rotkehlchen
Mitglied
Intermezzo
Die „süße“ Oma reißt Witze
Draußen läuten gerade die Glocken, und mir fällt etwas anderes ein. Ich ringe mit mir, ob ich es erzählen soll, denn es ist nicht besonders stubenrein, und ich fürchte, damit mach ich mir keine Freunde. Wenn ich´s trotzdem tue, dann nur, um das Charakterbild der Großmutter zu ergänzen. Also: Viele Jahre später – da war sie schon weit über achtzig und ich längst aus den Kinderschuhen herausgewachsen – fragte sie mich in ihrem singenden Tonfall über ihre Kaffeetasse hinweg (und ich vermute, wieder läuteten irgendwo die Glocken):
„Jungche, weißt du, was der kleinste Dom ist?“
„Nein.“
„Ä Kondom. Passt nur einer rein, und dä Glocken hängen draußen!“
Ein andermal, – aber das gehört eigentlich schon in eine spätere Zeit, aber sei´s drum, wer weiß, ob ich´s dann noch berichten kann – als ich sie mit meiner Verlobten besuchte und wir am reich gedeckten Abendbrottisch saßen, meinte sie: „Jungche, nimm doch noch Wurscht! Von Marmelade steht kein Pimmel gerade!“ Sie hatte schon zwei, drei Kognaks gekippt und wurde immer redseliger. Auf einmal fing sie, mit dem leeren Kognakschwenker in der Hand gestikulierend, laut an zu singen:
Die Augen blau vom Raufen,
Die Nasen rot vom Saufen,
Die Haare weiß vom Huren:
Das sind die Farben von Masuren!
Sie nahm eben kein Blatt vor den Mund. Was raus musste, musste raus. Und so lebte sie, bis sie mit vierundachtzig an Magenkrebs starb.
Da fällt mir eine andere Episode ein.
Die politischen Witze, die mir die Großmutter erzählte, sagten mir nichts. Trotzdem habe ich einige in meinem Gedächtnis konserviert, möglicherweise wegen des Geruchs, der sich bei ihrer Erzählung in der Küche ausbreitete. Die Großmutter hatte nämlich die Angewohnheit, ihren Harzer Roller in ein Weckglas einzuschließen und das Glas in einem Regal im Flur aufzubewahren. Da sie keinen Kühlschrank besaß – obwohl damals schon VEB-Kühlschränke der Marke „Kristall“ erhältlich waren – entwickelte sich der Käse bei hochsommerlichen Temperaturen zu einer zerfließenden Masse mit einem Aroma, das ein Nashorn umhauen konnte. Die Großmutter öffnete also das Glas und fragte mich, ob ich die kürzeste Zeiteinheit der 'Ostzone' schon kenne. Ostzone. Sie sprach diese Bezeichnung übrigens immer mit herablassender Betonung aus, ein Seitenhieb auf Onkel Heinz (von dem noch die Rede sein wird), der einen roten Kopf bekam, wenn jemand Ostzone oder SBZ sagte, wie es bei uns üblich war.
„Nein, Oma“, sagte ich wahrheitsgemäß.
„Das ist ein Ulb.“
„Ein Ulb? Was soll das denn sein?“
„Das is dä Zeit vom Beginn einer Ulbrichtrede bis zum Abschalten des Radios.“
Ich verstand nicht und fragte: „Und wie lang ist die?“
(Der damalige Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht galt als 'Erfinder' der Berliner Mauer).
Es war ein oder zwei Jahre nach dem Mauerbau. Großmutter und ich saßen in der Straßenbahn, auf dem Weg zu ihrer Schwester Anna, die schon seit einer halben Ewigkeit in einem Altersheim in Berlin-Buch lebte. Die Bahn klingelte und ratterte so vor sich hin. Auf einmal blickt mich die Großmutter unter ihrem Kapotthut schelmisch grinsend an und sagt so laut, dass es noch drei Sitzreihen weiter weg zu hören ist: „Dä Regierung behauptet, dä Mauer is dicht. Nä, nä, nä, das stimmt nich.“
„Warum denn nicht?“
„Dä Mauer hat ä Loch.“
„Wo denn, Oma?“
„Nix wo.“
„Aber du sagtest doch gerade –“
„Dä dä dä Mauer! Dä Mauer is weiblich.“
Ich weiß hundertpro, dass ich nicht gelacht habe, denn ich wusste gar nicht, wovon sie sprach.
Aber so war sie eben, die ostpreußische Großmutter. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, auch nicht vor Heranwachsenden.
Es war brandgefährlich. Aber was raus musste, musste eben raus. Es war ihr Kommentar zur politischen Realität, der da lautete: Ihr könnt mich alle mal! Nur, diese Leck-Mich-Am-Arsch-Haltung sollte sie eines Tages ins Gefängnis bringen. Doch auch davon später.
Von ihr habe ich gelernt, dass tiefe Gläubigkeit sich nicht unbedingt mit scharfem Witz, Zivilcourage und Weltoffenheit beißen muss. Sie besaß eine Art mittelalterliche Frömmigkeit, bei der Freudenhaus und Folterkeller gleich neben der Kirche stehen. Bis zum Schluss hat sie geglaubt, dass sie ihren ewig kranken Mann im Himmel gesund wiedersehen würde, aber die Mitteilung, dass ich aus der Kirche ausgetreten sei und wir nicht daran dächten, uns kirchlich trauen zu lassen, nahm sie ohne mit der Wimper zu zucken zur Kenntnis.
In meinem Gedächtnis habe ich eine anderes Gesicht als auf dem Foto bewahrt: Eine unergründliche Landschaft, mit Rillen und Runzeln übersät wie Wattenboden bei Ebbe, darin zwei mild-strahlende Sonnen. Ich habe jede dieser Falten geliebt.
Der Großvater
Da ist es wieder, dieses Tock – Tock – Tock . . . Er kommt vor der Eckkneipe zurück, vom Greil, wo er ein, zwei Bierchen getrunken hat – jetzt schleppt er sich an seinen Krücken die Treppe hoch – tock – – tock – – tock . . .
Es sind drei 'Treppen', wie man in Berlin sagt, die er zu bewältigen hat, mit hohen, engen Stufen – tock – – tock. Jetzt ist eine Weile Ruhe, denn der verschnauft kurz auf einem Treppenabsatz – und wieder geht es tock – – tock – –tock – – tock . . .
Es klingt unheimlich, geradezu verstörend. Jetzt steht er vor der Wohnungstür und klopft – er klopft mit dem Krückstock an die Tür. Ich habe Angst, denn ich bin allein. Neulich stand ein Mann vor der Tür, der mich fragte, ob ich ihm etwas Geld geben könnte, er habe lange nichts gegessen und habe Hunger. Ich bekam eine Höllenangst; meine Mutter hatte mir eingeschärft, fremden Leuten auf keinen Fall die Tür zu öffnen, das seien Mitschnacker, die kleine Kinder mitnähmen. Vielleicht ist dieser Anklopfer ja ein anderer Großvater mit Krücken; auf der Straße habe ich Männer mit einem Bein gesehen, sogar einen, dem beide Beine fehlten. Er rutschte auf einem Brett herum, o Gott, ich hatte Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Ich merke, wie mir vor Angst die Hände feucht werden. Da ruft es: „He, Hosenpuper, mach schon auf! Ich bin´s!“ Ich erkenne Großvaters Stimme und das Geheimwort und mache erleichtert auf.
Und wieder geht es tock – – tock – – tock . . .
Der Großvater, schwer über den Krücken hängend – es sind schulterhohe Krücken, wie ich sie später nie wieder gesehen habe, zwei leicht gebogene Seitenholme mit einem Handgriff auf halber Höhe und einem Achselstück – der Großvater humpelt durch den langen Korridor ins Wohnzimmer und lässt sich ächzend in seinen Sessel fallen. Und jetzt beginnt ein Schauspiel, so seltsam und abstrus, dass mich eine Gänsehaut überfällt, während ich dies schreibe, – ich nehme eine dieser hölzernen Gehhilfen, die fast doppelt so lang wie der Knirps ist, der sie hält – und humpele durch den Flur – tock – tock – tock – tock . . . Er tut mir leid, der Großvater, sein trauriges Gesicht macht auch mich traurig, und ich will ihn etwas aufheitern . . .
Ich kannte den Großvater nur krank, schwerkrank. Die Großmutter erzählte, es habe sich als Kradmelder bei der Wehrmacht die Gicht geholt. Dazu kam noch angeborenes Herzasthma. Wenn er einen Hustenanfall bekam, hörte es sich an, als wollte er sich seine gesamten Eingeweide aus dem Leib husten.
F. f
Die „süße“ Oma reißt Witze
Draußen läuten gerade die Glocken, und mir fällt etwas anderes ein. Ich ringe mit mir, ob ich es erzählen soll, denn es ist nicht besonders stubenrein, und ich fürchte, damit mach ich mir keine Freunde. Wenn ich´s trotzdem tue, dann nur, um das Charakterbild der Großmutter zu ergänzen. Also: Viele Jahre später – da war sie schon weit über achtzig und ich längst aus den Kinderschuhen herausgewachsen – fragte sie mich in ihrem singenden Tonfall über ihre Kaffeetasse hinweg (und ich vermute, wieder läuteten irgendwo die Glocken):
„Jungche, weißt du, was der kleinste Dom ist?“
„Nein.“
„Ä Kondom. Passt nur einer rein, und dä Glocken hängen draußen!“
Ein andermal, – aber das gehört eigentlich schon in eine spätere Zeit, aber sei´s drum, wer weiß, ob ich´s dann noch berichten kann – als ich sie mit meiner Verlobten besuchte und wir am reich gedeckten Abendbrottisch saßen, meinte sie: „Jungche, nimm doch noch Wurscht! Von Marmelade steht kein Pimmel gerade!“ Sie hatte schon zwei, drei Kognaks gekippt und wurde immer redseliger. Auf einmal fing sie, mit dem leeren Kognakschwenker in der Hand gestikulierend, laut an zu singen:
Die Augen blau vom Raufen,
Die Nasen rot vom Saufen,
Die Haare weiß vom Huren:
Das sind die Farben von Masuren!
Sie nahm eben kein Blatt vor den Mund. Was raus musste, musste raus. Und so lebte sie, bis sie mit vierundachtzig an Magenkrebs starb.
Da fällt mir eine andere Episode ein.
Die politischen Witze, die mir die Großmutter erzählte, sagten mir nichts. Trotzdem habe ich einige in meinem Gedächtnis konserviert, möglicherweise wegen des Geruchs, der sich bei ihrer Erzählung in der Küche ausbreitete. Die Großmutter hatte nämlich die Angewohnheit, ihren Harzer Roller in ein Weckglas einzuschließen und das Glas in einem Regal im Flur aufzubewahren. Da sie keinen Kühlschrank besaß – obwohl damals schon VEB-Kühlschränke der Marke „Kristall“ erhältlich waren – entwickelte sich der Käse bei hochsommerlichen Temperaturen zu einer zerfließenden Masse mit einem Aroma, das ein Nashorn umhauen konnte. Die Großmutter öffnete also das Glas und fragte mich, ob ich die kürzeste Zeiteinheit der 'Ostzone' schon kenne. Ostzone. Sie sprach diese Bezeichnung übrigens immer mit herablassender Betonung aus, ein Seitenhieb auf Onkel Heinz (von dem noch die Rede sein wird), der einen roten Kopf bekam, wenn jemand Ostzone oder SBZ sagte, wie es bei uns üblich war.
„Nein, Oma“, sagte ich wahrheitsgemäß.
„Das ist ein Ulb.“
„Ein Ulb? Was soll das denn sein?“
„Das is dä Zeit vom Beginn einer Ulbrichtrede bis zum Abschalten des Radios.“
Ich verstand nicht und fragte: „Und wie lang ist die?“
(Der damalige Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht galt als 'Erfinder' der Berliner Mauer).
Es war ein oder zwei Jahre nach dem Mauerbau. Großmutter und ich saßen in der Straßenbahn, auf dem Weg zu ihrer Schwester Anna, die schon seit einer halben Ewigkeit in einem Altersheim in Berlin-Buch lebte. Die Bahn klingelte und ratterte so vor sich hin. Auf einmal blickt mich die Großmutter unter ihrem Kapotthut schelmisch grinsend an und sagt so laut, dass es noch drei Sitzreihen weiter weg zu hören ist: „Dä Regierung behauptet, dä Mauer is dicht. Nä, nä, nä, das stimmt nich.“
„Warum denn nicht?“
„Dä Mauer hat ä Loch.“
„Wo denn, Oma?“
„Nix wo.“
„Aber du sagtest doch gerade –“
„Dä dä dä Mauer! Dä Mauer is weiblich.“
Ich weiß hundertpro, dass ich nicht gelacht habe, denn ich wusste gar nicht, wovon sie sprach.
Aber so war sie eben, die ostpreußische Großmutter. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, auch nicht vor Heranwachsenden.
Es war brandgefährlich. Aber was raus musste, musste eben raus. Es war ihr Kommentar zur politischen Realität, der da lautete: Ihr könnt mich alle mal! Nur, diese Leck-Mich-Am-Arsch-Haltung sollte sie eines Tages ins Gefängnis bringen. Doch auch davon später.
Von ihr habe ich gelernt, dass tiefe Gläubigkeit sich nicht unbedingt mit scharfem Witz, Zivilcourage und Weltoffenheit beißen muss. Sie besaß eine Art mittelalterliche Frömmigkeit, bei der Freudenhaus und Folterkeller gleich neben der Kirche stehen. Bis zum Schluss hat sie geglaubt, dass sie ihren ewig kranken Mann im Himmel gesund wiedersehen würde, aber die Mitteilung, dass ich aus der Kirche ausgetreten sei und wir nicht daran dächten, uns kirchlich trauen zu lassen, nahm sie ohne mit der Wimper zu zucken zur Kenntnis.
In meinem Gedächtnis habe ich eine anderes Gesicht als auf dem Foto bewahrt: Eine unergründliche Landschaft, mit Rillen und Runzeln übersät wie Wattenboden bei Ebbe, darin zwei mild-strahlende Sonnen. Ich habe jede dieser Falten geliebt.
Der Großvater
Da ist es wieder, dieses Tock – Tock – Tock . . . Er kommt vor der Eckkneipe zurück, vom Greil, wo er ein, zwei Bierchen getrunken hat – jetzt schleppt er sich an seinen Krücken die Treppe hoch – tock – – tock – – tock . . .
Es sind drei 'Treppen', wie man in Berlin sagt, die er zu bewältigen hat, mit hohen, engen Stufen – tock – – tock. Jetzt ist eine Weile Ruhe, denn der verschnauft kurz auf einem Treppenabsatz – und wieder geht es tock – – tock – –tock – – tock . . .
Es klingt unheimlich, geradezu verstörend. Jetzt steht er vor der Wohnungstür und klopft – er klopft mit dem Krückstock an die Tür. Ich habe Angst, denn ich bin allein. Neulich stand ein Mann vor der Tür, der mich fragte, ob ich ihm etwas Geld geben könnte, er habe lange nichts gegessen und habe Hunger. Ich bekam eine Höllenangst; meine Mutter hatte mir eingeschärft, fremden Leuten auf keinen Fall die Tür zu öffnen, das seien Mitschnacker, die kleine Kinder mitnähmen. Vielleicht ist dieser Anklopfer ja ein anderer Großvater mit Krücken; auf der Straße habe ich Männer mit einem Bein gesehen, sogar einen, dem beide Beine fehlten. Er rutschte auf einem Brett herum, o Gott, ich hatte Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Ich merke, wie mir vor Angst die Hände feucht werden. Da ruft es: „He, Hosenpuper, mach schon auf! Ich bin´s!“ Ich erkenne Großvaters Stimme und das Geheimwort und mache erleichtert auf.
Und wieder geht es tock – – tock – – tock . . .
Der Großvater, schwer über den Krücken hängend – es sind schulterhohe Krücken, wie ich sie später nie wieder gesehen habe, zwei leicht gebogene Seitenholme mit einem Handgriff auf halber Höhe und einem Achselstück – der Großvater humpelt durch den langen Korridor ins Wohnzimmer und lässt sich ächzend in seinen Sessel fallen. Und jetzt beginnt ein Schauspiel, so seltsam und abstrus, dass mich eine Gänsehaut überfällt, während ich dies schreibe, – ich nehme eine dieser hölzernen Gehhilfen, die fast doppelt so lang wie der Knirps ist, der sie hält – und humpele durch den Flur – tock – tock – tock – tock . . . Er tut mir leid, der Großvater, sein trauriges Gesicht macht auch mich traurig, und ich will ihn etwas aufheitern . . .
Ich kannte den Großvater nur krank, schwerkrank. Die Großmutter erzählte, es habe sich als Kradmelder bei der Wehrmacht die Gicht geholt. Dazu kam noch angeborenes Herzasthma. Wenn er einen Hustenanfall bekam, hörte es sich an, als wollte er sich seine gesamten Eingeweide aus dem Leib husten.
F. f