Oh du fröhliche ...

hein

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Oh du fröhliche ….



Es ist der letzte Tag vor den Weihnachtsferien, und die dörfliche Grundschule bebt vor Erwartung. Alle sind aufgeregt und froh, dass dieses Jahr zu guter Letzt doch noch ein Ende hat.

Die kleineren Kinder fragen sich, ob der Weihnachtsmann wohl auch den Wunschzettel entziffern konnte und das Richtige bringt. Die Älteren sind da schon weiter: sie haben die genau spezifizierten Forderungen bereits im Warenkorb eines bekannten Online-Shops hinterlegt. Da muss Santa Claus nur noch die Kreditkartennummer hinzufügen und auf ‚kaufen‘ klicken.

Eine Gruppe von Jungs hat eine spezielle Verabredung für Heiligabend, Punkt 21:00 Uhr: da will man sich mit der neu gelieferten Technik virtuell in einem dieser angesagten Ballerspiele zusammenfinden und sich gegenseitig den Garaus machen. Der Sieger kann danach in das nächsthöhere Level aufsteigen, wo der Gegner mit Bart und langem roten Mantel bekleidet und nur mit einer Rute bewaffnet sein soll.

Nur Götz Schriefheini, seit dem Sommer Lehrer an dieser Schule, läuft rum wie Pik-Sieben und zeigt ein unfrohes Gesicht. Seine Kollegin Heidrun, auch ursprünglich zugereist, inzwischen allerdings seit mehr als 25 Jahren mit einem örtlichen Bauern verheiratet, spricht ihn darauf an. Heidrun ist die Einzige aus dem Kollegium, die sich von Anfang an um ihn gekümmert und schon in einigen schwierigen Momenten beigestanden hat. Deshalb kann Götz sich ihr anvertrauen und klagen:

Seine Eltern werden sich auch dieses Weihnachten rechtzeitig wieder nach Bali verkrümeln. Die Geschwister sind in alle Welt verstreut, und seine Freundin, die er in letzter Zeit sowieso nur noch selten gesehen hat, eröffnete ihm kürzlich, dass sie für ihr Theologie-Studium unbedingt noch ein Praktikum in einem Bulgarischen Frauenkloster machen muss, und das geht ausgerechnet nur zu Weihnachten. Gestern hat er dann mit einem ehemaligen Mitschüler telefoniert und erfahren, dass sie bereits seit mindestens drei Monaten einen Neuen hat. Mit dessen Eltern werden sie die Tage auf einem Luxusdampfer in der Karibik verbringen. Man munkelt von einer Verlobung.

Jetzt wird er Weihnachten also in seiner kleinen Wohnung hier im Dorf verbringen, ein gutes Buch lesen und vielleicht damit anfangen, seine Erlebnisse in kleinen Geschichten aufzuschreiben und anonym im Internet zu veröffentlichen.

Heidrun entscheidet spontan: „Du kommst Weihnachten zu uns. Da sind nur mein Mann, die Oma und die Kinder. Da passt Du gut zu! Es gibt nur eine Kleinigkeit zu essen, und danach machen wir es uns gemütlich. Nicht viel mit Weihnachts-Klimbim“. Vorsichtige Bedenken von Götz werden beiseitegeschoben. Die Sache ist beschlossen.

Und so steht Götz am 24. Dezember rechtzeitig vor der Tür des stattlichen Bauernhofes, wird von Heidrun herzlich in Empfang genommen und erhält sofort Bescheid: „Du kommst gerade richtig! Mein Mann ist noch im Stall, da ist irgendetwas mit einer Kuh bei der das Kalb querliegt. Jetzt brauche ich dringend einen Weihnachtsmann für die Kinder meines Schwagers, der wohnt nebenan und wartet sicher schon.“

Kurze Zeit und keine Widerrede später steht Götz mit Rute, Rauschebart, langem roten Mantel und viel zu großen Gummistiefeln vor dem Nachbarhaus. Auf sein Klingeln hin wird die Tür aufgerissen, ein halbwüchsiger Junge sieht ihn an, stutzt kurz, und ruft dann über die Schulter: „Es ist endlich der Weihnachtsmann. Aber diesmal nicht Onkel Hans-Günther, sondern unser Lehrer, Herr Schriefheini!“

Nach kurzem peinlichem Schweigen, drohenden Gesten mit der Rute und einigen kräftigen „Hohoho!!“ stehen endlich alle Beteiligten brav im Wohnzimmer. Die Eltern im Hintergrund, direkt vor dem leuchtenden Baum, an den Beinen der Mutter ein kleines Mädchen, das den Anblick des Eindringlings noch nicht richtig einordnen kann, und im Vordergrund der bekannte Junge. Der Weihnachtsmann zückt eine ihm mitgegebene Listen der Unartigkeiten des letzten Jahres und liest daraus den Kindern die Leviten. Spontan deutet er zusätzlich noch einige schulische Begebenheiten an, von denen die Eltern nichts wissen. Das schüchtert dann doch auch den Jungen soweit ein, dass das Weitere glatt über die Bühne gehen kann.

Die Kinder müssen artig ein Gedicht aufsagen, dann werden die mit Namen versehenen Geschenke einzeln dem großen Sack entnommen und an die Empfänger verteilt. Der Weihnachtsmann bemerkt einen aufkommenden Duft nach überkochendem Essen und eine wachsende Unruhe bei der Mutter. Schnell verabschiedet er sich mit einem finalen „Hohoho!!“ und ist noch nicht ganz aus der Tür, als auch schon aus der Küche einige äußerst unchristliche Worte zu hören sind. Gleichzeitig haben die Kinder bereits das Papier von den Geschenken gerissen um zu prüfen, ob die Tante auch alle Bestellungen richtig verstanden hat.

Schließlich ist es auch bei Heidrun soweit. Götz, den die Familienmitglieder bisher nur vom Sehen her kennen, wird herzlich begrüßt, und die Gastgeberin stellt vor: die Oma, den Ehemann Hans-Günther, die beiden volljährigen Söhne und den halbwüchsigen Nachzügler. Der Grund für die Anwesenheit von Götz ist bekannt, und so setzt man sich an den festlich gedeckten Tisch. Nur die Oma guckt hin und wieder den ungewohnten Gast etwas skeptisch an.

Das Essen ist einfach, aber reichlich: als Vorspeise eine klare Suppe mit Fleischklößen und Eierstich. Danach Entenbraten mit brauner Soße, Salzkartoffeln sowie Rot- und Rosenkohl. Als Nachspeise noch ein Schälchen Karamellpudding mit Schlagsahne.

Nach dem Essen regeln Heidrun und die Jungs schnell die Küche. Dann versammeln sich alle vor dem festlich dekorierten Weihnachtsbaum, der natürlich auch hier nicht fehlen darf. Geschenke werden getauscht und ausgepackt. Götz war noch kurzfristig in die Stadt gefahren und hatte ein kleines Büchlein mit anekdotischen Erinnerungen eines Dorfschullehrers zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gefunden, wovon die Gastgeberin sichtlich erbaut ist. Heidrun hatte ihm kurz vor der Bescherung noch ein Paket zugesteckt, das er jetzt der Oma überreicht. Diese freut sich sichtlich über die neue Kittelschürze. Woher hat der Herr Lehrer nur gewusst, dass sie dringend eine neue braucht? Jedenfalls ist auch hier das Eis gebrochen.

Von der ganzen Familie zusammen erhält Götz einen großen Umschlag, in dem er einen schön gestalteten Gutschein findet. Darin verpflichtet sich Gudrun, ihm Vorhänge für seine Wohnung zu nähen. Damit er endlich mal was vor die Fenster bekommt. Da kann ja bisher jeder reinsehen!

Als dann das Weihnachtliche einigermaßen überstanden ist und alle wieder am Tisch sitzen, verschwindet die Oma einen Moment und kommt mit einer Flasche und zwei Schnapsgläsern zurück. Sie befüllt die Gläser und stellt eine vor den Gast: „Hier mein Junge, das ist reine Medizin: ‚Klosterfrau Melissengeist‘, damit ist schon meine Mutter 98 geworden! Und weil ich das regelmäßig nehme, war auch ich mein Leben lang noch nicht krank.“

Götz, dem Heidrun früher mal erzählt hatte, dass die Oma schon seit Jahren künstliche Hüften hat, die jetzt dauernd Probleme machen, und wie oft sie in letzter Zeit mit ihr zum Arzt musste wegen dem Bluthochdruck und der Diabetes, denkt sich seinen Teil und kippt das Zeug in einem Zug runter. Nachdem ihm noch zwei weitere Dosen des Wunder wirkenden Stoffes aufgenötigt wurden, beendet Heidrun die Sache und überredet die alte Dame, sich doch in ihrem Zimmer den Gottesdienst im Fernsehen anzusehen.

Danach geht der Rest der Familie zum gemütlichen Teil über, bald sind alle wie auf dem Dorf üblich, per ‚Du‘, und man spricht über dies und jenes. Der Bauer klagt über die viel zu niedrigen Milch- und Schweinepreise, und dass die letzte Trecker-Demo wieder nichts gebracht hat. „Wenn man vor der Ministerin steht verspricht die einem alles! Anschließend lässt sie sich doch wieder von den Großschlachtereien und den Handelsketten über den Tisch ziehen. Wenn die Bauern alle pleite sind können die Leute ja das billige Soja aus dem Urwald direkt in die Pfanne hauen. Mal sehen wie lange die das aushalten!“

Heidrun lenkt schließlich von dem unpassenden Thema ab und fragt die beiden großen Söhne nach dem Stand des Studiums. Der Älteste, 7. Semester Molekularbiologie, berichtet von zu teuren Studentenbuden und veraltetem Laborgerät. Aber er ist zuversichtlich, dass er nach drei weiteren Semestern und einem längeren Auslandsaufendhalt seinen Doktor machen kann. Mit Anfang dreißig muss er sich dann wohl mal nach einer festen Stelle umsehen.

Der Mittlere studiert Agrarökonomie und Politik, macht aktuell ein Praktikum bei einer dieser obskuren Organisationen in Brüssel und strebt mittelfristig einen leitenden Posten bei der Europäischen Kommission oder im Ministerium in Berlin an. Nein, den Hof des Vaters will er nicht übernehmen. Das hat doch auf Dauer keine Zukunft.

Der Jüngste geht noch zur Schule und hat im Moment zu viele Probleme mit den Hormonen und den Beziehungen zum weiblichen Geschlecht, als das er sich jetzt schon Gedanken über die Zukunft machen kann. Nach dem Abi vielleicht ein Jahr nach Australien, und dann mal sehen … .

Götz kommt auch langsam aus sich heraus, erzählt etwas aus seinem früheren Leben in der Stadt, dem großbürgerlichen Elternhaus und wie es ihn auf das flache Land verschlagen hat. Zu Anfang war die Umstellung ja schon sehr schwer, aber langsam würde er sich an die doch etwas anderen Ansichten und Lebensgewohnheiten gewöhnen. Er hat sich auch schon zu einem Grundkurs ‚Kochen für Männer‘ an der Volkshochschule angemeldet. Vielleicht muss er dann nicht mehr jeden Tag in der Gastwirtschaft essen!

So merkt jeder, dass es bei den Übrigen auch nicht immer optimal läuft, und ist letztlich doch zufrieden mit dem wie es ist. Andere haben es schlimmer!

Während der Gespräche wurde fleißig von den auf dem Tisch angebotenen Süßigkeiten und den frisch in Fett gebackenen Krapfen, hier ‚Futjes‘ genannt, genascht. Dazu starker Kaffee sowie das ein und andere Gläschen Wacholderschnaps zur Verdauung. Zuletzt ist allen doch ein wenig übel, und man beschließt, ins Bett zu gehen.

Der Bauer will noch schnell nach den Kühen sehen und lädt Götz ein, sich doch auch mal das Vieh und den modernen Stall anzuschauen. Dieser mag nicht ablehnen, steht kurz darauf in der großen Halle und kann die moderne Belüftung und die computergesteuerte Melkmaschine bewundern. Besonders und mit Stolz macht ihn Hans-Günther auf die neuen Bürste an der Rückenscheueranlage für die Kühe aufmerksam: „Habe ich ihnen zu Weihnachten spendiert. Reine Wellness! Gibt am Ende Tages einige Liter Milch mehr im Tank“. Und jetzt sieht der Gast es auch: etliche Kühe stehen artig in einer Reihe vor der besagten Einrichtung. Das vorderste Tier lehnt sich ein wenig gegen eine große Bürste, die an einem Rohr von der Decke herabhängt. Schon fängt das Gerät an, sich zu drehen und der Kuh den Rücken zu scheuern. Diese bewegt sich langsam vor und zurück und wechselt dann die Seite. So erhält sie rundherum eine wohlige Massage. Wenn Eine zufrieden davonzuckelt schließt die Nächste auf, und die Prozedur beginnt von vorne. Götz erinnert das ein wenige an eine Autowaschanlage.

Nach einer kurzen, aber herzlichen Verabschiedung mit der Versicherung, dass dies bestimmt nicht die letzte Einladung war, steht Götz dann endlich alleine auf der Hauptstraße. In der einen Hand der Umschlag mit seinem Geschenk, in der anderen ein voller Korb mit Essen für die nächsten Tage, und an der Kleidung und in den Haaren ein Stallgeruch, der auch nach einigen Wäschen noch nicht ganz verschwunden sein wird. So genießt er die frische Luft, schaut in den kalten sternenklaren Himmel und denkt:

„Das also ist Weihnachten!“
 



 
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