Oma wird Bestseller-Autor (für Stoffel)

4,00 Stern(e) 1 Stimme

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Oma wird Bestseller-Autor

Einige Jahre nach der Wende und dem Eintritt in die Arbeitslosigkeit wurde es Oma immer langweiliger. Doch irgendwann fiel ihr ein, dass ihre Schulaufsätze in der Regel mit „eins“ bewertet wurden. So kam sie auf die Idee, ihre Memoiren zu schreiben.
Bald hatte sie einen ansehnlichen Stapel beschriebener Blätter vor sich, war aber nicht so richtig zufrieden mit ihrer Arbeit. Sie erbat von allen Seiten Anregungen und Hilfe, ging der gesamten Bekanntschaft auf den Keks damit.
Endlich vermittelte ihr ein Freund den Zugang zu einem Internet-Schreibforum. Oma hatte viel Spaß beim Lesen und Kommentieren und viel weniger Langeweile. Sie stellte ihre Memoiren in das Forum, bekam aber nur wenige Hinweise. Das störte sie nicht weiter, denn sie war schon immer eine kleine Leseratte. Und zu Lesen gibt es ja in der Leselupe wirklich genug.
Eines Tages gab ihr eine Freundin die Adresse eines Schreibzirkels, wo sich Menschen in Natura treffen. Ziel des Zirkels war, Bestseller-Autoren heranzubilden. Oma wollte unbedingt etwas dazu lernen und nahm den Termin wahr. Etliche Leute waren anwesend, Männer und wenige Frauen zwischen dreißig und sechzig Jahren. Der Verantwortliche kam und kassierte zuerst den zu zahlenden Betrag. Oma blickte jedem Schein wehmütig hinterher, aber Bildung kostet nun mal.
Dann setzten sich alle in den kühlen und kahlen Schulungsraum. Oma sperrte Augen und Ohren so weit auf, wie sie nur irgend konnte und der Referendar begann mit allgemeinen Bemerkungen über die Kunst des Schreibens: Man soll Adjektive sparsam verwenden. Oma stutzte, denn als Kind hatte sie gehört, dass Adjektive eine Geschichte spannend und interessant machen. Schwamm drüber, schnell weiter hören: Man soll mit maximal zwei Kommas in einem Satz auskommen. Ja, das hatte der Deutschlehrer damals auch gesagt. Man soll Füllwörter vermeiden wie dann, wenn, sodass, aber, als, oder, und, doch, auch und so weiter. Das wusste Oma auch schon.
Ihr Gesicht wurde lang, als der Vortragende recht unvermittelt begann, über Gedichte und Gedichtformen zu referieren. Als junger Teenager hatte sie sehr gerne Gedichte gelesen und auch selber diverse Gedichte verbrochen, bis sie in der neunten Klasse Majakowski las. Da verging ihr das Dichten. Wozu das Gehirn nach Reimworten abgrasen, wenn es auch ohne geht?
Oma hoffte, dass diese Richtung der Schreibkunst schnell abgehandelt wird, denn es sollten ja nicht prima Verseschmiede aus diesem Zirkel hervorgehen, sondern Bestseller-Autoren. Aber sie merkte auf, als von „Elfchen“ und „Haiku“ die Rede war. Diese entzückenden kleinen Kunstwerke liebte sie sehr und hatte große Achtung vor ihnen und ihren Autoren. So viel Achtung, dass sie sich selber gar nicht getraute, ähnliches verfassen zu wollen. Sie hielt es für wesentlich schwerer, als einen Limerick zu schreiben.
Es wurden Beispiele an die Tafel geschrieben. Das Elfchen: Gruselig.
Der Teufel, er ist böse.
Ich fürchte mich sehr.
Verdammt!
Haiku: Meine Katze mauzt und schreit.
Zum Kühlschrank hab ich es nicht weit.
Satt leckt sie das Mäulchen.
Und die Regeln dazu: Das Elfchen hat in der ersten Zeile ein Wort, in der zweiten zwei, in der dritten drei, in der vierten vier und in der fünften wieder eins, das ergibt elf und danach ist diese Gedichtform benannt. Der Haiku aber hat in der ersten Zeile fünf Worte, in der zweiten sieben und in der dritten wieder fünf.
„Na, das ist leicht zu merken!“, freut sich Oma.
Tage später gibt sie ihr neu erworbenes Wissen im Internet weiter, in der Absicht, einem Autor zu helfen. Da wurde ihr selber aber geholfen! Auch beim Haiku handelt es sich um Silben, im Zirkel wurde Falsches vermittelt!
Aber sie wird ihr Geld dort absitzen, das ist so sicher wie gewiss!
 

pleistoneun

Mitglied
Ein Dreichen

Die liebe Oma,

so heftig engagiert
doch fälschlich informiert

über jene Dichtgestalt
die zu ihrem Reimgehalt
mit Tiefsinn ausgestattet
Respekt zurück erstattet

von altersher diktiert
die lust nach jungem, fröhlich ungeniert
entdeckte großmutter flammarion
des schreibens große Abstraktion.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
danke,

pleistoneum, wie ich sehe, hast du den durchblick. nettes gedicht. sollte man eine neue kunstform draus machen.
ganz lieb grüßt
 

strumpfkuh

Mitglied
Liebe Old Icke,
die ist ja köstlich deine Oma und so lehrreich. Da kann ich mir jetzt ja den Besuch eines Schreibzirkels sparen, vor allem wo die doch so teuer sind! :)
Ich wünsch ihr noch viel Spaß in der Lupe, und hoffentlich geht keiner so hart mit ihr um.
LG
Doro
 



 
Oben Unten