Ochsenbacke – eine ostberliner Kindheit

rotkehlchen

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Intermezzo

Die „süße“ Oma reißt Witze

Draußen läuten gerade die Glocken, und mir fällt etwas anderes ein. Ich ringe mit mir, ob ich es erzählen soll, denn es ist nicht besonders stubenrein, und ich fürchte, damit mach ich mir keine Freunde. Wenn ich´s trotzdem tue, dann nur, um das Charakterbild der Großmutter zu ergänzen. Also: Viele Jahre später – da war sie schon weit über achtzig und ich längst aus den Kinderschuhen herausgewachsen – fragte sie mich in ihrem singenden Tonfall über ihre Kaffeetasse hinweg (und ich vermute, wieder läuteten irgendwo die Glocken):
„Jungche, weißt du, was der kleinste Dom ist?“
„Nein.“
„Ä Kondom. Passt nur einer rein, und dä Glocken hängen draußen!“
Ein andermal, – aber das gehört eigentlich schon in eine spätere Zeit, aber sei´s drum, wer weiß, ob ich´s dann noch berichten kann – als ich sie mit meiner Verlobten besuchte und wir am reich gedeckten Abendbrottisch saßen, meinte sie: „Jungche, nimm doch noch Wurscht! Von Marmelade steht kein Pimmel gerade!“ Sie hatte schon zwei, drei Kognaks gekippt und wurde immer redseliger. Auf einmal fing sie, mit dem leeren Kognakschwenker in der Hand gestikulierend, laut an zu singen:

Die Augen blau vom Raufen,
Die Nasen rot vom Saufen,
Die Haare weiß vom Huren:
Das sind die Farben von Masuren!

Sie nahm eben kein Blatt vor den Mund. Was raus musste, musste raus. Und so lebte sie, bis sie mit vierundachtzig an Magenkrebs starb.
Da fällt mir eine andere Episode ein.

Die politischen Witze, die mir die Großmutter erzählte, sagten mir nichts. Trotzdem habe ich einige in meinem Gedächtnis konserviert, möglicherweise wegen des Geruchs, der sich bei ihrer Erzählung in der Küche ausbreitete. Die Großmutter hatte nämlich die Angewohnheit, ihren Harzer Roller in ein Weckglas einzuschließen und das Glas in einem Regal im Flur aufzubewahren. Da sie keinen Kühlschrank besaß – obwohl damals schon VEB-Kühlschränke der Marke „Kristall“ erhältlich waren – entwickelte sich der Käse bei hochsommerlichen Temperaturen zu einer zerfließenden Masse mit einem Aroma, das ein Nashorn umhauen konnte. Die Großmutter öffnete also das Glas und fragte mich, ob ich die kürzeste Zeiteinheit der 'Ostzone' schon kenne. Ostzone. Sie sprach diese Bezeichnung übrigens immer mit herablassender Betonung aus, ein Seitenhieb auf Onkel Heinz (von dem noch die Rede sein wird), der einen roten Kopf bekam, wenn jemand Ostzone oder SBZ sagte, wie es bei uns üblich war.
„Nein, Oma“, sagte ich wahrheitsgemäß.
„Das ist ein Ulb.“
„Ein Ulb? Was soll das denn sein?“
„Das is dä Zeit vom Beginn einer Ulbrichtrede bis zum Abschalten des Radios.“
Ich verstand nicht und fragte: „Und wie lang ist die?“
(Der damalige Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht galt als 'Erfinder' der Berliner Mauer).

Es war ein oder zwei Jahre nach dem Mauerbau. Großmutter und ich saßen in der Straßenbahn, auf dem Weg zu ihrer Schwester Anna, die schon seit einer halben Ewigkeit in einem Altersheim in Berlin-Buch lebte. Die Bahn klingelte und ratterte so vor sich hin. Auf einmal blickt mich die Großmutter unter ihrem Kapotthut schelmisch grinsend an und sagt so laut, dass es noch drei Sitzreihen weiter weg zu hören ist: „Dä Regierung behauptet, dä Mauer is dicht. Nä, nä, nä, das stimmt nich.“
„Warum denn nicht?“
„Dä Mauer hat ä Loch.“
„Wo denn, Oma?“
„Nix wo.“
„Aber du sagtest doch gerade –“
„Dä dä dä Mauer! Dä Mauer is weiblich.“
Ich weiß hundertpro, dass ich nicht gelacht habe, denn ich wusste gar nicht, wovon sie sprach.
Aber so war sie eben, die ostpreußische Großmutter. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, auch nicht vor Heranwachsenden.
Es war brandgefährlich. Aber was raus musste, musste eben raus. Es war ihr Kommentar zur politischen Realität, der da lautete: Ihr könnt mich alle mal! Nur, diese Leck-Mich-Am-Arsch-Haltung sollte sie eines Tages ins Gefängnis bringen. Doch auch davon später.

Von ihr habe ich gelernt, dass tiefe Gläubigkeit sich nicht unbedingt mit scharfem Witz, Zivilcourage und Weltoffenheit beißen muss. Sie besaß eine Art mittelalterliche Frömmigkeit, bei der Freudenhaus und Folterkeller gleich neben der Kirche stehen. Bis zum Schluss hat sie geglaubt, dass sie ihren ewig kranken Mann im Himmel gesund wiedersehen würde, aber die Mitteilung, dass ich aus der Kirche ausgetreten sei und wir nicht daran dächten, uns kirchlich trauen zu lassen, nahm sie ohne mit der Wimper zu zucken zur Kenntnis.
In meinem Gedächtnis habe ich eine anderes Gesicht als auf dem Foto bewahrt: Eine unergründliche Landschaft, mit Rillen und Runzeln übersät wie Wattenboden bei Ebbe, darin zwei mild-strahlende Sonnen. Ich habe jede dieser Falten geliebt.


Der Großvater

Da ist es wieder, dieses Tock – Tock – Tock . . . Er kommt vor der Eckkneipe zurück, vom Greil, wo er ein, zwei Bierchen getrunken hat – jetzt schleppt er sich an seinen Krücken die Treppe hoch – tock – – tock – – tock . . .
Es sind drei 'Treppen', wie man in Berlin sagt, die er zu bewältigen hat, mit hohen, engen Stufen – tock – – tock. Jetzt ist eine Weile Ruhe, denn der verschnauft kurz auf einem Treppenabsatz – und wieder geht es tock – – tock – –tock – – tock . . .
Es klingt unheimlich, geradezu verstörend. Jetzt steht er vor der Wohnungstür und klopft – er klopft mit dem Krückstock an die Tür. Ich habe Angst, denn ich bin allein. Neulich stand ein Mann vor der Tür, der mich fragte, ob ich ihm etwas Geld geben könnte, er habe lange nichts gegessen und habe Hunger. Ich bekam eine Höllenangst; meine Mutter hatte mir eingeschärft, fremden Leuten auf keinen Fall die Tür zu öffnen, das seien Mitschnacker, die kleine Kinder mitnähmen. Vielleicht ist dieser Anklopfer ja ein anderer Großvater mit Krücken; auf der Straße habe ich Männer mit einem Bein gesehen, sogar einen, dem beide Beine fehlten. Er rutschte auf einem Brett herum, o Gott, ich hatte Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Ich merke, wie mir vor Angst die Hände feucht werden. Da ruft es: „He, Hosenpuper, mach schon auf! Ich bin´s!“ Ich erkenne Großvaters Stimme und das Geheimwort und mache erleichtert auf.
Und wieder geht es tock – – tock – – tock . . .
Der Großvater, schwer über den Krücken hängend – es sind schulterhohe Krücken, wie ich sie später nie wieder gesehen habe, zwei leicht gebogene Seitenholme mit einem Handgriff auf halber Höhe und einem Achselstück – der Großvater humpelt durch den langen Korridor ins Wohnzimmer und lässt sich ächzend in seinen Sessel fallen. Und jetzt beginnt ein Schauspiel, so seltsam und abstrus, dass mich eine Gänsehaut überfällt, während ich dies schreibe, – ich nehme eine dieser hölzernen Gehhilfen, die fast doppelt so lang wie der Knirps ist, der sie hält – und humpele durch den Flur – tock – tock – tock – tock . . . Er tut mir leid, der Großvater, sein trauriges Gesicht macht auch mich traurig, und ich will ihn etwas aufheitern . . .

Ich kannte den Großvater nur krank, schwerkrank. Die Großmutter erzählte, es habe sich als Kradmelder bei der Wehrmacht die Gicht geholt. Dazu kam noch angeborenes Herzasthma. Wenn er einen Hustenanfall bekam, hörte es sich an, als wollte er sich seine gesamten Eingeweide aus dem Leib husten.

F. f
 

rotkehlchen

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  1. Die Großmutter erzählt eine Geschichte

Wenn sich das Leuchten der Asche auf den brennenden Kohlen verdüstert, sagte die Großmutter, setzt es einen kalten Winter. Wenn sie hell und frei verglühen, einen leichten, milden. Und noch ein anderer ihrer Wahrsprüche ist überliefert: Wenn die Wiesen am Bachgrund bluten, wird ein großes Unglück geschehen. Die Asche verdüsterte sich, und es kam der Frostwinter 1947. Die Wiesen bluteten, von Millionen Kuckucksnelken überzogen: Es war im Frühsommer 1933, das Datum spricht für sich. – Aber nicht nur eine Wahrsagerin war diese Frau, sondern auch eine großartige Geschichten-Erzählerin, denn nichts erfindet mehr Geschichten als Not und dunkle Abende. Einige dieser Geschichten habe ich vor einiger Zeit irgendwo im Internet wiedergefunden, doch ich kann mich nicht erinnern, wo. Also erzähl ich sie einfach. Wem es zu lang wird, der kann ja zum nächsten Kapitel huschen.

Großmutter fing so an: Weißt du eigentlich, mein Jungche – ach, wie vermisse ich dieses 'mein Jungche', in ihrem singenden ostpreußischen Tonfall – weißt du eigentlich, mein Jungche, warum man die Kartoffelsaat in in diese Hügelreihen legt und nicht wie Zwiebeln oder Trüffeln unterirdisch wachsen lässt?

Natürlich wusste ich das nicht, schließlich war ich erst fünf oder sechs, und die Geheimnisse des Kartoffelanbaus sowie -erntens hatten mich bisher überhaupt nicht interessiert, woher auch, in unserer Straße wuchsen keine Kartoffeln, diese Reihen sah ich jetzt zum ersten Mal, und Trüffeln standen mir so fern wie der Sirius. – Der Anlass zu dieser Geschichte war folgender: Die Großmutter war damals in Stellung bei einem Bauern vor den Toren Ost-Berlins, Blumberg heißt das Dorf; sie hatte mich mitgenommen, um mir ihre Arbeitsstätte zu zeigen und mich mit gebratenen Tauben zu füttern. Wir waren an einem Feld mit blühendem Kartoffelkraut vorbeigekommen, die Großmutter sah mich von der Seite an, dann legte sie los; Zeit genug war ja, denn von der letzten Straßenbahnhaltestelle bis zum Hof war es noch eine gehöriger Strecke Fußweg.

Ein Bauer, fing die Großmutter an, besaß einen großen, brachliegenden Acker, den er mit Weizen bestellen wollte. Aber zur selben Zeit war mit Erlaubnis Luzifers ein kleiner Teufel unterwegs, der weder schreiben noch lesen konnte (hier ließ es sich die Erzählerin nicht nehmen, auf die Bedeutung dieser Künste für mein späteres Leben hinzuweisen). Er war auf die Erde gekommen , um sich zu erholen und ein wenig Schabernack zu treiben. Viel konnte er nicht anrichten, denn er war gerade mal in der Lage, die Petersilie zu verhageln, was in diesen Zeiten allerdings schon schlimm genug ist. Als das Teufelchen zufällig an dem Acker vorbeikam, fragte er den Bauern, was er das mache. – Ich bestelle das Feld mit Weizen, sagte der Bauer, damit ich im Winter etwas habe, womit ich mich und meine Familie ernähren kann. – Aber der Acker gehört dir doch gar nicht, sagte der Teufel, er gehört mir. Seit eure Häuptlinge dem Beelzebub* die Füße geküsst haben, ist all dieses Land uns zugesprochen, anheimgefallen und überwiesen. Nun ja, Korn säen ist meine Sache nicht, fuhr der Teufel fort, also magst du den Acker erst einmal behalten, aber unter der Bedingung, das wir uns das teilen, was er trägt. – Ich bin´s zufrieden, erwiderte der Bauer, stell du nur deine Bedingung. – Wir teilen den Ertrag des Feldes in zwei Teile. Als Teufel von altem und edlem Geschlecht habe ich die Wahl, denn du bist nur ein schlechter Bauer**. Also höre: Ich bekomme das, was unter der Erde ist, du erhältst alles über der Erde. Wann ist die Ernte? – Anfang August. – Schön, sagte der Teufel, dann werde ich mich wieder einfinden. Tu du unterdessen deine Pflicht und plag dich! Aber, hörst du, mach keine krummen Sachen, das bitt ich mir aus! –

Anfang August kam der Teufel zurück, begleitet von einer Anzahl kleinerer Erdgeister. Als er den Bauern erblickte, rief er ihm schon von Weitem zu: Nun, du Schlingel, jetzt wollen wir teilen! – Gut, entgegnete der Bauer, und fing an, das Getreide zu schneiden, der Teufel und seine Helfer zogen die Stoppeln mit den Wurzeln aus der Erde. Dann drosch der Bauer sein Korn, tat es in Säcke und brachte es zum Markt. Das Teufelchen machte es ebenso, setzte sich neben den Bauern und hielt seine Stoppeln feil. Der Bauer verkaufte seinen Weizen sehr vorteilhaft, während der Teufel auf seinen Stoppeln sitzen blieb und obendrein noch ausgelacht wurde. Als der Markt aus war, sagte der Teufel: Diesmal, du Halunke, hast du mich hereingelegt! Das nächste Mal wird dir das nicht mehr gelingen! – Wie kann ich Euch betrogen haben, Herr Teufel, versetzte der Bauer, habt Ihr nicht zuerst gewählt? Ihr wart es doch, der mich übervorteilen wollte, weil Ihr dachtet, das Korn würde unter der Erde wachsen, denn Ihr versteht nichts von der Landwirtschaft! – Halts Maul, fauchte der Teufel, sage mir lieber, womit du deinen Acker das nächste Jahr bestellen willst. – Als guter Landwirt muss man jetzt Rüben säen. – Tu das, rief der Teufel, tu das, säe nur tüchtig Rüben, ich werde sie schon vor Gewitter und Hagelschlag schützen und dafür sorgen, dass die Ernte gut wird. Aber höre, diesmal nehme ich, was über der Erde ist, und du bekommst das unter der Erde. Nun Schlingel, schinde dich! Aber, hörst du, keine krummen Sachen, das bitt ich mir aus!–

Als die Zeit der Ernte da war, erschien der Teufel mit einer großen Anzahl von Helfern an dem Rübenfeld. Sogleich fingen sie an, das Rübenkraut abzuschneiden und einzusacken, während der Bauer und seine Leute die Rüben ausgruben und auf Marktkarren warfen. Der Bauer verkaufte seine Ernte zu guten Preisen, der Teufel verkaufte nichts, zudem verhöhnte man ihn aufs Schärfste. – Verdammter Halunke, schrie der Teufel, hast mich schon wieder angeführt! Na warte, ein drittes Mal gelingt dir das nicht! Das nächste Mal nehm ich beides, das, was über, und das was unter der Erde ist. Nun frisch, du Halunke, arbeite, arbeite! Aber, hörst du, keine krummen Sachen, das bitt ich mir aus! –

Betrübt und nachdenklich kehrte der Bauer nach Hause zurück. Seine Frau, die ihn kommen sah, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, denn sie meinte, man habe ihn ausgeraubt. Als sie aber den Grund vernahm und seinen wohlgefüllten Beutel sah, tröstete sie ihn mit sanften Worten und sagte: Lass mich erst eine Nacht darüber schlafen; bis morgen früh ist mir sicherlich etwas eingefallen, womit wir den Hinkefuß überlisten können! – Am anderen Morgen rief sie: Ha! Ich hab´s! Du pflanzt Kartoffeln! – Ja aber liebe Frau, rief der Bauer, wie soll das gehen? Das Kraut wächst über der Erde, die Knollen unter der Erde! Wo ist da die Lösung? – Dummkopf!, schrie die Frau. Dann sorge dafür, dass die Kartoffeln nicht unter der Erde, nicht über der Erde, sondern dazwischen wachsen!“

Wir waren angekommen, und die Großmutter schwieg.
„Hat sich der Teufel sehr geärgert?“, fragte ich, obwohl ich die Pointe nicht ganz begriff.
„Natürlich hat er sich geärgert, und wie! Um ein Haar hätte er den Bauern mitgenommen.“
„Oha! Erzählst du mir das auch noch?“
„Natürlich, mein Jungche, gleich heute Abend als Gutenachtgeschichte!“
Die Großmutter zog mir das Deckbett bis zum Kinn, strich es glatt, setzte sich und fuhr fort:

„Als der Teufel merkte, dass ihn der Bauer wieder hereingelegt hatte, wurde er fuchsteufelswild. – Warte nur, du Halunke, schrie er, ich werde dich ganz teufelsmäßig kratzen! Dann werd ich dich den Küchenteufeln übergeben, die dich salzen, pfeffern, kochen, braten und Luzifer als Frühstück servieren! Es sei denn, du überlässt mir nächstes Jahr den gesamten Ertrag! Überleg´s dir gut! Und jetzt pack dich, schufte, schufte, Kerl, schufte und denk daran, ich komme wieder! Aber, hörst du, keine krummen Sachen, das bitt ich mir aus! –

Betrübt und nachdenklich schlich der Bauer nach Hause zurück. Seine Frau, die ihn kommen sah, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, denn sie meinte, man habe ihn ausgeraubt. Als sie aber den Grund vernahm, tröstete sie ihn mit sanften Worten und sagte: Lass mich erst eine Nacht darüber schlafen; bis morgen früh ist mir sicherlich etwas eingefallen, womit wir den Hinkefuß überlisten können. – Sie versicherte ihm, dass er nicht den geringsten Schaden erleiden würde, er solle nur alle Sorgen auf ihre Schultern legen und nichts fürchten, denn morgen früh habe sie sich bestimmt etwas ausgedacht, wie ein guter Ausgang möglich sei. Schlimmstenfalls kriegst du ein paar Schrammen weg, meinte sie, aber Zeit heilt Wunden. Sagtest du nicht, es sei ein ganz kleiner Teufel gewesen? Dann ist uns der Acker so gut wie sicher. Ja, wenn´s ein großer Teufel wäre, dann wär die Sach freilich schlimmer! –

Zur festgesetzten Stunde erschien der Teufel vor der Kate des Bauern und schrie: He, ho, du Halunke, jetzt werde ich dich fürchterlich kratzen! Dann war er frech und ungeniert in das Haus gegangen, wo er aber den Bauern nicht vorfand, sondern nur dessen Frau, die jammernd und heulend auf der Erde lag. – Wo ist der Lorbass (Strolch, Lümmel), schrie er, was macht er, warum ist er nicht hier? – Er kommt gleich, sagte die Frau. – Und warum liegt Ihr da und jammert? Und, Frau, wer hat Euch so blutig gekratzt? – Der Bauer! schrie die Alte, ach, der Bösewicht, der Schinder, der Räuber, der Wüterich! Er hat mich schrecklich zugerichtet, mit mir ist´s zu Ende, ich sterbe! – Was ist denn geschehen, fragte der Teufel. – Ach, lieber Herr, dieser Wüterich sagte, er habe ausgemacht, sich mit Euch zu kratzen, und um seine Nägel zu probieren, hat er mich, nur mit dem kleinen Finger ...“
Natürlich nahm der Teufel Reißaus und wurde nie wieder gesehen. –

Die Großmutter schnaufte, denn das Erzählen hatte sie erhitzt. Ich fragte:
Warum wollte der Bauern den Teufel denn kratzen und nicht mit der Mistgabel stechen, was doch viel 'teuflischer' gewesen wäre. Die Großmutter sah mich lange an und schwieg.
Der Grund war vermutlich der: Die Großmutter hatte das juckende Exem, an dem ich damals litt, kurzerhand in ihre Geschichte eingebaut. Wie auch die meisten anderen Geschichten, die sie auf der Bettkante erzählte, einen Bezug zum 'täglichen Leben' aufwiesen.
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* Ich habe erst viel später herausgefunden, dass diese Geschichte doppeldeutig ist. Mit B. ist Stalin gemeint, und die Geschichte bezieht sich auf die Enteignungen, welche die SED nach 1949 durchsetzte. So wie der Bauer hat die Großmutter auch immer wieder versucht, diesem ihr verhassten Regime ein Schnippchen zu schlagen. Davon später mehr.

** Bezieht sich auf den Vorwurf der Kommunisten, Kleinbauern arbeiteten unwirtschaftlich.

F. f
 
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rotkehlchen

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21. Die 'süße' Oma beißt in einen sauren Apfel

Es war in den 1950er Jahren, also noch weit vor dem Mauerbau. Die Bewohner Westberlins liefen scharenweise nach Ostberlin, um sich z. B. für ein Spottgeld frisieren zu lassen oder sich billig mit Lebensmitteln zu versorgen. Der Wechselkurs D-Mark gegen Ost-Mark stand damals 1 zu 4, das heißt für eine Mark der Bundesrepublik Deutschland erhielt man vier Mark der Deutschen Demokratischen Republik – für die Westberliner ein lukrativer Handel, für die Regierung in Pankow der reinste Horror; ihr Wirtschaftssystem würde diese Ungleichheit auf die Dauer nicht durchhalten. Das Ende vom Lied: Der Bau der Berliner Mauer, des so genannten sozialistischen Schutzwalls.
Natürlich war die Großmutter mit von der Partie, allerdings in umgekehrter Richtung. Sie transferierte landwirtschaftliche Erzeugnisse – Eier, Gemüse, Tauben – aus Blumberg nach Charlottenburg zu einer ihrer Nichten, die dort zusammen mit ihrem Mann, der ein großer Sänger zur Laute war, aber ein schlechter Geschäftsmann (das Geschäft ging ein paar Jahre später pleite), und ließ sich mit „Westgeld“ bezahlen. Das war auch der Grund, warum sie, die angeblich „arme Ostlerin“, die Familie ihres Sohnes im 'Goldenen Westen', der ständig klamm war, mit dicken 'Care-Paketen' versorgen konnte.
Besonders ertragreich scheint der Schmuggel mit Hühnereiern, gerupften Tauben u. Ä. gewesen zu sein. Großmutter band sich selbstgenähte Schläuche aus alten Bettlaken unter den Busen, stopfte sie mit Schmuggelgut voll, warf sich in einen weiten Mantel und fuhr kackfrech mit der S-Bahn vom „Langen Jammer“ aus über Gesundbrunnen nach Charlottenburg. Jahrelang ging dieser Schmuggel gut; ihre steinerne Ruhe, gut mit Stoßgebeten unterfüttert, war wohl einer der Gründe, warum den Volkspolizisten nichts auffiel. Dann, eines brütend heißen Augusttags, machte sie einen dieser Fehler, die angeblich auch gewiefte Ganoven zu Fall bringen: Sie zog sich, um die verbotene Fracht möglichst gründlich zu verbergen, ihren dicken Wintermantel an – wie gesagt, bei dreißig Grad im Schatten. Dieser Mantel allein war schon ein Hingucker; mausgrau, knöchellang, nicht unbedingt schäbig, aber mit allen Anzeichen ewigen Gebrauchtseins, von einer Formlosigkeit, die auch der schleschteste Schneider der Welt so nicht hinbekommen hätte.
War es dieses bizarre, jahreszeitungemäße Kleidungsstück, das zwei bullige VOPO´s im grünen Kleid anlockte? Seltsamerweise schien die beiden Schnüffler weder Mantel noch Jahreszeit zu interessieren; ihre stahlgrauen Polizisten-Augen hefteten sich auf Großmutters Oberkörper, der aussah, als stecke unter dem Mantel eine Ritterrüstung – –

Ich überlege, wie viele Eier, Tauben, Kohlrabi, Kartoffeln, Karotten sie wohl unter ihrem Busen bergen konnte? Ein kleine Wagenladung? Schließlich muss der Erlös das Risiko wert gewesen sein. In meiner Erinnerung ist sie schlank und drahtig. Aber stimmt das so? Ich suche nach einem Foto, das etwa aus jenen Jahren stammen könnte. Alles Porträts, bis auf ein Lichtbild aus späteren Jahren, als sie so um die 78 gewesen sein muss. Sie trägt ihre Enkelin auf dem Arm, ihre Figur ist altersgemäß runder geworden, aber von „Atombusen“ keine Spur. Ich schätze mal, sie hatte den hautnahen Warentransfer etwas übertrieben. –
Nun weiter.
„Woher dä Kret-(Kröten)-Hunde“, erzählte sie bei Kaffee, Schlagsahne und Pflaumenkuchen, „so plötzlich herkamen is mir ´n Rätsel. Am Bahnsteig hab ich keenen nicht jesehn. Se müssen noch im letzten Moment in den Zug jesprungen sein. Jedenfalls –“
„Vielleicht waren sie schon drin im Zug, Oma.“
"Auch meglich . . . jedenfalls – auf einmal standen se vor mir. Ich war eingekeilt zwischen dicken Taschen und schwitzenden Gesichtern, konnte nich weg. Hätte auch nüscht nichts jenutzt, mittlerweile war noch ein weiterer Polizist hinzujekommen. An Flucht war nich zu denken. – Wat ham Se denn da unter Iam Mantel, fragte der eine, ein langer Lulatsch mit nem Gesicht wie´n Minenfeld und stechenden Augen. – Na wat wohl, Herr Wachtmeesta?, rief ich, wat hat ne ehrbare olle Frau an dieser Stelle wohl unter dem Mantel? – In die Leute, die bisher stur und teilnahmslos dajestanden hatten wie die Ölgötzen, kam Bewegung. Einige lachten. – Det is jut!, rief einer, ha!, für die Antwort würd ich die Frau loofen lassen! – Der dazugekommene Polizist mit nem Haufen Sterne uff de Schulterklappen drehte sich zu dem Rufer um. – Vorsicht, Vorsicht, Genosse, schwurbelte er, das unverzollte Transferieren von Waren aus der Deutschen Demokratischen Republik nach Berlin-West ist kein Kavaliersdelikt! – Der mit den stechenden Augen sah mich jehässig an und schnarrte: Jenossin, Sie sind vorläufig festjenommen! – Half alles nischt, in den sauern Appel musst´ ich beißen."
Die 'süße' Genossin schwieg und schlürfte die Neige ihres Cognacs.

"Haben Sie denn keine Angst hehabt?", wollte meine Braut in spe wissen.
"Aber i wo! Marjellche, worvor sollte ich denn Angst bekommen haben? Doch nich vor so´n paar gottloser Jesellen! Und außerdem, ich weiß, dass mich das liebe Gottche beschützt."
Somit hatte unsere Familie nicht nur einen 'Helden der Arbeit', den Onkel 'Linius', sondern auch einen ausgemachten 'Volksschädling'.
Die drei Monate Haft scheinen ihr nicht besonders schwer gefallen zu sein. Ich fragte sie: „Na, Oma, wie war´s denn im Knast?“ Ihr Gesicht wurde undurchdringlich wie Dornenhecken. Dann meinte sie: „Ach nej, ich hab viel jelesen. Und wenn se mir was vom Sozialismus vorquatschten, hab ich einfach nich zujehört und heimlich den Rosenkranz jebetet.“
Schluss, aus. Mehr war aus ihr nicht herauszubekommen.

22. Auf Einkaufstour Ich stehe vor dem S-Bahnhof Gesundbrunnen, gegenüber der Bude, in der man Karten für die Berliner Unterwelt bekommen kann.
Menschen und Häuser, Strom und Gebirge, Ebbe und Flut . . . In der Tiefe leises Brausen, oben lautes Sausen . . . Schwarzbunte Fluten im gezeitenhaften Gegenstrom, in seltener Harmonie und erfüllt vom Gleichklang der Bedürfnisse, viele durchdrungen vom Triumph erfüllter Wünsche oder enttäuscht und der Blick wie mit Netzen verhangen. Dann, gegen Abend, das Gewimmel auf dem S-Bahnhof . . . Der endlose Lindwurm hat sich formiert, schwer bepackt und zu Clustern geballt, warten die Menschen, stumm und geduldig wie Vieh, auf den nächsten Zug . . .

Eines Tages, noch vor dem Mauerbau, war ich mit der Großmutter hier unterwegs, sie wollte mir eine neue Hose und Strümpfe kaufen.
Die Großmutter hatte mich schon durch mehrere Geschäfte gezerrt und die Auslagen mit entnervender Gründlichkeit besichtigt – beim Einkauf konnte sie gnadenlos sein. Mehrmals sind wir in Geschäfte mit grässlich starrenden Schaufensterpuppen ein- und wieder ausgetreten, strichen an Dutzenden Läden vorbei, doch noch immer war das Rechte nicht gefunden. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten, es ist drückend warm, die Stadt ächzt unter der Augustschwüle. Eine schräg stehende, wütende Sonne bringt die Brandmauern der Mietskasernen zum Glühen. Die Großmutter ficht´s nicht an; anscheinend ist sie gegen Hitze und Kälte gleichermaßen unempfindlich. Endlich betreten wir einen Laden; an einem Grabbeltisch mit Strümpfen bleibt sie mit zusammengekniffenen Lippen stehen und fängt an, auszusortieren. Drei Paar hat sie schon beiseite gelegt, ein viertes ist in Arbeit. Eine Verkäuferin kommt herbei und legt die Ware mit mürrischer Miene wieder zurück. Ich beobachte, wie die Großmutter immer energischer wühlt. Und jetzt geschieht etwas, das sich in mein Hirn eingebrannt hat wie Zigarettenglut in eine weiße Tischdecke: Ein Wortwechsel entsteht, der immer lauter wird; schließlich knallt die Großmutter ein weiteres Gebinde zurück in die Auslage, nimmt mich bei der Hand und verlässt, mir einen langen Arm ziehend, wutentbrannt den Laden. Aus der guten Fee war unversehens eine wütende Furie geworden.
Ja, so konnte sie auch sein, die Gute, die für mich die Sanftmut in Person war. Wenn ihr jemand in die Quere kam, konnte sie fuchsteufelswild werden.

Als ich Jahre nach dem Mauerbau diese Straße wieder betrat, erkannte ich sie nicht wieder. Ödnis, so weit das Auge reichte. Die Straße, die Brunnenstraße, nicht so strack wie viele berliner Straßen, krümmte sich, als habe sie Bauchschmerzen. Kaum ein Mensch war unterwegs, die meisten Schaufenster waren mit Brettern vernagelt. Kopfschüttelnd schritt ich die gespenstisch leere Straße ab; ich wollte das bewusste Geschäft wiederzufinden, in dem die Großmutter zur Furie geworden war, eventuell sogar in ihrem Angedenken ein Paar Strümpfe kaufen – unmöglich. Zu lang war´s her, und die Veränderungen waren zu groß. Der schwarzen Schlange – das unübersehbare Heer der einkaufswilligen Ostberliner, die vor dem Mauerbau die Regale der Geschäfte, die dort dicht an dicht standen, leer räumten, war der Kopf abgeschlagen.

Dann, Jahre später, nach der Wende: Der Boom.
F. f


 

rotkehlchen

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23. Der Lichtenberger Apfelstreit

Man sagt, dass alte Bäume in ihren letzten Lebensjahren noch einmal gründlich für ihre Vermehrung sorgen und im Übermaß Samen und Früchte hervorbringen. Wie dem auch sei – als hätten es die alten Obstbäume geahnt, dass ihr letztes Stündlein bald schlagen würde, bescherten sie der Großmutter in dem Jahr eine riesige Apfelschwemme. Sogar der Kümmerling hinter der Laube, der von den Bäumen des Nachbargartens teilweise beschattet wurde, lief zu ungeahnter Hochform auf. Wahrscheinlich war es aber nicht Todesangst gewesen, die ihn so aufmunterte, sondern einfach der außergewöhnlich heiße Sommer. Wen das genaue Jahr interessiert, der kann ja mal in den Wettertabellen nachschauen, es muss so um die neunzehnhundertfünfziger Jahre gewesen sein.

Kommen wir zum eigentlichen Kern dieser Geschichte. Die Fassungskraft der fünfköpfigen Rumpffamilie – mein Vater 'weilte' fern der Heimat immer noch in Gefangenschaft (er sollte erst 1956 zurückkehren, nach Adenauers Besuch in Moskau), mein Bruder war gerade erst geboren, stand also als strammer Esser noch nicht zur Verfügung, meine Mutter ekelte sich vor Großmutters fäkaliengedüngtem Obst – die Fassungskraft der Familie also war, was den Verzehr von Apfelkuchen, Apfelstrudeln, Apfeltaschen, Apfelschnitten, Apfelmus betraf, allmählich erschöpft. Auch Stadt, Land und Leute waren in diesem Jahr gut mit Äpfeln versorgt. Niemand wollte Äpfel haben, auch die Lichtenberger Muschpoke nicht, denn die war selbst gut mit Äpfeln versorgt. Das hielt die Großmutter, hartnäckig wie sie manchmal sein konnte, nicht davon ab, alle möglichen Leute mit ihrem Apfelsegen zu beglücken, denn es war ihr unmöglich, Nahrungsmittel verkommen zu lassen (die scheenen Äpfelche, näi, näi). Bei einem Menschen, der zwei Weltkriege und zwei harte Hungerzeiten mitgemacht hatte, war diese Hartnäckigkeit nur zu verständlich. Jedoch: Ein riskantes Unterfangen, bei dem sie nicht nur Dankbarkeit erntete, wie sich bald zeigte.

In diesem Jahr feierte Onkel Linus, der Mann der Lichtenberger Tante, seinen sechzigsten Geburtstag und dazu noch die Verleihung des Ehrentitels 'Held der Arbeit' durch die Deutsche Demokratische Republik, mit Medaille und Urkunde. Auf der Urkunde waren zwei kräftige verschlungene Arbeiterhände zu sehen. Es war ein großes Familienfest, denn diese Auszeichnung wurde damals nur fünfzig Personen im Jahr zuteil, und zwar solchen, die sich in besonderer Weise um den Aufbau des Sozialismus verdient gemacht hatten.

Diesem Onkel bin ich übrigens nur zweimal begegnet. Das erste mal lag er im Wohnzimmer auf dem Sofa und hielt laut schnarchend seinen Mittagsschlaf. Das zweite mal nahm er mich in den Volkspark Treptow mit, wo mit viel Blasmusik und Fahnenschwenken irgendein Jubiläum des Sozialismus gefeiert wurde. Mittlerweile ist die Erinnerung an ihn stark verblasst, wohl weil er nie da war, und wenn, dann schlief er gerade. Außerdem verstand ich sein oberbairisches Gebrabbel nicht. Er war ein waschechter Bayer. Was ihn nach Ostberlin verschlagen hat, interessierte mich damals nicht, und jetzt sind alle Zeitzeugen tot. Ich nehme mal an, es war die Liebe. Onkel 'Linius', wie ich ihn nannte, starb wenig später an einem wohlerarbeiteten Herzinfarkt.

Sehr gut in Erinnerung dagegen sind mir noch seine beiden Kinder, der etwas gedrungenen blonde Helge und die große Christel. Der Helge machte einem Mädchen aus der Nachbarschaft mit sechzehn ein Kind, wozu die Großmutter lakonisch bemerkte: „Dä Lorbass, dä! Probiert und schon jekonnt!“ Die große Christel verheiratete sich bald nach Westdeutschland, wenn mich nicht alles täuscht in den Stuttgarter Raum. Zur Erinnerung: Damals bestand der Eiserne Vorhang ja noch nicht. Die Christel ist mir deshalb noch in angenehmster Erinnerung, weil ich sie einmal ohne es zu wollen beim Auskleiden überraschte. Sie ließ sich nicht stören. Auf einmal stand sie nackt vor mir. Zum ersten Mal in meinem Leben erschauerte ich vor den unauslotbaren Verlockungen des weiblichen Körpers.
*
Schon am Vortag hatte die Großmutter, aller Warnungen zum Trotz, taschenweise Äpfel aus dem Garten herbeigeschafft. Als wir gegen Mittag in den O-Bus Richtung Lichtenberg stiegen, schleppte sie sich mit zwei schweren Taschen ab. Von da aus war es noch ein gutes Stück Weg bis zur Wohnung von Tante Agathe und Onkel 'Linius'. Mit jedem Schritt, mit dem wir der Wohnung näherkamen, schien die Entschlossenheit der Großmutter zu wachsen. Schon damals bewunderte ich ihre geradezu unheimliche Zähigkeit, mit der sie Hindernisse beiseite zu räumen verstand. Als es einmal einen Stromausfall gab und die S-Bahn nicht fuhr, lief sie von der Thaer-Straße, in der sie damals wohnte, zu Fuß nach Blumberg, um dort Naturalien zu ergattern. Ich habe nachgemessen: Es sind siebzehn Kilometer. Damals war sie schon Mitte sechzig.

Wenn ich an diese denkwürdige Geburtstagsfeier zurückdenke, sehe ich zunächst die Tante in der Wohnungstür stehen. Ich habe sie als fast-jugendliche schlanke Erscheinung in guter Erinnerung, mit vorgebundener weiß-gestärkter und nach Sunil riechender Schürze, mit braunen, etwas gouvernantenhaft aufgetürmten Haaren und vornehmen Bewegungen. Sie legt mir ihren Arm um den Hals und sagt mit zuckersüßer Stimme: „Willst du mir nicht einen Begrüßungskuss geben?“ Sie beugt sich zu mir herab und hält mir ihren Mund hin. Und sie kriegt mich ´rum, ich küsse sie auf den Mund! Ich, der ich nach dem einhelligen Urteil der Zeitzeugen die Schüchternheit in Person war! Heute weiß ich, das war Erotik vom Feinsten! Lange Jahre habe ich mich ergebnislos gefragt, was diese Frau an diesem groben Klotz von Mann gefunden hatte. Bis ich irgendwo folgenden Spruch las: Liebe dich nur selbst genug, dann ist es egal, wen du heiratest.

Ferner sehe ich, jedoch ziemlich verschwommen, ein hell erleuchtetes Wohnzimmer, einen festlich gedeckten Tisch mit Kaffee und Kuchen, an dem allerdings niemand sitzt. Da diese Erinnerungssplitter reichlich trivial sind, nehme ich an, dass es sich um Leihgaben aus anderen, ähnlichen Begebenheiten handelt. Was ich allerdings deutlich sehe, ist eine geöffnete Balkontür, dahinter Tante Erna, die mit weit ausholender Armbewegung und überraschender Behändigkeit einen Korb in den Hinterhof schleudert, worauf Tante Gattchen die Hände vors Gesicht schlägt und sich hemmungsloses schluchzend auf einen Stuhl wirft. Als nächstes sehe ich die Großmutter, wie sie sich mit verkniffenem Gesicht den Mantel überwirft, „dä Kret, dä!“ zischt, mich bei der Hand nimmt und mit mir Hals über Kopf die Wohnung verlässt.

Was war geschehen?

Aus der Großmutter, der einzigen Kronzeugin – denn als ich mit der Niederschrift dieser Erinnerungen begann, waren die Personen des Dramas mittlerweile in alle Winde zerstreut oder bereits gestorben – war nicht viel herauszubekommen. Sie verhielt sich seltsam schmallippig und meinte nur, es sei wegen der „Äpfelchen“ gewesen. Angeblich konnte sie sich nicht mehr genau erinnern. Doch das nahm ich ihr nicht ab. Normalerweise konnte sie sich sehr gut erinnern, vor allem an lang zurückliegende Nebensächlichkeiten. Ich nahm an, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte und ließ es gut sein.

Also: Was warf Erna vom Balkon, und warum brach die Tante weinend zusammen?

Das Ganze liegt jetzt schon eine kleine Ewigkeit zurück, und die Erinnerung an Einzelheiten sind mittlerweile fragwürdig geworden. Was ich allerdings immer noch frisch und stark empfinde, ist das Gefühl des Unbehagens, das mich damals überkam, das Gefühl, dass der Familienfrieden aufs Empfindlichste gestört war. Mit sechs oder sieben Jahren begreift man nicht alles, was so um einen herum geschieht, aber man fühlt vieles, ohne dass es ausgesprochen werden muss. So erinnere ich mich zum Beispiel noch deutlich an die traurigen Augen der 'schlesischen Oma', sehe deutlich die altertümliche Lampe mit den Troddeln, unter der sie saß, schmecke wieder die düstere Stimmung, die sich in dem Zimmer ausbreitete, und obwohl ich die Worte nicht verstand, die geredet wurden, wusste ich: Etwas Entsetzliches ist passiert. Dies war passiert: Mein Vater hatte gerade verkündet, dass er und seine Familie nach Westdeutschland 'machen' werde, und die Großmutter sollte allein in ihrer finsteren Hinterhofwohnung zurückbleiben.

Auch diesmal war es so. Irgendetwas, das ich nicht begriff, das aber auf unheimliche Art auf mich einwirkte, lag in der Luft. Das war kein harmloses Die-Hände-Über-Dem-Kopf-Zusammenschlagen wegen zu vieler Äpfel. Die Tante hätte damit rechnen müssen, gerade zu dieser Jahreszeit; die Großmutter fuhr nie mit leeren Taschen nach Lichtenberg. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu der Erkenntnis, dass der Schlüssel zu dem Geschehen bei Tante Erna lag. Es ist jetzt also an der Zeit, ein bescheidenes Charakterbild von ihr zu entwerfen.

Sagte ich schon, dass Erna ziemlich korpulent war? Seien wir ehrlich: Sie war dick, und zwar so dick, dass ich sie jedesmal fassungslos anstarrte, wenn sie uns besuchte. Sie war eine runde, dralle, ballon-dicke Person mit blasser Haut und pechschwarzen Haaren, die, wenn ich mich richtig erinnere, etwas strähnig, möglicherweise sogar fettig waren. Knallrote Lippen und kohlschwarze Augen 'rundeten' das Bild ab.. Und reden konnte sie, reden, reden, reden, mit einer nervtötenden Monotonie, die einen Ventilator einschläfern konnte. Sie saß dann da, in ihrer unbeweglichen Art, stundenlang, der Mund war das Einzige an ihrem Körper, was sich bewegte, wie bei diesen Loriot-Figuren, bei denen sich auch nur die Lippen bewegen.
Doch wenn sie lachte!
Nie habe ich einen Menschen erlebt, der so unbeschwert und herzhaft lachen konnte wie sie. Es war das heitere Lachen eines Menschen, der sich und die Welt akzeptiert, so wie sie ist, auch wenn ein Teil davon in Trümmern liegt; dem der Spott in den Augen der Sippschaft am Arsch vorbei geht.

Der Schleier des Vergessens lichtet sich und gibt folgenden Anblick frei: Tante Erna, ganz in Schwarz, sitzt im Sessel, und ich auf ihrem Schoß. Mit dem Zeigefinger piekse ich ihr in die Seite, in den Bauch, in den überquellenden Busen. Heiteres Kinderlachen erfüllt den Raum. Und jetzt geschieht ein Wunder. Der ungeheure schwarze Fleischberg gerät in Bewegung, ihr Busen, diese unförmige und tief geteilte Masse wabert, ihr Bauch wackelt in unbeschwerter Lachlust, sie kann sich vor Lachen kaum fassen. Und immer wieder sticht mein Finger in das wabbelige Fleisch, und sie lacht und lacht und lacht, hoch, hell, ungezwungen, in kurzen Intervallen, etwas Schnappatmig, wir beide lachen, als koste es die Welt. Schließlich hat sie genug, drückt mir einen Kuss auf die Stirn, und ich klettere, ausgelacht wie ein Lachsack ohne Strom, wieder von dem Fleischberg herunter. Wieder habe ich ihre Stimme im Ohr, diese verschlafene, zuckerwatteweiche, heimliche Stimme, höre ihre Worte: „Du kleiner süßer Allerweltsklöterwatin!“

Ja, die gute Tante Erna! Ein halbes Jahr später habe ich ihr einen üblen Streich gespielt, für den sie sich allerdings angemessen bedankte. Diesmal saß sie nicht in dem Sessel, der ihrer Körperfülle Halt und Fassung bot, sondern auf einem Küchenstuhl. Dort saß sie, wie es so ihre Art war, schon seit Stunden fast ohne sich zu rühren, nur das Mundwerk ging wie ein Entenstert. Ich sah, wie ihr Hintern über den Stuhl quoll, groß und breit wie Kaisers Suppenkessel, und mich überkam die nicht zu bändigende Versuchung, da hineinzustechen und zu beobachten, was dann geschehen würde. Aus Großmutters Nähmaschine besorgte ich mir eine Nähnadel und stach zu. Diesmal lachte Erna nicht, und sie platzte auch nicht. Sie schrie kurz auf, drehte sich langsam um und sah mich mit großen traurigen Augen an. Allmählich dämmerte es mir, dass es nicht gut gewesen war, was ich da gerade getan hatte. Beschämt und mit aufkeimenden Gewissensbissen schlich ich davon. Doch die gute Erna war nicht nachtragend. Ein oder zwei Stunden später erteilte sie mir die Absolution, indem sie mir die Wange tätschelte. Heute weiß ich, dass ein empfindsames Herz hinter ihre üppigen Busen schlug, und ich ahne, welcher geheime Kummer in ihr hauste.

(Ich überlege, ob der Stich nicht die Rache des kleinen Mannes war dafür, dass sie mir unmittelbar nach meiner Geburt einige Klapse gegeben hatte. Möglich wär´s schon).

Zurück nach Lichtenberg.

Deutlich sehe ich: Auf und unter dem Küchentisch stehen bereits mehrere randvoll mit Äpfeln unterschiedlichster Sorten und Reifegrade angefüllte Taschen und Körbe; einzelne, anscheinend besondere Prachtexemplare, liegen auf der Fensterbank, kurz: Die kleine Küche ist total überäpfelt.
Und jetzt auch noch die Äpfel aus Großmutters Garten!

Als sich Tante Erna nun erhob, um den Heimweg anzutreten, nutzte Agathe die vermeintliche Gunst des Augenblicks, verschwand in der Küche und kam mit einem Korb voll Äpfeln zurück, den sie Erna mit den Worten vorhielt: „Erna, möchtest du nicht auch ein paar Äpfel?“ Nun muss man wissen, dass Erna nicht auf den Mund gefallen war. „Seh ich so aus, als würde ich mich von Äpfeln ernähren?“ Das schallende Lachen von Heinz quittierte diese selbstironische Bemerkung. „Solltest du aber, solltest du aber!“ rief Gattchen nun wieder, „etwas weniger Speck auf den Rippen könnte dir nicht schaden!“ Auch jetzt nahm Erna noch nicht übel. „Ich liebe mich so, wie ich bin!“, war die schnippische Antwort. Aber Tante Gattchen ließ nicht locker. „Nun sei doch nicht so stur!“, rief sie bockig und versuchte, Erna den Korb in die Hand zu drücken. Mittlerweile waren die beiden im Flur angelangt, und noch hätte alles gut gehen können. Die Großmutter, die als Respektsperson galt, auf die man hörte, hätte nun sagen können: „Mein Gottche, Erna, nu nimm schon! Die poar Äpfelche!“ Erna hätte den Korb genommen und in der S-Bahn 'vergessen'. Aber nein, Agathe, aus deren Augen mittlerweile erhöhte Kampfbereitschaft sprühte, konnte ihre Zunge nicht zähmen. Sie lachte höhnisch und sagte grob und von oben herab: „Mit dieser Einstellung bekommst du nie einen Mann.“

Jetzt war das Maß voll. Agathe hatte Ernas geheimen Kummer, der ihr sicherlich kein Geheimnis mehr war, denn schließlich waren sie ja Schwestern, als Waffe benutzt, um sie vor allen Gästen zu demütigen.

Ich stelle mir vor: Es ist atemlos still, nur die WC-Spülung rauscht. Sogar Onkel Heinz, sonst immer einen markigen Spruch auf den Lippen, schweigt. Gattchen und Erna stehen wie versteinert da, die eine, weil ihr der unselige Spruch, nehme ich mal an, unversehens herausgerutscht ist, die andere, weil sie sich vorgeführt fühlt. Noch bevor jemand eine moderierende Bemerkung machen kann, reagiert Erna. „Ha!“, zischt sie, „du meinst doch nicht etwa so einen Langweiler wie deinen Linus? Da danke ich schön!“ Sie reißt Agathe den Korb mit den Äpfeln aus der Hand, stürzt zum Balkon und wirft den Korb in hohem Bogen hinunter in den Hof. Inzwischen ist Agathe weinend auf einen Stuhl gesunken.

Ja, so wird es gewesen sein.

Ende folgt







 

rotkehlchen

Mitglied
Intermezzo

„Erzählst du mir eine Geschichte, Schatz? Ich kann nicht einschlafen.“
„Uaahh . . . mir fällt gerade nichts Passendes ein. Außerdem bin ich hundemüde. Der Tag war –“
„Komm, komm . . . du kannst so schöne Geschichten erzählen. Zum Beispiel von deiner Sippschaft.“
„ Na schön . . . Hab ich dir schon erzählt, wie ich Tante Erna eine Nähnadel in den Hintern stieß?“
„Du bist mir einer! Nein, ich kann mich nicht erinnern.“
„Na dann . . . Als ich vier Jahre alte war, besuchte uns Tante Erna, eine Nichte oder Kusine der 'süßen' Oma, die nach Südafrika geheiratet hatte –“
„Wer? Die Oma?“
„Quatsch. Die Tante. Böse Zungen behaupteten, sie habe die Verlobung mit einem Engländer platzen lassen, weil ihr die englische Küche nicht zusagte, und stattdessen einen reichen Rinderzüchter genommen. Wie dem auch sei, erstens war sie zu der Zeit, von der ich erzähle, noch nicht verlobt, und zweitens wird man nicht unbedingt nur vom Essen dick. Aber dick war sie, obwohl sie das heftig bestritt, sie behauptete immer, sie sei nur extrem vollschlank. Mich hatte sie übrigens von Anfang an ins Herz geschlossen, nannte mich Ochsenbacke, mein kleiner Hosenlatz, Allerweltsklöterwatin. Und lachen konnte sie, das Tantchen, sowas von lachen! Besonders, wenn ich auf ihren Knien saß und ihr mit dem Finger in den Bauch piekte. Oha! Da wogte nicht nur ihr mächtiger Busen, da klirrten die Gläser im Spind. Eines Tages ritt mich der Teufel, und ich verging mich an ihr.“
„Du tatest was? Mit vier?“
„Ich kann auch schon fünf gewesen sein.“
„Erzähl kein Dummdeutsch.“
„Wieso? Früh krümmt sich, was ein –“
„Wenn du weiter so´n Quatsch erzählst, will ich die Geschichte nicht mehr hören.“
„Oha! Na dann . . . Ich stach ihr eine Nähnadel in den Hintern.“
„Soso. Und warum?“
„Der Grund war folgender: Erna saß auf einem Küchenstuhl, und Ich sah zum ersten Mal bewusst ihr Gesäß, so groß, so überquellend breit wie ein preisgekrönter Kürbis. Sofort erwachte in mir der Wunsch, in einen dieser gewaltigen Wülste hineinzustechen, ihn zum Platzen zu bringen wie einen Luftballon, denn etwas anderes war ja nicht möglich, da musste Luft drin sein, woher sollten denn sonst die Winde kommen, die Erna zuweilen ungeniert abließ und mit dem Satz kommentierte: Auch ein kleiner Wind kann das Wetter ändern. Ich stand auf, kramte in Omas Nähkästchen, kam mit einer langen Nähnadel zurück, überlegte nicht lange und stach zu. Doch Tante Erna platzte nicht“
Stille.
„Und was geschah dann?
„Tja, was geschah dann . . . Mit allem hatte ich gerechnet, mit einem Aufschrei, mit Geschimpfe, mit einer saftigen Ohrfeige, nur nicht mit dem, was dann wirklich geschah! Nämlich so gut wie nichts. Erna zog die Nadel heraus, blickte mich tieftraurig an und schüttelte den Kopf. Den Rest des Tages übersah sie mich. Dieser Blick, herrje nochmal . . . Ich muss gestehen, obwohl nun schon so viele Jahre vergangen sind . . . Dieser Blick verfolgt mich bis in meine Träume – sag mal, hörst du noch zu?“



24. PG Heinz

Wie schon angedeutet hier ein paar Bemerkungen zu Onkel Heinz, einem Arbeitskollegen von Onkel „Linius“ und so wie er ein strammes Mitglied der SED. Übrigens, er war kein richtiger Onkel, sondern nur ein Nenn-Onkel: Damals wurden alle Erwachsenen von den Kindern mit Tante oder Onkel angeredet. Die Großmutter nannte ihn hartnäckig Pege Heinz, Parteigenosse Heinz. Ich habe ihn natürlich nicht als Parteigenossen, sondern als einen ständig zu Späßen aufgelegten, lachenden Mann mit Glatze und Haarkranz in Erinnerung, der mit mir in der ganzen Wohnung herumtollte.
Da ich das Geschehen wie durch eine beschlagene Fensterscheibe wahrnehme, muss einiges im Unklaren bleiben.

Ob an jenem Abend (an dem Erna die Äpfel aus dem Fenster schmiss) bei Tisch über Politik geredet wurde, weiß ich nicht. Wenn ja, dann hat er bestimmt den scharfen Widerspruch der Großmutter erfahren, die weder zuhause noch auf der Straße ein Blatt vor den Mund nahm. Ich erinnere mich, wie sie mit mir einmal zum Ostbahnhof unterwegs war und lauthals über die Regierung schimpfte, und zwar so laut, dass sich die Leute nach ihr umdrehten. Diese völlige Missachtung des SED-Staates hatte sie schließlich, wie schon berichtet, ins Gefängnis gebracht.
Ich weiß allerdings bis heute nicht, woher diese Ablehnung kam, zu einer Zeit, da noch nicht absehbar war, was aus dem Sozialismus Ulbricht´scher Prägung einmal werden würde. Noch standen sich ja die beiden Hälften Restdeutschlands nicht unversöhnlich gegenüber, und sogar gesamtdeutsche Wahlen lagen in der Luft. Dann: Der SED-Staat hatte sie doch nicht aus Ostpreußen vertrieben und ihr die Ersparnisse geraubt, worüber sie sich oft beklagte, sondern Inflationszeit und Hitler. Für sie war in der DDR war schlecht, im Westen alles gut.

Zum Beispiel in Sachen Kaffee. In der DDR gab es damals zwar die Marke 'Röstfein' aus Magdeburg, das halbe Kilo zu vierzig Mark (Ost); in Westdeutschland dagegen 'richtigen' Bohnenkaffee, und dann auch noch angeblich für ein Spottgeld. Als es dann in den Siebzigern gar keinen halbwegs 'richtigen' Bohnenkaffee mehr gab, sondern nur noch 'Erichs Krönung' mit einem hohen Ersatzkaffeeanteil, war es ganz aus. Die Großmutter, die sich jeden Morgen einen starken Bohnenkaffee braute, und, um die Wirkung zu erhöhen, noch ein oder zwei Gläschen Weinbrand hinunterkippte, wollte 'anständigen' Kaffee haben. „Wie, dä Muckefuck? Pfui Deibel!“ Den echten Kaffee ließ sie sich von ihrer Verwandtschaft im Westen schicken. Allerdings war ihr Abscheu wohl nicht ganz ehrlich. Irgendwie bekam meine Mutter heraus, dass sie einen Teil des West-Kaffees, der keineswegs ein „Spottgeld“ kostete, gegen andere nützliche Dinge eintauschte. Na, d e n Krach hättet ihr erleben sollen!
Jedenfalls färbte die Ablehnung der Großmutter allmählich auch auf mich ab. Als es wieder einmal Frikadellen gab, soll ich zum Gaudi der Muschpoke ausgerufen haben:

„Was, schon wieder Ostbulletten?“


Obwohl Heinz für die Großmutter ein Vertreter der verhassten Regierung war, hielt sie ihn für einen anständigen Menschen, möglicherweise, weil er im KZ gesessen hatte. Sie schilderte ihn mir als eine janusköpfige Gestalt mit zwei unterschiedlichen Erscheinungsformen. Wenn es um Politik ginge, könne man mit ihm nicht reden. Er sähe alles und jedes unter dem Blickwinkel hirnvernagelter Kommunisten. Das sei einer, höhnte sie, „dä sogar die Strahlweite von einem Pissbogen unter sozialistischen Gesichtspunkten bejutachtet. Dabei hat dä doch im KZ jesessen und müsste eijentlich wissen, wohin Engstirnigkeit führen kann.“ Im Familienkreise und als Gast hingegen sei er ein angenehmer Plauderer und witziger Unterhalter, dem man gerne zuhöre.

Natürlich war ich damals noch zu jung, um von Politik überhaupt etwas zu verstehen. Auch bemerkte ich erst später, dass Großmutters politische Einstellung nicht ganz astrein war. Warum zog sie ständig über das SED-Regime her, während sie über die Zeit des Nationalsozialismus nie ein Wort verlor? Wenn ich sie darauf ansprach, seufzte sie und schwieg vielsagend. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie bei den Nazis überhaupt eine Rolle gespielt haben könnte. Als Großmutter war sie großartig, als Zeitgenossin völlig unbedeutend. Vielleicht ihr Mann, der Großvater mit den Krücken? Kann ich mir beim besten Willen auch nicht vorstellen, dann hätte ihn die Staatssicherheit wahrscheinlich längst abgeholt.

Ich erinnere mich, dass ich einmal bei meinen Streifzügen durch die Wohnung der Großeltern in einen Kleiderschrank hineinkroch. In einer Ecke, hinter den Kleidern, entdeckte ich eine Reihe schwarz eingebundener Bücher. Erfreut über den Fund nahm ich einen Band und lief damit voll Entdeckerfreude ins Wohnzimmer, wo die Familie friedlich plaudernd an der Kaffeetafel saß. Die Unterhaltung verstummte schlagartig, eisiges Schweigen machte sich breit. An der Reaktion der Erwachsenen merkte ich, dass ich in ein Wespennest gestochen hatte. Die Großmutter nahm mir wortlos das Buch aus der Hand und brachte es weg. Als ich zwei oder drei Tage später nachschaute – natürlich war die Sache jetzt hochinteressant geworden – waren die Bücher verschwunden. Der Vorfall wurde nie mehr erwähnt. Später wurde mir klar: Ich war in eine Generation von notorischen Auskunfts-Verweigern hinein geboren worden.
Allerdings, der Großvater, der mit den Krücken – der andere war ja angeblich im Krieg geblieben – soll einmal, als er schon einen im Timpen hatte, ausgerufen haben: „Wenn man die Leute so rreden hört, dann hat es nur zwei überzeugte Nazis gegeben: Hitlärr und mich!“ Da dieser Spruch auch von anderer Seite überliefert ist, ziehe ich die Echtheit dieser Anekdote doch stark in Zweifel.

Doch zurück zu PG Heinz. Eines Tages – ich greife jetzt ein paar Jährchen vor (es waren wieder einmal große Ferien) – nahm er mich mit ins Pergamon-Museum, um mir den wiederhergestellten Pergamonaltar zu zeigen. Es muss 1956 gewesen sein, ich war damals zwölf Jahre alt. Die Museumsinsel kannte ich schon, man fährt ja mit des S-Bahn mitten durch. Ich hatte mich wiederholt gefragt, warum man ein Museum unbedingt um eine Bahntrasse herum bauen musste, die auch noch mit Brettern vernagelt war. Der gesamte Museumskomplex war von Kriegsschäden schwer gezeichnet; er wirkte düster und deprimierend. Aber gerade dieses Deprimierende zog mich immer wieder magisch an. Ehrfürchtig betastete ich die Granateinschläge in den Mauern, sah verwundert die Birkenschösslinge, die aus den Dachrinnen wuchsen, die zugemauerten Fenster, die dicken, Stein auf Stein gemauerten Backsteinwände. Ein Höhepunkt dieser apokalyptischen Vision war die Ruine des Neuen Museums. Es lag da wie ein angeschossener Dinosaurier, ohne Dach, mit offener Flanke – dem Rest des Kuppelsaals – sein Inneres ungeschützt dem Betrachter darbietend, kurz davor, zu Tode erschöpft in sich zusammenzufallen. Das Gebäude ist mittlerweile rekonstruiert und zum Weltkulturerbe erklärt – und doch, ich kann mir nicht helfen, die alte Ruine hat mich damals mehr beeindruckt als das neue Haus jetzt. In ihr kristallisierte sich in meinen Augen das Morbide, dieses zu Tode Erschöpfte, das dieses Ostberlin ausstrahlte, nachdem die stehengebliebenen Fassaden gesprengt und die Trümmerhaufen beseitigt waren. Da waren die wuchtig aufragenden Brandmauern mit einem kleinen Fenster hoch oben, in dem sie die Abendsonne spiegelte, da waren die Durchblicke in dunkle Hinterhöfe, in die zuvor kaum ein Sonnenstrahl gefallen war, da war die nackte Hauswand am Hackeschen Markt, deren Ziegelsteine in der Abendsonne plötzlich glutrot aufleuchteten. Einen ähnlich starken Eindruck auf meine kindliche Seele, was Bauten anbetrifft, haben nur noch die düsteren Mausoleen auf dem Friedhof Friedrichshain hinterlassen. Ich war nicht der Einzige, den dieses steinerne Inferno in den Bann zog; Später hörte ich, dass dieses Ostberlin ein Eldorado für Architekten aus aller Welt gewesen war.

Als ich vor dem Pergamon-Altar stand, verschlug es mir die Sprache. Eine solche Pracht hatte ich in dem rußgeschwärzten Gemäuer nicht erwartet. Onkel Heinz muss meine Ergriffenheit bemerkt haben, denn er verzog sich diskret in eine andere Ecke des großen Saales, wohl, um mich nicht in meinen Betrachtungen zu stören.
Er hat mir aber dann noch so einiges erklärt, nicht nur zum Pergamon-Altar, vielleicht nicht wortwörtlich, aber in diesem Sinne. Zum Beispiel dass der Staat, der diese Prachtbauten auf der Museumsinsel in Auftrag gab, um den Kunstschätzen einen würdigen Rahmen zu geben, das Preußen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts war. Das Andenken an dieses klassizistische Preußen gelte es zu erhalten, sagte Heinz, das kriegerische hingegen müsse ein für alle Mal ausgemerzt werden. Er meinte damit die Stadtschlösser in Berlin und Potsdam, die potsdamer Garnisonskirche und manches bronzene Reiterstandbild preußischen Glanz und Glorias. Auf einmal unterbrach er sich und schwieg. Sein Gesicht nahm einen schmerzhaften Zug an, und er starrte sekundenlang bewegungslos vor sich hin.

Ich war damals nicht in der Lage, ihm zu antworten, zum Beispiel, das Häuser nichts für ihre Herren können. Und dass das mit den kriegerischen Preußen Unsinn ist. Es gab in Preußen nicht mehr kriegstolle Fürsten wie anderswo auch. Der große Ludwig hat mehr Kriege geführt als alle preußischen Könige zusammen. Schlimm wurde es erst nach der Reichsgründung 1871, doch da gab es kein Preußen mehr. Und das 1956 abgerissene Stadtschloss stand schon, bevor es dieses ominöse Preußen gab.

Nun ja, Onkel Heinz . . .Wie sah er aus? Ich versuche, näher an ihn heranzukommen, doch die Annäherung scheitert. Ich weiß zu wenig von und über ihn, noch nicht einmal seinen Nachnamen. In weiter Ferne erkenne ich undeutlich einen großen Mann mit gerötetem Gesicht und einem weißen Haarkranz, der gerne lacht.
Er muss damals schon geahnt haben, dass etwas faul war in seinen geliebten Staat, der Deutschen Demokratischen Republik. Wie anders soll ich mir seine manchmal ziemlich anstrengende Heiterkeit erklären.
Was aus ihm geworden ist? Ich weiß es nicht. Dazu war die Bekanntschaft – wenn man denn von einer solchen überhaupt reden kann – zu flüchtig. Was geblieben ist? Das lachende Gesicht eines redefreudigen Mannes und überzeugten SED-Funktionärs.
*
Übrigens, PG Heinz gehört schon in eine andere Zeit. Die Streifzüge fanden statt, als wir schon 'in den Westen gemacht' hatten, wie man damals sagte, und ich wieder mal in der 'alten Heimat' zu Besuch war. Meine ostberliner Kindheit war damit beendet, meine Jugend begann. Doch das sind andere Geschichten.

ENDE
 



 
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