"Ode" an die Weltliteratur

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"Ode" an die Weltliteratur
Darf ich es sagen? Kann ich es sagen? Ich sage es. 2020 war eines der besten und schönsten Jahre meines Lebens. Nicht wegen der Pandemie. Wegen Begleitumständen der Pandemie.

Wie oft habe ich mir gewünscht, vielen Büchern ausreichend Aufmerksamkeit widmen zu können.
Wie oft habe ich mir gewünscht soziale Netzwerke durch differenziertes Schreiben zu "missbrauchen".
Wie oft habe ich mir gewünscht, genug Muße für die vielen schönen Dinge zu haben, für die ich im üblichen Arbeitsalltag nicht ansatzweise Zeit habe.

Das nun ausgerechnet die Politik während der Pandemie viel mehr Geld dafür ausgibt, damit ich das kann, anstatt deutlich weniger Geld auszugeben, um die Risikogruppen mit unseren Möglichkeiten maximal zu schützen und das Gesundheitssystem so zu gestalten, das es gar nicht erst systemrelevant wird, habe ich nicht erwartet.
Natürlich ergibt sich aus diesem, unseren bisherigen Pandemie-Kenntnissen widersprechenden Verhalten, das die übrige Bevölkerung mit voraussichtlich geringem oder gar keinem Krankheitsverlauf NICHT schon nach relativ kurzer Zeit immun ist und somit noch Monate und Jahre ein unguter Zustand in unserem Leben aufrecht erhalten werden muss. Da keiner der Weisen und Intelligenten darin ein Versäumnis sieht, kann ich dieses Geschenk ohne Zweifel und ohne schlechtes Gewissen aus tiefster Seele genießen ?

Lange vorher hatte ich für mich schon die Entscheidung getroffen, mich bei der Literaturauswahl bevorzugt an der Weltliteratur zu orientieren. Gegenwartsliteratur verirrt sich sich regelmäßig unter diese Auswahl, aber eher durch Zufälle, als durch gezielte Auswahl.

Was ist für mich Weltliteratur? Es sind vor allem die Kinder- und Jugendbuchklassiker aller Kontinente, die für viele Leser über einen langen Zeitraum und über Ländergrenzen hinweg ihre Wirkung nicht verloren haben. Aber auch Werken aus Epik, Philosophie/Theologie/Wissenschaft, Drama, Utopie/Fantasy, und Dichtkunst, die dem selben Maßstab standhalten, wie die Jugendbuchklassiker, gestehe ich dieses Prädikat zu.

Das Besondere an Weltliteratur ist, das sie Menschen mehr vereint, als es jede andere Literatur schafft. Wann immer man keinen Gesprächsansatz zu finden scheint, so wird sich ein Werk der Weltliteratur finden, welches gesprächsbereiten Menschen dazu dienen kann, einen gemeinsamen Maßstab für das Gelesene zu finden.
Deswegen befasse ich mich bei der Weltliteratur auch nicht nur mit meiner eigenen Sichtweise, sondern sehr intensiv mit den Interpretationen von Anderen, die mir oft Augen und Vorstellungskraft noch viel weiter öffnen, als ich es allein vermag.

Es war herrlich dieses Jahr. In radikalen Foren sozialer Netzwerke trainierte ich ausgiebig die vernünftige Rhetorik an ihrer machbaren Grenze und lernte nebenbei auch in anderen Bereichen dazu. Meine Beobachtung ist, das für die Redekunst viel stärkerer Bedarf in Gegenwart von Wütenden, Denkfaulen und sprechgeschulten Managern herrscht, als unter Menschen mit gegensätzlichen Meinungen, die vernünftigem Gedankenaustausch gegenüber aufgeschlossen sind.

Nun muss man es nicht als Anekdote überbewerten, das ich in keinem radikalen Forum jemals eine Ermahnung wegen eines Verstoßes gegen die Gruppenregeln erhielt, in einem Forum für Weltliteratur schon. Ich flog aus linken und rechten Foren, einem Forum von Fußball-Ultras, aber immer ohne Verstoß. Der Grund war jedes mal der Umstand, das die dort übliche Art und Weise des Schlagabtausches in der Auseinandersetzung mit einer argumentativen Rhetorik nicht aufrecht erhalten werden konnte. Gute Gründe für einen Rauswurf, aber niemals Grund für eine Anzeige wegen Schlechtigkeit.

Der Fauxpas bei den Schöngeistern und wortgewaltigen Giganten, bei denen ich so gern die Gedanken ausruhe?
Ich äußerte mich zu einem Beitrag über einen "ex-jugoslawischen" Philosophen. Mir gefielen einige Zitate von ihm nicht, mit ihrer dogmatische Bewertung, Verallgemeinerung und einseitigen Betrachtung. Ich assoziierte das auch noch mit einem Bild, auf dem er exakt die gleiche Pose und den Gesichtsausdruck hatte, wie Benito Mussolini auf einem bekannten Bild. Es war zunächst nicht weiter schlimm, da ich meine Kritik entschärft hatte, indem ich im Text und zum Bild direkten Bezug auf "Der große Diktator" von Charlie Chaplin nahm.
Gerade, als ich das veröffentlicht hatte, postete ein allseits beliebter und auch von mir sehr geschätzter Teilnehmer im Forum ein Zitat von Georg Christoph Lichtenberg: "Meine Sprache ist allzeit simpel, enge und plan. Wenn man einen Ochsen schlachten will, so schlägt man ihm gerade vor den Kopf."
Ich las es, interpretierte es und fand auf einmal, das die umständliche Bezugnahme auf den großen Diktator, meiner Kritik viel von ihrer Wirkung, Klarheit und Direktheit nahm. Also entfernte ich den entschärfenden Teil der Bezugnahme und Schwups, war ich für einen Tag vom kommentieren ausgeschlossen und hatte meine erste Facebook-Ermahnung. Nicht bei den Radikalen...nein, im geliebten Forum.
Einer der erwähnten Nebeneffekte meines Rhetorik-Trainings ist, das ich mich zunehmend weniger wichtig nehme. So war dann auch die Erkenntnis aus "dem Vorfall", das nicht jeder gute Rat zu jedem Zeitpunkt hilfreich ist.

Das Werk der Weltliteratur, welches ich in diesem Jahr am häufigsten zu Vergleichszwecken in der Hand hielt, war: "Der Staat" von Platon. Es ist fantastisch und auch wenn es vieles gibt, was man hinterfragen muss, so ist doch die Tiefgründigkeit dieses über 2300 Jahre alten Werkes größer, als viel zu viele Medienbeiträge heutzutage zu diesem Thema. Gerade in unserem Land, in dem die Meinungsfreiheit so viel Gewicht hat und ihre Deutung so viel diskutiert wird, offenbart der investigative Journalismus derzeit eine seiner schwächsten Perioden. Ich erhebe keine Deutungshoheit für meine Wahrnehmung, aber es ist mir wichtig sie auszusprechen.

Ein "unverschämter" Vergleich geht mir nicht aus dem Kopf. Ursprünglich war Harald Lesch die zentrale Figur dieser Überlegung. Mir kommt es aber im Moment so vor, als würde er auf zu vielen Hochzeiten tanzen. Das nimmt überhaupt nichts von der Qualität seiner Gedanken, aber sie verlieren an Gewicht durch die Breite der Themen, zu denen er öffentlich Stellung bezieht und bei denen er nicht immer Vordenker ist, sondern einer von uns. Dieter Nuhr rückt bei mir nun vor ihn, an diese Stelle.
Für mich trennt sich die Spreu vom Weizen nicht durch das Publikum, sondern durch die Art und Weise des Wortes, das mich gänzlich durch seine Kraft fesselt. Und wie es sonst nur Werke der Weltliteratur erreichen, braucht es nicht die Reaktion des Publikums oder von Kritikern, das Dieter Nuhr es schafft, mir den Spiegel vorzuhalten, mich trotzdem herzlich und oft zum Lachen zu bringen und mich zu (noch mehr) erweitertem Denken anzuregen. Entgegen jedem Zeitgeist vermag er es mich dazu zu bringen, ihm gerne zuzuhören, so wie Werke der Weltliteratur es vermögen, beim lesen zeitlos zu sein.

Manchmal wäre ich gern in meinen Gedanken angepasster, weil ich dann bequem und unbemerkt ein friedliches Leben führen könnte, ohne die Gefahr, das man Fehler macht, wenn man sich an der Gestaltung der Welt aktiv beteiligt.
Aber dann liefert mir Mark Twain die Entschuldigung für mein Versagen mit seinem Zitat:
"Ich habe mir nie meine Erziehung durch Schulbildung verderben lassen."
 
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