unordnung zu bringen. Wollte doch nicht steif oder gar überkorrekt erscheinen.
Neugierig spähte ich durch den Spion meiner Wohnungstür. Ich vermutete, sie hatte sich so hingestellt, dass ich sie nicht vorzeitig begutachten konnte.
Langsam öffnte ich die Tür und schaute um die Ecke.
Da stand sie.
Elke. Meine Nachbarin.
Einen Wollschal um den Hals und krächzte leise: „Hallo Dieter!“

Elke und ich, wir waren, nachdem meine Frau abgehauen ist, schnell per du. Hatten vor Monaten bei einem Gespräch im Treppenhaus nach einigem Drumherumgerede unsere Leidensgenossenschaft festgestellt.
Ihr Mann kam ihr vor gut einem Jahr mit einer jüngeren – wie sie fand, erstaunlich unattraktiven - Kollegin abhanden.
Elke lud mich nach dem Treppenhaus-Gespräch zu sich ein. Wir tranken ein paar Cognak und bedauerten uns dezent aber nachdrücklich. Spontaner Überschwang schien auch nicht ihre Art zu sein.
Zum Abschied umarmten wir uns dennoch ungewöhnlich lange. Nun, gegenseitiger Trost ist halt Labsal für wunde Seelen.
Seitdem hatten wir uns ein paar Mal jeweils in einer unserer Wohnungen getroffen.
Aber es wollte zwischen uns kein richtiges Gespräch aufkommen. Schließlich gestanden wir uns nach einigen Gläsern Rotwein ein, dass wir wohl doch jeder ein gänzlich anderes Beuteschema hätten.
Mir war Elke, was ich ihr so nicht sagen konnte, als spätes blondes Naivchen, nicht intellektuell, und als mütterlicher Typ nicht vollschlank genug. Sie hingegen stand wegen ihrer angeblich empfindlichen Haut nicht auf Bart und meinen Versuchen, mich intellektuell zu geben, begegnete sie mit Miss- und Unverständnissen.
„Ich mag eher so liebevolle Vatertypen, die weniger reden.“ Erklärte sie mir und streichelte sich dabei nachhaltig die entbößten Schultern und Oberarme.

Als Elke da so vor meiner Tür stand, schaute sie mich unterwürfiger an, als ich von ihr gewohnt war. Eigentlich ein Blick, der mir irgendwo auch gefiel.
„Kann ich reinkommen?“
„Na klar!“
Sofort machte sie sich auf den bekannten Weg ins Wohnzimmer und blieb staunend vor dem gedeckten Tisch stehen.
„Oh, du erwartest Besuch?“
„Ja, ich habe da neulich eine kennen gelernt…! Sie will mich heute zum ersten Mal hier besuchen.“
Elke lächelte. „Schön für dich!“
„In spätestens einer Stunde will sie hier sein.“
„Darf ich dir vorher noch ein bisschen Gesellschaft leisten.“
Obwohl ich weniger begeistert war, nickte ich höflich.
Elke schaute sich um. „Die Rosen nur dezent rot. Sehr gut, mein Lieber. Was gibts denn zu essen?“
„Wild mit Steinpilzen. Weiß gar nicht, was das für ein Fleisch ist. Vermutlich Wildschwein.“
„Hauptsache wild, was?!“ Elke drohte mir grinsend mit dem Finger. „Hast du denn auch an Nachtisch gedacht? Erdbeeren auf Eis in Sekt, zum Beispiel? Soll sehr anregend sein. Wenn nötig, ich habe alles im Kühlschrank.“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Warm ist es bei dir!“ Elke wickelte sich den Schal vom Hals und zog den Reißverschluss ihres Pullovers ein Stück zu weit herunter. Ihr Hals und Brustansatz waren beinahe noch faltenfrei.
Sie setzte sich auf die Couch und lud mich ein, sich neben sie zu setzen. „Sollen wir mal proben. Damit nachher nichts schief geht?“
Ich zögerte.
„Na, komm schon!“
Als ich mich neben sie setzte, rückte sie unwillkürlich zur Seite. „Nicht ganz so stümisch, lieber Nachbar…!“
Erschrocken, aber unwillig wich ich zurück und ließ mich in die Polster zurückfallen.

„Einsamkeit ist eine Giftmischerin. Sie lässt sich viel Zeit und mordet mit kleinen Dosen.“
Elke lachte laut. „Nicht gleich so Mitleid heischend, mein armer verlassener Dieter.“
„Das Land der Sehnsucht liegt für Liebende immer zwischen Geborgenheit und Freiheit!“
Jetzt bekam meine Nachbarin feuchte Augen. „Das hast du selbstverständlich wunderbar gesagt. Klingt sehr romantisch. Aber Romantik ist erst später angesagt. Du musst dein Gespräch harmloser beginnen. Zum Beispeil so… ja, und wie war denn die Reise? Hast du es gut hierher gefunden?“
„Und dann noch übers Wetter? Oder?! Ich hasse Small Talk!“
Elke ballte die Hände zu Fäusten. „Auch Small Talk will gekonnt sein!“
„Also gut, wie war sie denn. Die Reise, meine ich?“
„Auch wenn sie nicht so lang war, wird sie behaupten, sie sei unendlich lange unterwegs gewesen. Und dass sie beinahe in den falschen Zug umgestiegen wäre. Frauen, die einen Beschützer suchen, geben sich mit Vorliebe hilflos. Verstehst du?“
„Möchtest du dich gern erst frisch machen?“
„Gute Idee, dann kann sie sich im Bad umschauen und Frisur und Make up in Ordnung bringen.“
Elke stand auf und ging zum Bad.
In der Zwischenzeit zündete ich die Kerzen auf dem Tisch an, stellte das Essen in den Backofen und goss leicht zitternd, aber ohne zu kleckern, den teuren Rotwein in die Gläser.
Endlich kam Elke zurück. Frisch frisiert. Mit roten Lippen.
Ob die einen Lippenstift dabei hatte oder den alten meiner Frau nahm, der immer noch auf dem Glasregal vor dem Spiegel stand? Dieses leuchtende Rot kam mir jedenfalls bekannt vor.
Sie setzte sich neben mich. „Oh, Rotwein. Trocken?“
„Hoffentlich dein Geschmack?
„Wein, den ich trinke, muss immer trocken sein. Sogar zu Fisch. Auch wenn man zu Fisch ja eher Weißwein …“
„Man sollte trinken, was einem schmeckt und auf die Etikette pfeifen.“
„Ich liebe unkonventionelle Männer…“ gab sich Elke begeistert und rückte ein Stück näher.
Auch ich rückte.
Sie roch irgendwie nach Pfefferminz und Heu. Wie damals Eva. Als wir beide noch sehr jung waren.
„Tolles Parfüm!“
„Habe ich mir gestern erst gekauft. Ich mag so frische Düfte.“

Es klingelte.
Elke zuckte zusammen.
Vorsichtig streichelte ich ihr den Oberarm. „Das ist die Uhr am Herd. Das Essen ist so weit.“
„Bleib sitzen, Dieter.“
Nach wenigen Minuten kam sie aus der Küche mit einem Tablett zurück. Das Essen hatte sie darauf in Schüsseln und Teller verteilt.

Und dann klingelte es schon wieder.
Ich wollte aufstehen. Elke nahm mich in den Arm, hielt mich neben sich fest und drückte mich vorsichtig an sich.
„Aber ich kann sie doch nicht einfach vor der Tür stehen lassen. Immerhin hat sie eine ziemlich lange Reise auf sich genommen.“
„Lass mich machen.“
Elke ging in den Flur und kam kurz darauf kichernd zurück. „Der Hausmeister. Er will wissen, ob die Heizung jetzt warm genug sei. Er hat sie entlüftet.“
Ich nickte. Elke ging erneut zur Wohnungstür.
Es dauerte, bis sie wieder erschien, den Pullover ausgezogen und irgendwie anzüglich lächelnd. Ihre dünne Bluse umspannte eine durchaus ansehnliche Brust, die mir vorher nie so aufgefallen war.
Sie setzte sich sehr nah neben mich und reichte mir einen Teller mit dampfenden Fleisch. „Ist tatsächlich Wildschwein…“
Als ich während des Essens, um meine Arme besser bewegen zu können, ein wenig von ihr abrutschte, rutschte sie nach.
Gerade wollte ich ein Stück Fleisch in den Mund schieben, da klingelte es erneut.
Elke griff zum Weinglas und prostete mir zu. „So, und nun geh schon. Eine Dame darf man bekanntlich nicht warten lassen.“
„Doch.“ Ich trank betont langsam noch einen Schluck.

Im Treppenhaus stand eine etwas ältere Frau mit einem kleinen verschleierten Hütchen. Ihr gerötetes Gesicht, tief eingebettet in einen hellgrauen Pelzkragen eines langen dunkelgrauen Tuchmantels, lächelte mich erwartungsvoll an.
„Ich bin die Renate.“ Sie schnappte nach Luft. „Die Renate aus dem Internet.“
„Heiner!“ sagte ich mit bemüht dunkler Stimme. „Heiner, ebenfalls aus dem Internet.“
Sie deutete kokett einen Knicks an.
Ich deutete eine Verbeugung an. „Ja, schön, dass du hergefunden hast. Dann komm doch rein.“
Langsam zurückweichend gab ich die Türöffnung frei und machte Anstalten, ihr aus dem Mantel zu helfen. Ein Schwall süßlichen Parfüms raubte mir fast den Atem.
„Wenn du dich erst frisch machen möchtest. Da ist mein Bad.“
„Oh, ja danke. So eine Reise ist doch anstrengend.“ Sie verschwand hinter der Badtür, während ich ins Wohnzimmer ging.
Dort hatte Elke offenbar alles aufgeräumt und zwei saubere Weingläser, Teller und Geschirr hingestellt. Allerdings so, dass Renate und ich uns auf je einem Stuhl gegenüber hinsetzen mussten.
In der Küche drehte sie mir den Rücken zu. „Lass mich nur machen. Ich bin halt die Nachbarin, die dir ein wenig zur Hand geht. Kümmere du dich ruhig um deine Renate…!“
Die brauchte offenbar lange, bis sie sich in jenen Zustand verwandelt hatte, der ihr präsentabel erschien.
Schließlich klopfte es leise an der Wohnzimmertür. Ich stand auf und wollte ihr öffnen, begegnete zunächst aber erst wieder ihrem süßlichen Duft. Vorsichtig trat ich zwei Schritte zurück. Da stand sie in der Türöffnung. Die braun gefärbeten Haare straff hinter dem Kopf hochgesteckt. In einem ein wenig zu engen wenige Zentimeter zu kurzen hellgrünen Kleid, das an gewissen Stellen leichte Probleme mit ihrer Figur hatte.
Lächelnde zog sie ein Paar gezupfte, stark schwarz nachgezogene Augenbrauen hoch, um offenbar begeistert ihre Augen aufreißen zu können.
Ich zog den Stuhl, vor dem ihr das von Elke zugedachten Gedeck aufgebaut war, unter dem Tisch hervor und wies mit der Hand auf den Sitz. „Möchtest du hier?“
Behutsam schob ich ihr den Stuhl unter das nicht zu, aber doch eher umfangreichere Hinterteil.
Als sie saß, seufzt sie erleichtert auf.
In dem Moment kam Elke mit dem Essen aus der Küche.
„Eine Nachbarin!“ stellte ich sie Renate vor, die unter leichtem Stirnrunzeln ihren vollständigen Namen murmelte.
„Wie bitte?“ fragte Elke zurück.
„Renate von der Mühlen.“
„Adel?“ fragte ich erstaunt. Bisher hatten wir per Internet nur unsere Vornamen ausgetauscht.
„Ja, verarmter Landadel.“ Ihre Stimme klang bemüht bescheiden.
„Elke von Nebenan!“ knurrte meine Nachbarin. „Kein Adel und auch nicht reich.“
Allmählich kam ich mir vor wie in einem Schwank im Volkstheater.
„Meine Nachbarin hat mir ein wenig bei allem geholfen. Schließlich empfange ich ja nicht jeden Tag eine Dame.“
Elke nickte. „Wir sind halt seit Jahren gute und seit einem Jahr bessere Nachbarn…“
„Wie muss ich das verstehen?“ wollte Renate wissen.
„Naja, unsere Partner haben uns von jetzt auf gleich verlassen. Gemeinsames Leid verbindet halt ungemein.“
Renate legte den Kopf ungewöhnlich schief. „Kann ich sehr gut verstehen.“
Elke lächelte. „Ja, dann werde ich mich mal wieder nach nebenan zurückziehen.“
„Willst du nicht bleiben? Das Essen reicht bestimmt auch für drei.“ Ich bot ihr den Platz auf der Couch an.
Renate beeilte sich zu versichern, dass sie sich wirklich freuen würde, wenn sie bliebe.
Elke lehnte ohne jedes Zögern ab.

In meiner Wohnung passierte danach nichts Aufregendes mehr.
Renate plauderte aus ihrem inzwischen dreijährigen Witwenleben. „Mein Mann war Jurist. Ein ziemlich erfolgreicher sogar. Und irgendwie liebevoll war er auch, aber doch eher ein Kopfmensch, der halt am liebsten über Rechtsfragen stritt. Trotzdem hat er mir kein vernünftiges Testament hinterlassen. Aber von seiner Pension lebt es sich als seine Witwe recht komfortabel.“
Ich versicherte ihr, dass ich eine gute Rente bekomme und meine Ex-Frau bisher nicht geäußert hätte, sich mit mir über Unterhaltsfragen streiten zu wollen. Immerhin habe auch sie stets gut verdient.
Das schien Renate zu beruhigen. „Nichts wäre schlimmer als Altersarmut“, resümmierte sie. Danach verabschiedete sie sich ziemlich hastig.
„Ja, und das nächste Mal sehen wir uns bei mir?“ Sie riss ihre Augen auf und lachte.
Ich nickte. „Am besten telefonieren wir in den nächsten Tagen, um einen Termin auszumachen.“
Einen Moment zu lange blieben ihre Augen in jenem Zustand vermeintlich unwiderstehlicher
Offenheit.

Sie ging kurz darauf und hinterließ vor allem ihren Duft.
Ich verließ meine Wohnung, stieg nachdenklich die Treppe zum nächsten Stockwerk hinauf, klingelte bei Elke, umarmte sie schon in ihrem schmalen Flur und rief: „Und jetzt habe ich gegen deinen Nachtisch rein gar nichts mehr einzuwenden, geliebte Nachbarin!“
 
Irgendwann fängt ein älterer Mann mit gewissem intellektuellen Anspruch an zu philosophieren. Und da mit den Jahren von Natur aus der körperlichen Lust in der Praxis immer engere Grenzen gesetzt sind, lag es nahe, sich rein philosophisch (sprich: theoretisch) mit der Liebe auseinander zu setzen. Die Sehnsucht danach hört einfach nicht auf. Gern wäre ich als Alter noch das begehrte Objekt einer möglichst tiefen Leidenschaft.
Doch es fanden sich keine Frauen, die mich als Opfer ihrer Liebeslust akzeptieren wollten.
So blieb mir vor allem die Rolle des Subjekts, des angeblich überzeugten Eigenbrödlers, der objektiv betrachtet nahezu unbemerkt immer einsamer zu werden drohte und genau das sich ungern eingestand.
Liebe dient, genauer betrachtet, einer möglichst gelungenen gleichberechtigten Verbindung aus Objekt und Subjekt. Einerseits das Objekt, das sich fallen sowie gefallen lassen kann und andererseits das Subjekt, das auffängt, damit das Objekt, das ansonsten auch als Subjekt auftritt, sich nicht fallen gelassen fühlt. Kompliziert und doch wahr.
In meiner damalige Lage, vor der mich meine Frau Eva eines bedeutend jüngeren Liebesobjektes wegen fallen ließ, ohne auch nur die geringesten Anstalten zu machen, mich aufzufangen, verbrachte ich meine Zeit als Objekt suchendes Subjekt.
Eigentlich heiße ich Heinrich. Doch das klang mir immer schon viel zu altmodisch. Also pries ich mich selbstüberschätzend als Heiner an, einen rüstigen und unternehmungslustigen zukünftigen Partner im allerbesten Mannesalter – sportlich, zärtlich und zärtlichkeitsbedürftig, an Kultur interessiert, gutes Essen liebend, mit Führerschein und eigenem Wagen.
Selbstverständlich suchte ich eine jüngere Frau.
Wenn Eva sich einem über zwanzig Jahre jüngeren Galan zuwenden konnte, konnte ich mir das als Mann bei einer jungen Frau schon lange leisten.
Und im Grunde war mir Eva, die mich knapp ein Jahr zuvor verließ, ohnehin viel zu alt. Das hatte ich ihr aus Gründen der Höflichkeit nie eingestanden, aber aus Rache, nachdem sie mich verließ, in einem vorläufig letzten gemeinsamen Telefonat durchaus verdeutlicht.

Klar, war es mir peinlich, mich auf elektronische Partnersuche zu begeben.
Aber wenn ich unverzagt den zeitgemäßen Weg der Partnerschaftsanbahnung einschlug, zeugte das immerhin davon, dass ich noch in der glücklichen Lage war, mit der Zeit zu gehen. Aufgeben wäre doch selbst in meinem Alter vollkommen unmännlich.
Natürlich hätte ich – wie viele meiner Altersgenossen – mich auch als erklärter Gegner virtueller Welten ausgeben und auf realen Ü-Sechzig-Parties wahllos herumflirten können.
Doch als eingefleischter Nichttänzer wäre ich dort chancenlos. Ich punktete bei Frauen schon immer, wenn ich mich sitzend mit ihnen unterhielt. Denn ich habe Humor. Und das mögen Frauen aller Altersklassen.
Zudem sind Damen unter sechzig Lebensjahren bei diesen Parties ohnehin nur beim gastronomischen Personal zu finden.
Aber was sollte ich mit einer Freundin, die abends kellnern, hinter der Bar oder in der Küche stehen muss.
Gerade am Abend ist Alleinsein vor dem Fernsehgerät, das einen sentimentalen Liebesfilm nach dem anderen zeigt, besonders schmerzhaft. Ich kann doch nicht nur immer Krimis und Kulturprogramme ansehen. Und wenn in einem Werbespot auch noch vital aussehende Senioren von vital kräftigenden Mitteln schwärmten, die angeblich bis ins hohe Alter wirkten, zeigten sich, auch wenn ich mich davon nicht beeiflussen lassen wollte, bei mir folgerichtig und überfallartig altersdepressive Symptome.
Ich gestehe es ungern, aber mir kamen einmal, da ich wieder allein und zu lange vor dem Gerät saß, bei einer Liebesszene in einem ansonsten brutalen Krimi unerwartet die Tränen. Zum schnellen Trost mehrere Cognak zu trinken, wäre in meinem Alter weder gesundheitsfördernd noch – bei meinen damaligen depressiven Neigungen - wirklich lustig.

Nun, schließlich wollte sie mich zum ersten Mal leibhaftig besuchen, die bisher virtuelle Renate, mit der ich viel über Liebe philosophierte und schließlich über Einsamkeit klagte. Wenn meine Internet-Partnerinnensuch-Bekanntschaft mir nicht nur Photos aus jüngeren Lebensjahren präsentiert hatte, musste sie noch recht frisch aussehen. Ihr Alter hatte sie mir bisher verschwiegen. Ich ihr das meine auch.
Eigentlich wollte Renate ja, dass ich zuerst sie in ihrer Wohnung besuchte. Aber ich fühlte mich als Objekt einer neuen Bekanntschaft in der mir bekannten Umgebung einfach sicherer.
So überzeugte ich sie mit der Ausrede, ich könne das Haus nicht verlassen, da ich meiner kranken Nachbarin zuliebe, mich dieser zur Verfügung halten wollte. Offenbar hatte ich mit dieser sozialen Einstellung bei Renate zusätzlich gepunktet, auch wenn – was meine Internet-Bekanntschaft nicht wusste - Nachbarin Elke erst zweiundfünfzig Jahre zählt und ihre Grippe schon fast auskuriert hatte.
Selbstverständlich hatte ich alles für Renates Empfang vorbereitet. Und da ich bereits zu gewissen Erinnerungsschwächen neigte, hoffte ich, nichts vergessen zu haben.
Das Sonntagsgeschirr stand auf einer weißen Tischdecke so, dass wir nebeneinander auf der Couch sitzen mussten. Ein teurer italienischer Rotwein, dessen Marke ich bisher nicht kannte, wartete wohl temperiert. Die beiden silbernen Kerzenleuchter aus dem Erbe meiner reichen Großmutter verbreiteten romantisches Licht neben einer Vase mit fünfzehn hellroten langstieligen Rosen. Fünfzehn, da wir seit 15 Wochen virtuell bekannt waren. Und hellrote Rosen, da dunkelrote zu eindeutig gewesen wären .
Obwohl mir Eva zur silbernen Hochzeit einen gemeinsamen Kochkurs schenkte, bin ich ein schlechter Koch geblieben. So ließ ich ein Wildgericht mit Steinpilzen in meinem Stammrestaurant so vorbereiten, dass ich es nur noch im Backofen aufzuwärmen brauchte.
Das alte Ehe-Bett hatte ich, obwohl ich mir damit durchaus auch Zeit lassen wollte, für alle Fälle frisch bezogen.
Ich schlief, seitdem Eva mich verlassen hatte, auf der Couch im Wohnzimmer. Allein habe ich im Ehebett viel zu viel Platz und nichts zum Anlehnen.
Das Bad hatte ich gründlich geputzt und auch dort ein paar Kerzen aufgestellt.
In meinen offenen Hemdkragen sprühte ich drei Spritzer meines Parfüms mit der angeblich besonders sportlichen Note – passend zu meinem Deo, der mich laut Etikett ebenfalls sportlich frisch duften lassen sollte.

Und dann klingelte es.
Die Wohnzimmeruhr zeigte fünf Minuten nach drei.
Eigentlich wollte sie erst eine Stunde später kommen.
Hastig schaute ich im Flur in den Garderobenspiegel, griff mir ins noch relativ volle graue Haar, um es in gepflegte Unordnung zu bringen. Wollte keinesfalls überkorrekt erscheinen.
Neugierig spähte ich durch den Spion meiner Wohnungstür. Sie hatte sich wohl so hingestellt, dass ich sie nicht vorzeitig begutachten konnte.
Langsam öffnte ich die Tür und schaute um die Ecke.
Da stand sie.
Elke. Meine Nachbarin.
Einen Wollschal um den Hals und krächzte leise: „Hallo Dieter!“

Elke und ich waren, nachdem meine Frau abgehauen war, schnell per du. Hatten vor Monaten bei einem Gespräch im Treppenhaus nach einigem Drumherumgerede unsere Leidensgenossenschaft festgestellt.
Ihr Mann kam ihr vor gut einem Jahr mit einer jüngeren – wie sie fand, erstaunlich unattraktiven - Kollegin abhanden.
Elke lud mich nach dem Treppenhaus-Gespräch zu sich ein. Wir tranken ein paar Cognak und bedauerten uns dezent. Spontaner Überschwang schien auch nicht ihre Art zu sein.
Zum Abschied umarmten wir uns ungewöhnlich lange.
Seitdem hatten wir uns ein paar Mal jeweils in einer unserer Wohnungen getroffen.
Aber es wollte zwischen uns kein richtiges Gespräch aufkommen. Schließlich gestanden wir uns nach einigen Gläsern Rotwein ein, dass wir wohl doch jeder ein gänzlich anderes Beuteschema hätten.
Mir war Elke, was ich ihr so nicht sagen konnte, als blondes Naivchen, nicht intellektuell, und als mütterlicher Typ nicht vollschlank genug. Sie hingegen stand wegen ihrer angeblich empfindlichen Haut nicht auf Bart. Und meinen Versuchen, mich intellektuell zu geben, begegnete sie mit Miss- und Unverständnis.
„Ich mag eher so liebevolle Vatertypen, die weniger reden.“ Erklärte sie mir und streichelte sich dabei nachhaltig die entbößten Schultern und Oberarme.

Als Elke da so vor meiner Tür stand, schaute sie mich unterwürfiger an, als ich von ihr gewohnt war. „Kann ich reinkommen?“
„Na klar!“
Sofort machte sie sich auf den bekannten Weg ins Wohnzimmer und blieb vor dem gedeckten Tisch stehen.
„Oh, du erwartest Besuch?“
„Ja, ich habe da neulich eine kennen gelernt…! Sie will mich heute zum ersten Mal hier besuchen.“
Elke lächelte. „Schön für dich! Darf ich dir vorher noch ein bisschen Gesellschaft leisten.“
Elke schaute sich um. „Die Rosen nur dezent rot. Sehr gut, mein Lieber. Was gibts denn zu essen?“
„Wild mit Steinpilzen. Weiß gar nicht, was das für ein Fleisch ist. Vermutlich Wildschwein.“
„Hauptsache wild, was?!“ Elke drohte mir grinsend mit dem Finger. „Hast du denn auch an Nachtisch gedacht? Erdbeeren auf Eis in Sekt, zum Beispiel? Soll sehr anregend sein. Ich glaube, ich habe da noch was im Kühlschrank.“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Warm ist es bei dir!“ Elke wickelte sich den Schal vom Hals und zog den Reißverschluss ihres Pullovers ein Stück herunter. Ihr Hals und Brustansatz waren beinahe noch faltenfrei.
Sie setzte sich auf die Couch und lud mich ein, sich neben sie zu setzen. „Sollen wir mal proben. Damit nachher nichts schief geht?“
Ich zögerte.
„Na, komm schon!“
Als ich mich neben sie setzte, rückte sie unwillkürlich zur Seite. „Nicht ganz so stümisch, lieber Nachbar…!“
Erschrocken, aber unwillig wich ich zurück und ließ mich in die Polster zurückfallen.

„Einsamkeit ist eine Giftmischerin. Sie lässt sich viel Zeit und mordet mit kleinen Dosen.“
Elke lachte laut. „Nicht gleich so Mitleid heischend, mein armer verlassener Dieter.“
„Das Land der Sehnsucht liegt für Liebende immer zwischen Geborgenheit und Freiheit!“
„Das hast du selbstverständlich wunderbar gesagt. Aber Romantik ist erst später angesagt. Du musst dein Gespräch harmloser beginnen. Zum Beispeil so… ja, und wie war denn die Reise? Hast du es gut hierher gefunden?“
„Und dann noch übers Wetter? Oder?! Ich hasse Small Talk!“
Elke ballte die Hände zu Fäusten. „Auch Small Talk will gekonnt sein!“
„Also gut, wie war sie denn. Die Reise, meine ich?“
„Auch wenn sie nicht so lang war, wird sie behaupten, sie sei unendlich lange unterwegs gewesen. Und dass sie beinahe in den falschen Zug umgestiegen wäre. Frauen, die einen Beschützer suchen, geben sich mit Vorliebe hilflos. Verstehst du?“
„Möchtest du dich gern erst frisch machen?“
„Gute Idee, dann kann sie sich im Bad umschauen und Frisur und Make up in Ordnung bringen.“
Elke stand auf und ging zum Bad.
In der Zwischenzeit zündete ich die Kerzen auf dem Tisch an, stellte das Essen in den Backofen und goss leicht zitternd, aber ohne zu kleckern, den teuren Rotwein in die Gläser.
Endlich kam Elke zurück. Frisch frisiert. Mit roten Lippen.
Ob die einen Lippenstift dabei hatte oder den alten meiner Frau nahm, der immer noch auf dem Glasregal vor dem Spiegel stand? Das leuchtende Rot kam mir jedenfalls bekannt vor.
Sie setzte sich neben mich. „Oh, Rotwein. Trocken?“
„Hoffentlich dein Geschmack?
„Wein, den ich trinke, muss immer trocken sein. Sogar zu Fisch. Auch wenn man zu Fisch ja eher Weißwein …“
„Man sollte trinken, was einem schmeckt und auf Etikette pfeifen.“
„Ich liebe unkonventionelle Männer…“ gab sich Elke begeistert und rückte ein Stück näher.
Sie roch irgendwie nach Pfefferminz und Heu. Wie damals Eva. Als wir beide noch sehr jung waren.
„Tolles Parfüm!“
„Habe ich mir gestern erst gekauft. Ich mag so frische Düfte.“

Es klingelte.
Elke zuckte zusammen.
Vorsichtig streichelte ich ihr den Oberarm. „Das ist die Uhr am Herd. Das Essen ist so weit.“
„Bleib sitzen, Dieter.“
Nach wenigen Minuten kam sie aus der Küche mit einem Tablett zurück. Das Essen hatte sie darauf in Schüsseln und Teller verteilt.

Und dann klingelte es schon wieder.
Ich wollte aufstehen. Elke nahm mich in den Arm, hielt mich fest und drückte mich vorsichtig an sich.
„Aber ich kann sie doch nicht einfach vor der Tür stehen lassen. Immerhin hat sie eine ziemlich lange Reise auf sich genommen.“
„Lass mich machen.“
Elke ging in den Flur und kam kurz darauf kichernd zurück. „Der Hausmeister. Will wissen, ob die Heizung jetzt warm genug sei. Er hat sie entlüftet.“
Ich nickte. Elke ging erneut zur Wohnungstür.
Es dauerte, bis sie wieder erschien, den Pullover ausgezogen. Ihre dünne Bluse umspannte eine durchaus ansehnliche Brust, die mir vorher nie so aufgefallen war.
Sie setzte sich nah neben mich und reichte mir einen Teller mit dampfenden Fleisch. „Ist tatsächlich Wildschwein…“
Als ich während des Essens, um meine Arme besser bewegen zu können, ein wenig von ihr abrutschte, rutschte sie nach.
Gerade wollte ich ein Stück Fleisch in den Mund schieben, da klingelte es erneut.
Elke griff zum Weinglas und prostete mir zu. „So, und nun geh schon. Eine Dame darf man nicht warten lassen.“

Im Treppenhaus stand eine etwas ältere Frau mit einem kleinen verschleierten Hütchen. Ihr gerötetes Gesicht, tief eingebettet in den hellgrauen Pelzkragen eines langen dunkelgrauen Tuchmantels, lächelte mich erwartungsvoll an.
„Ich bin die Renate.“ Sie schnappte nach Luft. „Die Renate aus dem Internet.“
Sie deutete kokett einen Knicks an, ich eine Verbeugung. „Ich bin der Heiner. Schön, dass du hergefunden hast.“
Langsam zurückweichend gab ich die Türöffnung frei und machte Anstalten, ihr aus dem Mantel zu helfen. Ein dezent süßliches Parfüm fand den Weg in meine Nase.
„Wenn du dich erst frisch machen möchtest. Da ist mein Bad.“
„So eine Reise ist doch anstrengend.“ Sie verschwand hinter der Badtür, während ich ins Wohnzimmer ging.
Dort hatte Elke offenbar alles aufgeräumt und zwei saubere Weingläser, Teller und Geschirr hingestellt. Allerdings so, dass Renate und ich uns auf je einem Stuhl gegenüber hinsetzen mussten.
In der Küche drehte Elke mir den Rücken zu. „Lass mich nur machen. Ich bin die Nachbarin, die dir ein wenig zur Hand geht. Kümmere dich ruhig um deine, wie heißt sie noch gleich…!“
„Renate…“ murmelte ich, als hätte ich einen schwerwiegenden Grund, mich zu entschuldigen.
Die brauchte lange, bis sie sich in jenen Zustand verwandelt hatte, der ihr vermutlich präsentabel erschien.
Schließlich klopfte es leise an der Wohnzimmertür. Ich stand auf und wollte ihr öffnen. Da stand sie in der Türöffnung. Lächelnd. Die braun gefärbeten Haare straff hinter dem Kopf hochgesteckt. In einem ein wenig zu engen, doch nicht zu kurzen hellgrünen Kleid, das an gewissen Stellen leichte Probleme mit ihrer Figur hatte.
Ich zog den Stuhl, vor dem ihr das von Elke zugedachten Gedeck aufgebaut war, unter dem Tisch hervor und wies mit der Hand auf den Sitz. „Möchtest du hier?“
Behutsam schob ich ihr den Stuhl unter das nicht zu umfangreichere Hinterteil.
Als sie saß, seufzt sie leise.
In dem Moment kam Elke mit dem Essen aus der Küche.
„Eine Nachbarin!“ stellte ich sie Renate vor, die unter leichtem Stirnrunzeln ihren vollständigen Namen murmelte.
„Wie bitte?“ fragte Elke zurück.
„Renate von der Mühlen.“
„Adel?“ fragte ich erstaunt. Bisher hatten wir per Internet nur unsere Vornamen ausgetauscht.
„Nicht der Rede wert. Verarmter Landadel.“ Ihre Stimme klang keineswegs bemüht bescheiden.
„Elke von Nebenan!“ knurrte meine Nachbarin und lachte. „Weder Adel und noch reich.“
„Sie wohnt über mir und hat mir ein wenig bei allem geholfen. Schließlich empfange ich ja nicht jeden Tag eine Dame.“
Elke nickte. „Wir sind halt gute Nachbarn…“
Renate lächelte verstehend und Elke setzte eher beiläufig hinzu: „Naja, unsere Partner haben uns von jetzt auf gleich verlassen. Gemeinsames Leid verbindet.“
Meine Internet-Bekanntschaft legte den Kopf schief.
Meine Nachbarin sah mich fragend an. „Ja, dann werde ich mich mal wieder nach nebenan zurückziehen.“
„Willst du nicht bleiben? Das Essen reicht bestimmt auch für drei.“ Ich bot ihr den Platz auf der Couch an.
Renate beeilte sich zu versichern, dass sie sich wirklich freuen würde, wenn sie bliebe.
Elke lehnte ohne jedes Zögern ab.

In meiner Wohnung passierte danach nichts Aufregendes mehr.
Renate plauderte aus ihrem inzwischen dreijährigen Witwenleben. „Mein Mann war Jurist. Ein ziemlich erfolgreicher sogar. Und irgendwie liebevoll war er auch, aber doch eher ein Kopfmensch, der halt – sogar mit mir - am liebsten über Rechtsfragen stritt. Trotzdem hat er mir kein vernünftiges Testament hinterlassen. Aber von seiner Pension lebt es sich als Witwe recht komfortabel.“
Ich versicherte ihr, dass ich eine gute Rente bekomme und meine Ex-Frau bisher nicht geäußert hätte, sich mit mir über Unterhaltsfragen streiten zu wollen.
„Nichts wäre schlimmer als Altersarmut“, resümmierte Renate. Danach redeten wir üner unsere Vergangenheiten und schließlich bedankte sie sich für den angenehmen Abend.
„Ja, und das nächste Mal sehen wir uns bei mir?“ Sie riss fragend ihre brauen Augen auf.
„Am besten telefonieren wir in den nächsten Tagen, um einen Termin auszumachen.“

Sie ging kurz darauf. Ich war sicher, sie wiedersehen zu wollen.

Nachdenklich stieg ich danach die Treppe zum nächsten Stockwerk hinauf, klingelte bei Elke, umarmte sie vorsichtig in ihrem schmalen Flur und murmelte: „Jetzt habe ich gegen deinen Nachtisch kaum noch etwas einzuwenden!“
Elke schob mich vorsichtig zurück.
„Nachtisch? Den habe ich längst allein gegessen.“
 
G

Gelöschtes Mitglied 8146

Gast
Beim Lesen der Erzählung bekam ich Lust auf intime Nähe. Der Ursprung dieser Lust entsprang jedoch nicht dem Text, sondern diversen Medien, die im Internet grassieren.
Jetzt mal Spaß bei Seite:
Ich habe den Text zu Ende gelesen, was bedeutet, dass er mich in der ersten Hälfte gewinnen konnte. Das Thema ist interessant und die Ausführungen waren gelungen. Im Nachhinein finde ich aber, dass der Text nicht besonders Rund ist. Er wirkt stellenweise etwas aufgesetzt. Ich hatte zum Schluss den Eindruck, als wenn ich einen Aufsatz lese. Im Vergleich zu anderen Erzählungen der LL halte ich diesen Text für durchschnittlich.

Mir ist noch etwas aufgefallen:
Wenn man in der Ich-Form schreibt, braucht man im Prinzip seinen Namen nicht zu nennen. Es ist jedoch nicht verboten und dient hier einer Ausführung. Wenn aber die Gehirnzellen des Lesers missbraucht worden, sich einen Heiner anstatt eines Heinrichs einzuprägen, dann ist es schon verwunderlich, wenn er jetzt auf einmal Dieter heißt. Es ist ein kleiner Fehler, der einen eher zum Schmunzeln bringt; aber vielleicht zeigt es auch die Halbherzigkeit mit der hier gearbeitet wurde.



















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Kein Anschluss unter dieser Nummer
(unbekannter Autor)
 
Irgendwann fängt ein älterer Mann mit gewissem intellektuellen Anspruch an zu philosophieren. Und da mit den Jahren von Natur aus der körperlichen Lust in der Praxis immer engere Grenzen gesetzt sind, lag es nahe, sich rein philosophisch (sprich: theoretisch) mit der Liebe auseinander zu setzen.
Gern wäre ich als Alter noch das begehrte Objekt einer möglichst tiefen Leidenschaft.
Doch es fanden sich keine Frauen, die mich als Opfer ihrer Liebeslust akzeptieren wollten.
So blieb mir vor allem die Rolle des Subjekts, des angeblich überzeugten Eigenbrödlers, der objektiv betrachtet nahezu unbemerkt immer einsamer zu werden drohte und genau das sich ungern eingestand.
Liebe dient, genauer betrachtet, einer möglichst gelungenen gleichberechtigten Verbindung aus Objekt und Subjekt. Einerseits das Objekt, das sich fallen sowie gefallen lassen kann und andererseits das Subjekt, das auffängt, damit das Objekt, das ansonsten auch als Subjekt auftritt, sich nicht fallen gelassen fühlt. Kompliziert und doch wahr.
In meiner damalige Lage, vor der mich meine Frau Eva eines bedeutend jüngeren Liebesobjektes wegen fallen ließ, ohne auch nur die geringesten Anstalten zu machen, mich aufzufangen, verbrachte ich meine Zeit als Objekt suchendes Subjekt.
Eigentlich heiße ich Heinrich. Doch das klang mir immer schon viel zu altmodisch. Also pries ich mich selbstüberschätzend als Heiner an, einen rüstigen und unternehmungslustigen zukünftigen Partner im allerbesten Mannesalter – sportlich, zärtlich und zärtlichkeitsbedürftig, an Kultur interessiert, gutes Essen liebend, mit Führerschein und eigenem Wagen.
Selbstverständlich suchte ich eine jüngere Frau.
Wenn Eva sich einem über zwanzig Jahre jüngeren Galan zuwenden konnte, konnte ich mir das als Mann bei einer jungen Frau schon lange leisten.
Und im Grunde war mir Eva, die mich knapp ein Jahr zuvor verließ, ohnehin viel zu alt. Das hatte ich ihr aus Gründen der Höflichkeit nie eingestanden, aber aus Rache, nachdem sie mich verließ, in einem vorläufig letzten gemeinsamen Telefonat durchaus verdeutlicht.

Klar, war es mir peinlich, mich auf elektronische Partnersuche zu begeben.
Aber wenn ich unverzagt den zeitgemäßen Weg der Partnerschaftsanbahnung einschlug, zeugte das immerhin davon, dass ich noch in der glücklichen Lage war, mit der Zeit zu gehen.
Natürlich hätte ich – wie viele meiner Altersgenossen – mich auch als erklärter Gegner virtueller Welten ausgeben und auf realen Ü-Sechzig-Parties wahllos herumflirten können.
Doch als eingefleischter Nichttänzer wäre ich dort chancenlos. Ich punktete bei Frauen schon immer, wenn ich mich sitzend mit ihnen unterhielt. Denn ich habe Humor. Und das mögen Frauen aller Altersklassen.
Zudem sind Damen unter sechzig Lebensjahren bei diesen Parties ohnehin nur beim gastronomischen Personal zu finden.
Aber was sollte ich mit einer Freundin, die abends kellnern, hinter der Bar oder in der Küche stehen muss.
Gerade am Abend ist Alleinsein vor dem Fernsehgerät, das einen sentimentalen Liebesfilm nach dem anderen zeigt, besonders schmerzhaft. Ich kann doch nicht nur immer Krimis und Kulturprogramme ansehen. Und wenn in einem Werbespot auch noch vital aussehende Senioren von vital kräftigenden Mitteln schwärmten, die angeblich bis ins hohe Alter wirkten, zeigten sich, auch wenn ich mich davon nicht beeiflussen lassen wollte, bei mir folgerichtig und überfallartig altersdepressive Symptome.
Ich gestehe es ungern, aber mir kamen einmal, da ich wieder allein und zu lange vor dem Gerät saß, bei einer Liebesszene in einem ansonsten brutalen Krimi unerwartet die Tränen. Zum schnellen Trost mehrere Cognak zu trinken, wäre in meinem Alter weder gesundheitsfördernd noch – bei meinen damaligen depressiven Neigungen - wirklich lustig.

Schließlich wollte sie mich zum ersten Mal leibhaftig besuchen, die bisher virtuelle Renate, mit der ich viel über Liebe philosophierte und schließlich über Einsamkeit klagte. Wenn meine Internet-Partnerinnensuch-Bekanntschaft mir nicht nur Photos aus jüngeren Lebensjahren präsentiert hatte, musste sie noch recht frisch aussehen. Ihr Alter hatte sie mir bisher verschwiegen. Ich ihr das meine auch.
Eigentlich wollte Renate ja, dass ich zuerst sie in ihrer Wohnung besuchte. Aber ich fühlte mich als Objekt einer neuen Bekanntschaft in der mir bekannten Umgebung einfach sicherer.
So überzeugte ich sie mit der Ausrede, ich könne das Haus nicht verlassen, da ich meiner kranken Nachbarin zuliebe, mich dieser zur Verfügung halten wollte. Offenbar hatte ich mit dieser sozialen Einstellung bei Renate zusätzlich gepunktet, auch wenn – was meine Internet-Bekanntschaft nicht wusste - Nachbarin Elke erst zweiundfünfzig Jahre zählt und ihre Grippe schon fast auskuriert hatte.
Selbstverständlich hatte ich alles für Renates Empfang vorbereitet. Und da ich bereits zu gewissen Erinnerungsschwächen neigte, hoffte ich, nichts vergessen zu haben.
Das Sonntagsgeschirr stand auf einer weißen Tischdecke so, dass wir nebeneinander auf der Couch sitzen mussten. Ein teurer italienischer Rotwein, dessen Marke ich bisher nicht kannte, wartete wohl temperiert. Die beiden silbernen Kerzenleuchter aus dem Erbe meiner reichen Großmutter verbreiteten romantisches Licht neben einer Vase mit fünfzehn hellroten langstieligen Rosen. Fünfzehn, da wir seit 15 Wochen virtuell bekannt waren. Und hellrote Rosen, da dunkelrote zu eindeutig gewesen wären.
Obwohl mir Eva zur silbernen Hochzeit einen gemeinsamen Kochkurs schenkte, bin ich ein unbegabter Koch geblieben. So ließ ich ein Wildgericht mit Steinpilzen in meinem Stammrestaurant so vorbereiten, dass ich es nur noch im Backofen aufzuwärmen brauchte.
Das alte Ehe-Bett hatte ich für alle Fälle frisch bezogen.
Ich schlief, seitdem Eva mich verlassen hatte, auf der Couch im Wohnzimmer. Allein habe ich im Ehebett viel zu viel Platz und nichts zum Anlehnen.
Das Bad hatte ich gründlich geputzt und auch dort ein paar Kerzen aufgestellt.
In meinen offenen Hemdkragen sprühte ich drei Spritzer meines Parfüms mit der angeblich besonders sportlichen Note.

Und dann klingelte es.
Die Wohnzimmeruhr zeigte fünf Minuten nach drei an.
Eigentlich wollte sie erst eine Stunde später kommen.
Hastig schaute ich im Flur in den Garderobenspiegel, griff mir ins noch relativ volle graue Haar, um es in gepflegte Unordnung zu bringen.
Neugierig spähte ich durch den Spion meiner Wohnungstür. Sie hatte sich wohl so hingestellt, dass ich sie nicht vorzeitig begutachten konnte.
Langsam öffnete ich die Tür und schaute um die Ecke.
Da stand sie.
Elke. Meine Nachbarin.
Einen Wollschal um den Hals und krächzte leise: „Hallo Heiner!“

Elke und ich waren, nachdem meine Frau abgehauen war, schnell per du. Hatten vor Monaten bei einem Gespräch im Treppenhaus nach einigem Drumherumgerede unsere Leidensgenossenschaft festgestellt.
Ihr Mann kam ihr vor gut einem Jahr mit einer jüngeren – wie sie fand, erstaunlich unattraktiven - Kollegin abhanden.
Elke lud mich nach dem Treppenhaus-Gespräch zu sich ein. Wir tranken ein paar Cognak und bedauerten uns dezent. Spontaner Überschwang schien auch nicht ihre Art zu sein.
Zum Abschied umarmten wir uns ungewöhnlich lange.
Seitdem hatten wir uns ein paar Mal jeweils in einer unserer Wohnungen getroffen.
Schließlich gestanden wir uns nach einigen Gläsern Rotwein ein, dass wir wohl doch jeder ein gänzlich anderes Beuteschema hätten.
Mir war Elke, was ich ihr so nicht sagen konnte, als blondes Naivchen, nicht intellektuell, und als mütterlicher Typ nicht vollschlank genug. Sie hingegen stand wegen ihrer angeblich empfindlichen Haut nicht auf Bart. Und meinen Versuchen, mich intellektuell zu geben, begegnete sie mit Miss- und Unverständnis.
„Ich mag eher so liebevolle Vatertypen, die weniger reden.“ Erklärte sie mir und streichelte sich dabei nachhaltig die entbößten Schultern und Oberarme.

Als Elke da so vor meiner Tür stand, schaute sie mich unterwürfiger an, als ich von ihr gewohnt war. „Kann ich reinkommen?“
„Na klar!“
Sofort machte sie sich auf den bekannten Weg ins Wohnzimmer und blieb vor dem gedeckten Tisch stehen.
„Oh, du erwartest Besuch?“
„Ja, ich habe da neulich eine kennen gelernt…! Sie will mich heute zum ersten Mal hier besuchen.“
Elke schaute sich um. „Die Rosen nur dezent rot. Sehr gut, mein Lieber. Was gibts denn zu essen?“
„Wild mit Steinpilzen. Weiß gar nicht, was das für ein Fleisch ist. Vermutlich Wildschwein.“
„Hauptsache wild, was?!“ Elke drohte mir grinsend mit dem Finger. „Hast du denn auch an Nachtisch gedacht? Erdbeeren auf Eis in Sekt, zum Beispiel? Soll sehr anregend sein. Ich glaube, ich habe da noch was im Kühlschrank.“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Warm ist es bei dir!“ Elke wickelte sich den Schal vom Hals und zog den Reißverschluss ihres Pullovers ein Stück herunter. Ihr Hals und Brustansatz waren noch ziemlich faltenfrei.
Sie setzte sich auf die Couch. „Sollen wir mal proben. Damit nachher nichts schief geht?“
Ich zögerte.
„Na, komm schon!“
Als ich mich neben sie setzte, rückte sie unwillkürlich zur Seite. „Nicht ganz so stürmisch, lieber Nachbar…!“
Unwillig ließ ich mich in die Polster zurückfallen.

„Einsamkeit ist eine Giftmischerin. Sie lässt sich viel Zeit und mordet mit kleinen Dosen.“
Elke lachte laut. „Nicht gleich so Mitleid heischend, mein armer verlassener Heiner.“
„Das Land der Sehnsucht liegt für Liebende immer zwischen Geborgenheit und Freiheit!“
„Das hast du wunderbar gesagt. Aber Romantik ist erst später angesagt. Du musst dein Gespräch harmloser beginnen. Zum Beispiel so… ja, und wie war denn die Reise? Hast du es gut hierher gefunden?“
„Und dann noch übers Wetter? Oder?!“
Elke ballte die Hände zu Fäusten. „Auch Small Talk will gekonnt sein!“
„Also gut, wie war sie denn. Die Reise, meine ich?“
„Auch wenn sie nicht so lang war, wird sie behaupten, sie sei unendlich lange unterwegs gewesen. Und dass sie beinahe in den falschen Zug umgestiegen wäre. Frauen, die einen Beschützer suchen, geben sich hilflos. Verstehst du?“
„Möchtest du dich gern erst frisch machen?“
„Gute Idee, dann kann sie sich im Bad umschauen und Frisur und Make up in Ordnung bringen.“
Elke stand auf und ging zum Bad.
In der Zwischenzeit zündete ich die Kerzen auf dem Tisch an, stellte das Essen in den Backofen und goss leicht zitternd, aber ohne zu kleckern, den teuren Rotwein in die Gläser.
Elke kam zurück. Frisch frisiert. Mit roten Lippen.
Ob die einen Lippenstift dabei hatte oder den alten meiner Frau nahm, der immer noch auf dem Glasregal vor dem Spiegel stand? Das leuchtende Rot kam mir bekannt vor.
Sie setzte sich neben mich. „Oh, Rotwein. Trocken?“
„Hoffentlich dein Geschmack?
„Wein, den ich trinke, muss immer trocken sein. Sogar zu Fisch. Auch wenn man zu Fisch ja eher Weißwein …“
„Man sollte trinken, was einem schmeckt.“
„Ich liebe unkonventionelle Männer…“ gab sich Elke begeistert und rückte ein Stück näher.
Sie roch irgendwie nach Pfefferminz und Heu. Wie damals Eva. Als wir beide noch sehr jung waren.
„Tolles Parfüm!“
„Habe ich mir gestern erst gekauft. Ich mag so frische Düfte.“

Es klingelte.
Elke zuckte zusammen.
Vorsichtig streichelte ich ihr den Oberarm. „Das ist die Uhr am Herd. Das Essen ist so weit.“
„Bleib sitzen, Heiner.“
Nach wenigen Minuten kam sie aus der Küche mit einem Tablett zurück. Das Essen hatte sie darauf in Schüsseln und Teller verteilt.

Es klingelte schon wieder.
Ich wollte aufstehen. Elke nahm mich in den Arm, hielt mich fest und drückte mich vorsichtig an sich.
„Aber ich kann sie doch nicht einfach vor der Tür stehen lassen. Immerhin hat sie eine ziemlich lange Reise auf sich genommen.“
„Lass mich machen.“
Elke ging in den Flur und kam kurz darauf kichernd zurück. „Der Hausmeister. Will wissen, ob die Heizung jetzt warm genug sei. Er hat sie entlüftet.“
Ich nickte. Elke ging erneut zur Wohnungstür.
Es dauerte, bis sie wieder erschien, den Pullover ausgezogen. Ihre dünne Bluse umspannte eine durchaus ansehnliche Brust, die mir vorher nie aufgefallen war.
Sie setzte sich neben mich und reichte mir einen Teller mit dampfenden Fleisch. „Ist tatsächlich Wildschwein…“
Als ich während des Essens, um meine Arme besser bewegen zu können, ein wenig von ihr abrutschte, rutschte sie nach.
Gerade wollte ich ein Stück Fleisch in den Mund schieben, da klingelte es erneut.
Elke griff zum Weinglas und prostete mir zu. „Geh schon. Eine Dame darf man nicht warten lassen.“

Im Treppenhaus stand eine etwas ältere Frau mit einem kleinen verschleierten Hütchen. Ihr gerötetes Gesicht, tief eingebettet in den hellgrauen Pelzkragen eines langen dunkelgrauen Tuchmantels, lächelte mich erwartungsvoll an.
„Ich bin die Renate.“ Sie schnappte nach Luft. „Aus dem Internet.“
Sie deutete einen Knicks an, ich eine Verbeugung. „Ich bin der Heiner. Schön, dass du hergefunden hast.“
Langsam zurückweichend gab ich die Türöffnung frei und machte Anstalten, ihr aus dem Mantel zu helfen. Ein dezent süßliches Parfüm fand den Weg in meine Nase.
„Wenn du dich frisch machen möchtest. Da ist mein Bad.“
„So eine Reise ist doch anstrengend.“ Sie verschwand im Bad, während ich ins Wohnzimmer ging.
Dort hatte Elke offenbar alles aufgeräumt und zwei saubere Weingläser, Teller und Geschirr hingestellt. Allerdings so, dass Renate und ich uns auf je einem Stuhl gegenüber hinsetzen mussten.
In der Küche drehte Elke mir den Rücken zu. „Lass mich nur machen. Ich bin die Nachbarin, die dir ein wenig zur Hand geht. Kümmere dich ruhig um deine, wie heißt sie noch gleich…!“
„Renate…“ murmelte ich.
Die brauchte lange, bis sie sich in jenen Zustand verwandelt hatte, der ihr präsentabel erschien.
Schließlich klopfte es leise an der Wohnzimmertür. Ich stand auf, wollte ihr öffnen. Da stand sie in der Türöffnung. Lächelnd. Die braun gefärbten Haare straff hochgesteckt. In einem engen, doch nicht zu kurzen hellgrünen Kleid, das an gewissen Stellen leichte Probleme mit ihrer Figur hatte.
Ich zog den Stuhl, vor dem ihr das von Elke zugedachten Gedeck aufgebaut war, unter dem Tisch hervor. „Möchtest du hier?“
Behutsam schob ich ihr den Stuhl unter das nicht zu umfangreiche Hinterteil.
Als sie saß, seufzt sie leise.
In dem Moment kam Elke mit dem Essen aus der Küche.
„Eine Nachbarin!“ stellte ich Elke vor, die unter leichtem Stirnrunzeln ihren vollständigen Namen murmelte.
„Renate von der Mühlen. Bekam sie zur Antwort.
„Adel?“ fragte ich erstaunt. Bisher hatten wir per Internet nur unsere Vornamen ausgetauscht.
„Verarmter Landadel.“ Ihre Stimme klang keineswegs bemüht bescheiden.
„Elke von Nebenan!“ knurrte meine Nachbarin und lachte.
„Sie wohnt über mir und hat mir ein wenig geholfen. Schließlich empfange ich ja nicht jeden Tag eine Dame.“
Elke nickte. „Wir sind halt gute Nachbarn… . Unsere Partner haben uns von jetzt auf gleich verlassen. Gemeinsames Leid verbindet.“
Meine Nachbarin sah mich fragend an. „Ja, dann werde ich mich mal wieder nach nebenan zurückziehen.“
„Willst du nicht bleiben? Das Essen reicht bestimmt auch für drei.“ Ich bot ihr den Platz auf der Couch an.
Renate beeilte sich zu versichern, dass sie sich wirklich freuen würde, wenn sie bliebe.
Elke lehnte ohne Zögern ab.

In meiner Wohnung passierte danach nichts Aufregendes mehr.
Renate plauderte aus ihrem inzwischen dreijährigen Witwenleben. „Mein Mann war Jurist. Ein ziemlich erfolgreicher sogar. Und liebevoll war er auch, aber doch eher ein Kopfmensch, der halt – sogar mit mir - am liebsten über Rechtsfragen stritt. Trotzdem hat er mir kein vernünftiges Testament hinterlassen. Aber von seiner Pension lebt es sich als Witwe recht komfortabel.“
Ich versicherte ihr, dass ich eine gute Rente bekomme und meine Ex-Frau bisher nicht geäußert hätte, sich mit mir über Unterhaltsfragen streiten zu wollen.
„Nichts wäre schlimmer als Altersarmut“, resümmierte Renate. Danach redeten wir über unsere Vergangenheiten und schließlich bedankte sie sich für den angenehmen Abend.
„Ja, und das nächste Mal sehen wir uns bei mir?“ Sie riss fragend ihre brauen Augen auf.
„Am besten telefonieren wir in den nächsten Tagen, um einen Termin auszumachen.“

Nachdenklich stieg ich, als Renate gegangen war, die Treppe hinauf, klingelte bei Elke, umarmte sie vorsichtig in ihrem schmalen Flur und murmelte: „Jetzt habe ich gegen deinen Nachtisch kaum noch etwas einzuwenden!“
Elke schob mich vorsichtig zurück.
„Nachtisch? Den habe ich längst allein gegessen.“
 
Hallo Tigerauge,
es stimmt, ich habe diese Geschichte offenbar recht flüchtig geschrieben. Inzwischen habe ich ein paar Kürzungen vorgenommen und das Namenswirrwarr behoben. Aber so richtig zufriden bin ich immer noch nicht...
Danke für deine hilfreiche Kritik und herzlichen Gruß
Karl
 



 
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