Öffne ihn nicht

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Ein alter Fisher zählt die Stunden
In Knoten und Seilen
Und im Rhythmus
der Gezeiten
Brennen alte Wunden
Salz und Sonne
aus

Verheilen

Du schaust
als wolltest du verweilen
Unter diesem Himmel, den die Stadt
wie eine alte Schuld erträgt
An deren Friedhofstor
der Horizont ein Füllhorn legt
Das sammelt
aus dem Flüstern Zeilen
für ein Gedicht
gewebt
ins blaue Tuch
der Nacht

Mich haben Möwenschreie
hergebracht
dunkler werdende Möwenschreie:
Zerrissene Briefe im Wind
sind sie
oder tausend Briefe
Reihe für Reihe
nicht abgesandt
für jemanden
bestimmt
der diese Stadt
schon längst
verlassen hat

Das Morgenlicht hat eine warme Hand
Sie legt sich um die Stadt wie ein Gebet
Und der Wind weht einen
Brief vom Strand
darin vielleicht ein Gedicht
ein altes Gesicht aus Salz und Sand

Öffne ihn nicht
er ist nicht
mehr
für dich
bestimmt

Text dve
Musik ki

 

sufnus

Mitglied
Hey Dio!
Wie so oft würde ich persönlich ein bisschen bei Reim und Gesamtlänge abrüsten ... und heraus käme: Kein Dio-Gedicht. ;)
Also lass ich das mal schön bleiben und lenke die Reflexion mal nur auf ein kleines Detail: Das Gedicht hat - im allerweitesten Sinne - einen erzählenden Gestus und die Erzählhaltung nimmt dabei im wesentlichen eine auktoriale Perspektive ein, einschließlich der direkten Anrede eines "Du" in der letzten Strophe. Zwei Punkte widersprechen aber dieser auktorialen Haltung: Zum einen ist das "Du" der letzten Strophe nicht so recht mit dem Leser in Einklang zu bringen, denn so sehr der auch mit der Handlung "mitgeht", er wird kaum die Möglichkeit haben, einen fiktionalen Brief zu öffnen. Und - m. E. noch interessanter - zum anderen kommt auch einmal tatsächlich eine Ich-Perspektive zur Sprache: "Mich haben Möwenschreie hergebracht". Da fragt man sich nun schon, wer ist denn wohl dieses Du und wer ist dieses Ich in dem Gedicht. Es erscheint mir plausibel zu sein, dass es sich dabei um ein und die selbe Person handelt, aber wer ist es wohl? Gott? (Dio? ;) ).
LG!
S.
 

sufnus

Mitglied
P.S.:
Übrigens knifflig für mich, das zu Besternen... die 4/5 sind ein irgendwie unglücklicher Kompromiss, der meiner persönlichen Lesevorliebe für Texte entspricht, die beim Einsatz der Mittel etwas "überlegter" zu Werke gehen ... was nicht heißt, dass ich mich von anderen Haltungen, etwa Deinem "Überströmen" nicht (uh - doppelte Verneinung) auch gerne einmal mitreißen lasse. :)
 
Hey @sufnus

danke für deine feine und genaue Lektüre, die trifft sehr gut, wo das Gedicht seine Bruchlinien hat. Ich habe beim Nachdenken über dein „Wer ist das Ich, wer das Du?“ gemerkt, dass sich das Gedicht da selbst spiegelt:

Das „Ich“ tritt nur ein einziges Mal auf – „Mich haben Möwenschreie hergebracht“. Für mich ist das weniger ein autobiographisches Ich als eine Stimme, die von außen getragen wird, fast schon wie Teil der Landschaft, von den Schreien des Meeres hereingerufen.

Das „Du“ dagegen ist ambivalenter. Zuerst noch betrachtend („Du schaust, als wolltest du verweilen“), wird es am Ende radikal ausgeschlossen: „Öffne ihn nicht, er ist nicht mehr für dich bestimmt.“ Dieses Du ist für mich die Figur des Abwesenden – Geliebte, vergangenes Selbst oder schlicht eine Adresse, die sich im Verlust oder Wachstum (je nach LeserIn) aufgelöst hat.

So entstehen zwei Pole, die eigentlich zusammengehören: Das Ich als das noch Verbleibende, das Du als das Entzogene. Das Gedicht fängt auktorial an, beschreibt Fischer, Stadt, Himmel – und bricht dann an zwei Stellen subjektiv auf, weil die Stimme selbst hineingezogen ist in diesen Verlust.

Gerade das macht für mich die Spannung aus: dass die Haltung zwischen Weite und persönlichem Schmerz pendelt, und das Gedicht dadurch wie ein nicht abgeschickter Brief wirkt – an jemanden, der vielleicht nie gemeint war oder längst nicht mehr da ist oder nicht mehr "der und der" ist.

An einen Gott (auch wenn dieser oft in meinen Liedern vorkommt) habe ich weder in diesem Lied, noch bei der schlichten Verkürzung von Dionysos zu Dio gedacht.

Dio
 



 
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