Österliches

Walther

Mitglied
Österliches


Gebete klingen durch den Raum,
Den hohe Fenster farbig säumen.
Man kann durch ihre Splitter träumen,
Und das Gemurmel hört man kaum.

Den hohen Turm umflattern Tauben.
Ihr Weiß ist grau; die Tauben taub,
Und alles Träumen wird zum Raub
All derer, die den Glauben rauben.

Ein Glockenklang verziert die Luft.
Sie zittert sich zum Ton, soll rufen,
Und weißer Rauch schmerzt wie der Duft,

Den alte Spezereien schufen.
Ein fernes Licht strahlt durch die Kluft.
Der Esel scharrt mit feinen Hufen.
 
F

Fettauge

Gast
Lieber Walther,

wieder eines deiner Sonette, ein österliches Sonett. Leider kann ich mich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass du dich inhaltlich von den Reimwörtern leiten ließest. Ein Beispiel:

"Ein Glockenklang verziert die Luft.
...
Und weißer Rauch schmerzt wie der Duft,
den alte Spezereien schufen."

Zunächst: Der Weihrauch zählt nicht zu den Spezereien wie Curry, Pfeffer, Nelken, Muskat usw. Hier solltest du vielleicht nach einem anderen Sammelbegriff suchen.

Dass aber der Glockenklang die Luft "verzieren" kann, das halte ich für eine Hilfskonstruktion, genauso dass "Rauch schmerzt wie der Duft". Das Verb "schufen" hat eine andere Bedeutung als "würzen" und erscheint mir im Zusammenhang mit den Spezereien doch eher als Missgriff.

Außerdem frage ich mich, wenn die Gebete durch den Raum klingen, wie es dann möglich ist, dass man das Gemurmel nicht hört?

Insgesamt erscheint mir der Text doch etwas sehr bemüht.

Liebe Grüße, Fettauge
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Das alte deutsche Wort "Spezereien" (das aus einem italienischen für "Orientwaren", besonders spices, Gewürze, stammt) hat zwei Bedeutungsschwerpunkte, die auseinanderdriften: Allgemeiner Kram, "Sorten", verschiedene Waren einerseits - Gewürze und alles, was man in Apotheken erhält (Drogen usw.) andererseits. Es ist natürlich selten im Gebrauch, also klingt eine Bibelstelle sofort an (jedenfalls bei mir, und hier ganz besonders passend!): Markus 16,1, wo die Frauen einige Pfund "Spezereien" einkaufen gehen, um den Leichnam damit zu "salben" (wie Luther das übersetzt). In der Vulgata sind diese "Spezereien" (ja!!) "aromata", und im griechischen Original gleichfalls "arômata". Da sind gewiß nicht einige Pfund Paprikapulver mit gemeint.

Gebete klingen durch den Raum,
Den hohe Fenster farbig säumen.
Man kann durch ihre Splitter träumen,
Und das Gemurmel hört man kaum.
Das ist sehr genau und verdient ein genaues Lesen: Der von den Fenstern Abgelenkte hört eben das Gemurmel kaum, gleich ob es mit den Gebeten identisch ist, die durch den Raum "klingen", oder ob es nur als Hintergrundgeräusch im Hall verklingt.
Den hohen Turm umflattern Tauben.
Ihr Weiß ist grau; die Tauben taub,
Und alles Träumen wird zum Raub
All derer, die den Glauben rauben.
Das sind hübsche Wort-Klang-Binnenreim-Spiele. Wer aber raubt wem den Glauben? In dieser Situation?
Ein Glockenklang verziert die Luft.
Sie zittert sich zum Ton, soll rufen,
Und weißer Rauch schmerzt wie der Duft,
"Sie" müßte die Luft meinen; aber soll die Luft "rufen" oder nicht vielmehr der Glockenklang?
Den alte Spezereien schufen.
Ein fernes Licht strahlt durch die Kluft.
Der Esel scharrt mit feinen Hufen.
Welcher Esel? War das ursprünglich ein Weihnachtsgedicht? Es ist ja auch sonst nicht besonders österlich, sonst wären die Blicke des Kirchenbesuchers von den hellbunten Blumensträußen überrascht, die im Licht- und Farbenrausch der plötzlichen Feiertage die Sinne "rauben", sagt mir mein die Jahrzehnte durchspürendes Impressionen-Gedächtnis.
 

Walther

Mitglied
hi mondnein,

in der tat muß man dieses gedicht genau lesen, weil es präzise ist in der wahl seiner bilder. in s1 hast du das auch getan. vielen dank dafür - und natürlich für deinen sehr kenntnisreichen eintrag.

in s2 geht es noch mehr als in s1 darum, genau hinzusehen. es handelt sich um mehr als wortspielereien. vielmehr gilt es, den wahren sinn der worte (und wörter!) zu erspüren. da wäre z.b. das teekesselchen "die tauben" in s2v2, das eine zentrale rolle spielt. s2v3 und v4 beschreiben, was ist: kein traum, kein glaube, keine hoffnung.

ein schöner ton ist eine zierde, nicht wahr? die glocke soll nicht nur rufen, sie soll auch zieren, verschönern. der taube spürt das zittern der luft selbst dann noch, wenn er nicht mehr hört. also ruft das zittern in der luft und damit die luft selbst. und schon ist s3 "rund". es gibt das problem, das gesehen wird, nicht, man muß nur genau lesen.

der heiland, der verkünder, ritt auf dem esel in die stadt. damit nahm alles seinen anfang. das ganze ostern ritt auf dem rücken eines esels.

wir müssen hinter die sprache schauen, die bedeutungsebenen der worte und wörter auf uns wirken lassen. aber wir sind ja taub, nicht wahr?

lg w.


lb. fettauge,

deine antwort ist oben mit einhalten. danke für deinen eintrag.

lg w.
 



 
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