Oma kommt nach Berlin

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Von den Übrigen hat ihn nie einer besucht. Nur Oma machte sich auf den Weg, sie setzte sich ins Flugzeug und kam für eine Woche zu ihm, dem einzigen Enkel. Es wurde ihre letzte, ihre größte Reise überhaupt. Vor dem Krieg war sie mal dreihundert Kilometer mit der Eisenbahn gefahren und hatte ihre Tochter im Landdienst besucht. Außerdem war sie bei ihrer jüngsten Schwester in Ludwigshafen gewesen, eine Reise, die schmachvoll endete: Oma machte an der Bahnsteigsperre etwas falsch, und darauf die Schwester lachend zum Bahnbeamten: Die ist vom Land …! Oma hat es ihr nie verziehen.

Jetzt schreiben wir 1972 und Oma ist fünfundsiebzig. Sie kommt ihm aufgeregt in Tempelhof entgegen, lässt sich zum Autobus dirigieren, redet unaufhörlich, über die Mitreisenden im Flugzeug, seine Leute daheim, über Einkaufen und Kochen, wie er angezogen ist – unmöglich! Sie wird ihm Geld anbieten, damit er sich ordentlich ausstaffieren kann. Bei einem seiner Besuche hat sie gesagt: Du siehst ja gar nicht aus wie ein Herr! Ja, das war eben der entscheidende, durch nichts zu verwischende Unterschied …

Er hat Urlaub und wird sie sieben Tage lang dirigieren, quer durch die Stadt, sie soll möglichst viel sehen und begreifen, wie gut er es hat. Später wird er begreifen, dass er mit zweiundzwanzig ein Rindvieh gewesen ist. Für beide wird es eine Woche voller Mühsal. Schon diese überbreiten Straßen – sie schafft es nie in einer Grünphase von der einen Seite auf die andere. Dann müssen sie lange auf dem Mittelstreifen warten, in Lärm und Gestank. Die Autobusse haben je nach Modell den Eingang mal vorn, mal hinten, und Oma steuert zielstrebig immer das falsche Ende an.

Er zeigt ihr die Sehenswürdigkeiten. Sie gehen den Kudamm ein Stück auf und ab, sie ist unbeeindruckt. Er fährt mit ihr zur Pfaueninsel. Sie braucht zwei Stunden für den kleinen Rundgang und macht beinahe schlapp. Und was sie hier sieht, interessiert sie auch nicht. Noch mehr langweilt sie sich im Botanischen Garten, am meisten in den Pflanzenschauhäusern. – Oma, sollen wir ins Schloss Charlottenburg? – Ach, lieber nicht. Weißt du, wenn man ein Schloss gesehen hat, kennt man sie alle. (Welche Schlösser hat sie denn schon gesehen?)

Gut, dass es Edgar gibt, mit dem er locker befreundet ist. Als Fußpfleger ist Edgar Umgang mit alten Frauen gewohnt, und er macht einen Vorschlag: Er wird einen Abend mit Oma gestalten und wird noch Heino mitbringen, den hübschen und sanften Heino, der Nietzsche liest und Wachmann bei den Amerikanern in Lichterfelde ist. Sie fahren zu viert im Auto zum Kudamm und gehen mit Oma in die Gedächtniskirche. Da gibt es ein geistliches Konzert. Ob das gut geht? Oma ist seit 1920 gläubige Atheistin und lästert permanent über Kirche und Pfaffen. Es geht gut, Oma schwärmt nachher, als sie wieder nach Moabit heimfahren, von den Chören, von der Orgel, von dem wunderbaren blauen Licht.

Der Enkel ist schwul und Oma insoweit ahnungslos. An seinen Freunden fällt ihr nur auf, dass sie freundlich sind. Mag sein, dass Sexualität für Oma kein großes Thema mehr ist. War sie nicht schon immer prüde? Als Schulbub hatte er mal eine Bemerkung aufgeschnappt und vor ihr zu wiederholen gewagt, fragend: In sechzehn Monaten dreimal schwanger?! Da hatte sie ihn angefahren und niedergezischt – über so etwas durfte nicht gesprochen werden. Er war sich wie ein kleiner Verbrecher vorgekommen. Erst nach ihrem Tod, neun Jahre nach dieser Reise, wird er erfahren: Oma war siebenmal schwanger und hat viermal abgetrieben. Und in ihrem langen Todeskampf schreit sie: Schafft mir die Kinder vom Hals! (Die ungeborenen?) Das berichtet verstört die junge Pflegerin, als alles vorbei ist - so etwas Furchtbares hat sie bis dahin noch nicht mitgemacht.

Sie setzen Oma vor der Haustür ab, die sie ihr noch aufschließen, lassen sie die drei Treppen allein hinaufgehen und fahren schnell zurück in die Stadt und gehen in die Bars. Am anderen Morgen muss er sich das anhören: Sie ist hinter der Wohnungstür gestürzt und dabei auf den Kopf gefallen, hat sich später ins Bett geschafft, und es geht ihr noch nicht so gut. Oma ist Diabetikerin, er hätte sie zumindest bis in die Wohnung begleiten müssen …

Am letzten Tag sagt sie zu ihm: Ich kann ja wiederkommen, wenn du einmal keinen Urlaub hast. Du gehst dann ins Büro, und ich warte den ganzen Tag auf dem Balkon auf dich.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Arno,

eine für mich sehr gut nachvollziehbare Geschichte, die mich an einen fast identischen Besuch erinnert: Oma kommt in die Großstadt, man möchte alles richtig machen, ihr stolz so viel wie möglich von seinem eigenen Leben zeigen – ohne zu erkennen, dass Oma andere Interessen hat und eben nicht mehr die Jüngste ist.

Omas sind meistens geduldig, so dauert es dann eine Weile, bis man seinen Irrtum erkennt. Und ist später verwirrt, dass auch Oma ihre großen und kleinen Geheimnisse hatte, die man nie bei ihr vermutet hätte.

Du hast meine eigene Erinnerung mit diesem Text wieder aufgefrischt – danke dafür!

Gruß Ciconia
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Schön beschrieben, wenn auch vermutlich stark autobiographisch gefärbt, aber der Gedanke, dass Blut dicker ist als Wasser, kommt klar zum Ausdruck. Die anderen kommen nicht zu Besuch, aber Oma! Stützt das Gerücht, dass Omas noch mehr an den Enkeln als an den Kindern hängen.

Den Ausdruck "Gläubige Atheistin" finde ich besonders gelungen. :)

LG Doc
 
Danke, Ciciona und Doc, für die freundliche Aufnahme des Textes. Ach, Doc, autobiographisch? Wie kann man denn darauf kommen? Nee, nee, ich schreibe doch nur wahre Geschichten ...

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
U

USch

Gast
Hallo Arno,
schön geschriebene und gut nachvollziehbare Geschichte. Bewertung schon geschehen.
LG USch
 
Danke, USch. Vielleicht hätte ich den Schluss weniger wehmütig machen sollen. Als Oma am anderen Ende Deutschlands aus dem Flieger stieg, war sie sehr gut drauf, wurde mir berichtet, und schwelgte in Reiseerinnerungen. Na ja, Erinnerungen sind unzuverlässig (wie Goethes "schwankende Gestalten"). Wenn wir uns ihnen überlassen, benutzen wir wechselnd getönte Gläser, durch die wir zurückblicken.

Schönen Gruß
Arno Abendschön
 

James Blond

Mitglied
Dein Text gefällt mir sehr gut. Er ist übersichtlich gegliedert und trotz seiner Rück- und Ausblicke leicht und flott zu lesen. Das Präsens der Erinnerung verleiht ihm eine besondere Leichtigkeit und Munterheit, was die problematische Situation entschärft.

Der Text ist weit entfernt von den üblichen Stereotypien der Verwandschaftsbesuche und strahlt eine authentische Unmittelbarkeit aus, die nicht von gefühlsseliger Bedeutung überfrachtet wird, sondern eine angenehme Bescheidenheit vermittelt.

Sehr schön und gekonnt geschrieben.

LG JB
 

fraulange

Mitglied
Lieber Arno,

oh, das hat mir gut gefallen beim Lesen! Keine Klischees, einfach so, wie Menschen (und Omas!) sind, ein schöner unaufgeregter Erzählton dazu. Und dann kommt noch eine unerwartete Dimension (die Abtreibungen) dazu. Diese Generationengeschichte hat mich in ihrer scheinbaren Schlichtheit richtig verzaubert. Des vergleichsweise dramatischen Endes hätte es wegen mir gar nicht bedurft, für mich wäre auch die leise liebevoll-ironische Variante ok gewesen - dass die Oma aus dem Zug steigt und begeistert berichtet. Dann weiß der Leser schon, dass nicht die (für die Oma anstrengenden oder langweiligen) Unternehmungen die Hauptrolle gespielt haben sondern das Zusammensein mit ihrem Enkel.

Gerne lese ich mehr von Dir!

Herzlichst, Kristin.
 
Verspäteten Dank meinerseits

James Blond und fraulange, über euer Lob habe ich mich sehr gefreut. Wie gerne würde ich es an die Hauptperson der Geschichte weiterreichen ... Meine Rolle war nur die eines Kameraauges.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
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