Onkel Hans

5,00 Stern(e) 2 Bewertungen

Inu

Mitglied
*




Onkel Hans.
*
Zeit: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.
(um 1950)

*

Hermine ist zehneinhalb Jahre alt und geht in die Sexta der Mädchenmittelschule in Brückenstadt. Jeden Morgen fährt sie die fünfunddreißig Kilometer mit dem Zug dorthin. Und am frühen Nachmittag wieder zurück.

Christel Dornbüsch, Hermines Klassenkameradin, die neben ihr in der Bank sitzt, erzählt ihr, dass sie oft bis zum Abend bei den Müllers bleibt. Die Müllers wohnen nicht weit von der Schule entfernt in einem Neubau. Einmal gelingt es Christel, Hermine mitzulotsen:
"Du wirst sehen, bei denen ist es schön!"
"Schön" ist gar kein Ausdruck. Hermine ist fasziniert.

Die Müllers, das sind Hans Müller, den sie ‘Onkel Hans’ nennen und seine Frau, die Waltraud.
Die Waltraud ist immer am Putzen, am Kochen. Wenn die Kinder da sind und alles in der Wohnung frisch blinkt und strahlt, nimmt sie ihre Handarbeit vor. Dann strickt sie. Oder sie stickt. Aber sie hört auch gern Musik. Sieht hübsch aus. Redet wenig.

Onkel Hans ist laut. Kaum kommt er zur Tür herein, ist es, als ob die Wohnung plötzlich auf einen Schlag voller Menschen wäre, soviel Stimmung bringt er mit. Weil er auch immer lustig ist und seine Sprache verstellen kann, sich dann anhört wie der Heinz Erhard oder der Karl Valentin. Er ist groß, ein bisschen dick, blond, zirka vierzig Jahre alt. Und wenn er Witze erzählt, müssen die Kinder lachen, ob sie wollen oder nicht ...

Onkel Hans hat es schon zu etwas gebracht. Das ist nur wenigen gelungen, so kurz nach dem Krieg. Er ist nämlich Handelsreisender. Vertreter für Radios, Musiktruhen, elektrische Haushaltsgeräte. Das ist eine gute Existenz, sagt Christel, hätte ihre Mutter gesagt. Weil, in Deutschland müssen die Leute sich nach dem Krieg ja alles frisch anschaffen.
Die Müllers haben schon eine brandneue Etagenwohnung mit einer großen Sonnenterrasse nach Süden.

Onkel Hans ist stolz auf sich, auf die Wohnung und sein frisch gekauftes, vornehmes Auto, den silbernen Mercedes. Und auf die Waltraud.
"Sie ist Hausfrau mit Leib und Seele", sagt er, "so muss es sein in einer guten Ehe. Dass Mann und Weib an einem Strang ziehen."

Waltraud lädt häufig Leute in ihr schickes Heim ein. Sie mag auch Kinder gern, hat aber selbst keine. Deswegen ist sie ganz froh, meint sie, wenn Christel und Hermine sie möglichst oft besuchen.

"Ihr könnt jederzeit herkommen und bei uns eure Hausaufgaben machen. Hier habt ihr Platz und Ruhe."

Bei den Müllers in der Küche steht ein riesiger Kühlschrank. Der ist etwas Neues, nie Dagewesenes, denn er hat ein eingebautes Gefrierteil ... supermodern. Dass es Eisfächer gibt, wo Lebensmittel sich monatelang frisch halten, davon haben die meisten Leute noch nichts gehört. Erst wenige haben einen simplen Kühlschrank zu Hause. Lisa besitzt keinen.

Waltraud serviert den Kindern nachmittags Erdbeertorte mit Schlagsahne. Und ... o Wunder, nachher gibt es eine große Portion Eiscreme. Unsagbar lecker türmt sich das köstliche Kunstwerk in zwei Riesenschalen vor den Mädchen auf. Eiscreme aus rot-grün-orange-rosa übereinandergelagerten Schichten. Hm ... das schmeckt! Dazu Vanille, Karamell. Oben ist das Ganze noch mit Schokoladeraspeln und eingeweckten Kirschen verziert.

"Was hab ich dir versprochen? Ist das nicht toll? grinst Christel.
"Ja, der Wahnsinn!"

Eiscreme bekommt Hermine daheim nie, denn: "So große Sprünge können wir nicht machen", sagt die Stiefmutter. "Ich muss jeden Pfennig dreimal umdrehen. Weil der Papa, seit er aus Gefangenschaft zurück ist, nur experimentiert und mit seiner blöden Wichskocherei herumfuhrwerkt. Statt sich eine gute Anstellung beim Staat zu sichern, wo doch so viele Soldaten im Krieg gefallen und andere Leute hohe Nazis gewesen sind und sie jetzt jeden übrig gebliebenen anständigen Mann in Deutschland gut brauchen können."

Da kommt Christel schon aus einer besser gestellten Familie. Ihr Vater ist nämlich Polizeioberwachtmeister.
Sie wohnen am Stadtrand. In einem großen Haus, das wie fast alle anderen in dem Viertel von Brandbomben getroffen war. "Wenigstens sind die Außenwände stehen geblieben", sagt Christel. Noch immer wird gebaut und renoviert. Aber die Zimmer im Erdgeschoss haben sie schon wieder schön hergerichtet.

Die Müllers jedoch scheinen wirklich reich zu sein. Der Onkel Hans und die Waltraud haben immer schicke Kleider an und die modernsten Möbel. Im Wohnzimmer steht eine nagelneue Musiktruhe aus gelbpoliertem Schleiflack mit aufklappbaren Türen. Mit Radio und Plattenspieler. Beinahe dreißig Schallplatten sind in einem Halter auf dem nierenförmigen Beistelltisch aufgereiht. Die beiden kleinen Mädchen dürfen da Musik hören, solang sie wollen.
"Heimweh nach dir, o old Virginia" ,
"Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt",
"Heimat, deine Sterne" oder
Zarah Leander: "Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn und dann werden tausend Märchen wahr..." so etwas eben ...

Wenn der Onkel Hans da ist, singt er laut mit und tanzt ausgelassen mit den kleinen Mädchen im Zimmer herum. Dann ist richtig was los.

Eigentlich sind die Kinder nicht mit dem Onkel Hans und der Tante Waltraud verwandt. Aber Christel hat gesagt, dass ihre Eltern die beiden schon seit Jahren kennen.

Eines Tages gehen Christel und Hermine wieder einmal nach der Schule zu den Müllers. An dem Tag gibt es Sauerbraten mit Kartoffelklößen und Kopfsalat. Danach natürlich eine Riesenportion Eis. Anschließend machen die beiden Mädchen ihre Schulaufgaben auf der sonnigen Terrasse. Die Waltraud legt sich ein bisschen hin, weil sie heute abend mit einer Freundin ins Skala gehen will. In die Nachtvorstellung. Einen Arzt-Liebesfilm mit Dieter Borsche und Maria Schell.

Hermine und Christel haben es sich richtig gemütlich gemacht. Holen sich Cola aus dem Kühlschrank. Waltraud hat ihnen auch erlaubt, Schallplatten zu hören, während sie Vokabeln pauken. Das ist normal. Viele Schüler lassen neuerdings im Hintergrund beim Hausaufgaben-Machen sogar das Radio dudeln.

"Das ist verruckt ... wie soll eine Mensch das im Gehirn aushalten?" hat Mademoiselle Beaujolais, die Französischlehrerin, warnend gerufen, als sie davon hörte. Diejenigen, die es anging, haben nur gegrinst.

Onkel Hans kommt am späten Nachmittag von seiner Vertreter-Tour zurück. Als die Kinder sich verabschieden, meint er, er könne sie doch beide heimfahren. Mit dem Wagen. Tante Waltraud sagt ... ja, das wäre eine gute Idee. So machen sie es dann auch.

Zuerst setzt Onkel Hans Christel vor ihrer Tür ab, denn sie wohnt ja nur ein paar Straßen weiter.
Danach geht es in Richtung Marienstock, wo Hermine zuhause ist, wie wir bereits wissen.

Das ist eine herrliche Fahrt. Das kleine Mädchen hat noch nie im Leben in einem so tollen Auto gesessen. Wie auf Wolken gleiten sie dahin, schnell und weich. Das neue Auto riecht innen ganz frisch nach Leder, ist geräumig und tausendmal bequemer als Papas alte Klapperkisten.

"Das gefällt dir, nicht wahr? Es gefällt dir immer bei uns, oder? "
"O ja."
"Weißt du, wir haben dich sehr gern. Besonders ich. Ich hab dich viel lieber als die Christel", fährt er fort und wird rot wie ein Krebs. "Für dich würd ich die Christel glatt stehen lassen!"
"Das ist unfair. Du kennst sie doch schon viel länger."
"Du bist aber ... netter."

Ein bisschen freut sich Hermine s c h o n, dass er sie gern hat. Auch wenn sie ihn gar nicht besonders mag. Er ist so dick und meistens zu laut. Nein, besonders gern hat sie ihn nicht ... sie kann ihn gut leiden, so wie sie viele Leute gut leiden kann. Oft bringt er sie ja auch zum Lachen ...

Der Onkel Hans legt auf einmal seinen Arm um Hermines Schulter.
Das gefällt ihr überhaupt nicht.
"Du hast so schöne Zöpfe, du bist ein so nettes, kleines Mädel", sagt er. "Ich hab dich so lieb!"
Das ist Hermine furchtbar peinlich. Weil ihr das nie passiert ist, dass jemand so den Arm um sie gelegt hat. Und nie hat ihr jemand gesagt, dass er sie lieb hat. Der Papa nicht und die Lisa schon gar nicht. Auch die Zöpfe hat bis jetzt noch niemand gelobt ... sie waren einfach da. Basta. Rattenschwänze.

Kurz vor Marienstock hält der Onkel Hans am Ackerrand den Wagen an.
"Warum", fragt Hermine, was ist los?"
"Komm wir ruhen uns ein bisschen in dem schönen Auto aus. Wir haben es doch nicht eilig ... oder?"
"Nein ..."
Er sitzt so komisch da, ist rot im Gesicht und mit seiner Hand ist er da unten an seiner Hose, wo jedes Kind weiß, dass es sich nicht gehört, wenn einer sich da anfasst ...
Hermine passt das gar nicht. Ist einfach eklig.

"Guck mal", sagt er, "was ich da Schönes habe!"
Das Schöne ist ein schlaffes Ding, das klein vor seinem Bauch hängt wie eine rohe Bratwurst, nur viel mickriger. Eher wie eine fette, fahle Schnecke. Baumelt weiß zwischen Onkel Hans mächtigen Hosenschenkeln. Hermine hat keine Ahnung, was der Onkel Hans da ... ach, sie kann gar nicht mehr richtig hingucken, es ist ... scheußlich.

Onkel Hans hat ein rosa Hemd und einen vornehmen, taubenblauen Anzug an. Der bleiche, madige Fleischwurm, der da lungert, passt überhaupt nicht dazu. Würde nirgendwo hinpassen ... und erst recht nicht an den schicken Onkel Hans. Sowas Abscheuliches hat Hermine ja noch nie gesehen.
Es ist bestimmt der Blinddarm ... Appendix, Wurmfortsatz. Das haben sie doch neulich in Bio durchgenommen ... Genau der muss es sein: ein aus dem Bauch herausgequollener ‘Wurmfortsatz.’
Wirklich ... etwas, was so schwabbelweiß und krank aussieht, kann nur etwas Unnormales ...

Der Onkel Hans fummelt an dem Ding herum.
"Schau mal, schau mal", flüstert er und rückt näher.
„Schau mal wie es wächst!“
Das kann doch nicht wahr sein? Das kleine Mädchen vergisst vor Schreck, den Mund zuzumachen.
„Fass es doch mal an!“
„Nimm‘s weg", schreit sie.
„Ach komm“, sagt er und versucht, ihre Hand zu nehmen.
"Machs weg." Hermines Stimme überschlägt sich. Der Onkel sieht nicht, dass das Kind im Gesicht grün ist.
"Uh, wie eklig", schreit es.

"Komm", sagt der Onkel Hans, "fass ihn an, meinen kleinen Freund. Er mag das. Fass ihn an! Probier das doch mal. Komm ... schau, er ist schon viel größer geworden!"

Hermine wird schlecht.

Onkel Hans greift nach Hermines Hand. Das Kind reißt sie ihm schnell weg. Es verhakt die Finger seiner beiden Hände ineinander. Weiß treten die Knöchel hervor. Es verhakt beide Hände so fest, dass er sich keine davon greifen kann.

"Sei doch lieb ... Fass ihn an ..."
"Nein", schreit Hermine.
"Da macht das bleiche Madending dann plötzlich ein paar komische Hopser und oben kommt etwas Weißes raus, wie dicke Milch, so sämig Weißes.

Hermine muss gleich brechen..

Am Ende putzt der Onkel Hans das Ding mit dem frischen, weißen Taschentuch ab und stopft es in die Hose. Wahrscheinlich auch, weil Hermine wie am Spieß schreit.
"Tu das sofort weg ... tu das sofort weg!", brüllt sie schon die ganze Zeit.

Schnell fährt der Mann sie nach Haus.
Als er das Auto anhält, zieht er sie plötzlich zu sich hin. Und er streichelt sie ... ihre Wange, ihr Haar.
„Gell, anfassen darf ich dich aber, ich hab dich doch so arg gern!“
"Lass mich, ich muss heim!"
"Du bist ein so verständiges Mädchen. Bitte versprich mir, dass du es niemand erzählst, dass ich dich so lieb habe. Wir teilen jetzt ein großes Geheimnis." Er lächelt.
Dann lässt er sie aussteigen. Beim Wegfahren winkt er aus dem Fenster, so ganz freundlich und wirft ihr einen Kuss zu ... so etwas machen doch sonst nur Leute im Film.

Nachher im Bett muss sie lange an all das denken. Sie fühlt einfach, dass das bös war, was er da gemacht hat ... und es hat ihr überhaupt nicht gefallen, obwohl er gut nach Parfüm roch.

Zur Waltraud geht Hermine noch einmal. Zwei Wochen später. Weil Christel unbedingt hin will.
Natürlich erzählt Hermine der Freundin NICHTS von der Sache im Auto. Denn die würde vielleicht meinen, sie wär selber schuld.
‚Vielleicht ist es auch normal, DAS mit dem Onkel Hans‘, was weiß ich denn schon davon‘, fährt es Hermine durch den Kopf, ‚womöglich machen alle erwachsenen Männer so etwas, wenn sie ein Mädchen lieb haben??‘ Warum sollte sie deswegen nicht mehr zur Waltraud gehen? Die kann ja nichts dafür.
Am meisten ist es aber die Lust aufs Musikhören und auf Eiscreme, die Hermine wieder zu den Müllers treibt.

Eis essen sie an dem Tag eine ganze Menge und auch Schallplatten hören sie wie immer.

"La mer, qu on voit danser le long des golfes clairs ..." singt gerade Louis Trenet.
S c h ö n.

Da kommt der Onkel Hans ins Wohnzimmer. Er sieht Hermine an, grinst, legt den Zeigefinger an seine Lippen, wie, um ihr oder sich den Mund zu verbieten, und das sieht so blöd aus und ‚so etwas macht ein richtiger Mann doch nicht, wenn er ein Mädchen lieb hat, oder?‘ muss Hermine denken. Er zwinkert ihr zu und das mag sie schon gar nicht.

"Ich kann euch doch nachher heimfahren, euch zwei Hübsche", fragt der Onkel. Christel nickt.
"Mich aber nicht", sagt Hermine.
„Warum nicht? Es ist doch schön in meinem Auto!“
„Ich will nicht“, sagt Hermine.
„Dann fahr‘ ich auch nicht mit“, sagt Christel.
Der Onkel Hans legt eine neue Platte auf: ‚Über den Wellen.‘ Er weiß, dass den Mädchen die Melodie gefällt.
„Komm ich zeig dir, wie man Walzer tanzt!“ Der Onkel will Hermine am Arm vom Stuhl hochziehen.
„Nein!“
Bald darauf tritt die Waltraud herein.

"Ach, hier ist ja mein Schatz", ruft er, nimmt sie fest in die Arme, zieht sie mit Tanzschritten durchs Zimmer. Und die Waltraud quiekt fast wie ein Schweinchen, weil er sie ganz wild drückt.
"Ich tanze mit dir in den Himmel... " Onkel Hans schmettert es laut. Und schielt dabei am Kopf seiner Frau vorbei zu den beiden Kindern. Zwinkert ihnen abwechselnd zu.
Hermine wird übel. Wenn sie jetzt nur nicht brechen muss. Warum hat sie auch so viel Eis gegessen?

"Ich komm noch ein Stück mit dir", murmelt sie, als sie später mit Christel auf der Straße steht.
"Weißt du ... der Onkel Hans ...", fängt sie zaghaft an und stockt.
"Was ist mit ihm? Du kannst ihn nicht leiden, stimmts? Das hab ich schon lang gemerkt!"
"Aber ..."
"Was ist denn?"
Ach ... nichts."

Dann marschiert Hermine zum Bahnhof und nimmt den Zug nach Marienstock.

Von da an hält sie sich vom Haus der Müllers fern. Sie will auch nicht mehr an das hässliche, bleiche Ding erinnert werden, von dem sie schon eine Minute später gewusst hatte, dass es kein Blinddarm und kein ‘Wurmfortsatz’ war. Sie spürt: Das hatte sie sich nur vorgemacht.

Ein halbes Jahr später denkt Hermine nicht mehr oft daran.

Bis eines Morgens. Da kommt Christel aufgeregt in die Schule gerannt.
"Hermine ... sie haben den Onkel Hans festgenommen, UNSEREN On... Du kannst dir nicht vorstellen, was bei mir daheim los ist und wie mein Vater herumbrüllt. Er und seine Kollegen haben ihn gestern verhaften müssen. Der Onkel Hans ist ein Sitt-lich-keits-ver-bre-cher", stammelt sie. "Und die Waltraud wäre ein böses Luder, die hätte von seiner Ab-artig-keit gewusst", sagt mein Vater. Aber ich kann es nicht glauben." Christel schluchzt gottserbärmlich.

Doch es ist wahr. Der Onkel ist ein
S i t t e n s t r o l c h . Es steht auch in der Zeitung, die Christel für Hermine zum Beweis mitgebracht hat:
Hans M. ein Wiederholungstäter. Besucher hatten ihn seit Tagen beobachtet, wie er im Freibad Kinder ansprach, ihnen am Kiosk Süßigkeiten kaufte, sie sogar anfasste. Er wurde in fragranti in seiner Kabine mit einer Zehnjährigen ertappt. Hans M. soll sich noch über Grobheiten der Polizei beschwert haben, als die Obrigkeit zuschlug und ihn festnahm. ...


"Es war nämlich so gewesen, hat mein Vater gesagt", erzählt Christel, "der Bademeister hat ihm eine Falle gestellt. Ein schlaues, kleines Mädchen hat dabei mitgemacht und ist schließlich mit ihm in seine Kabine gegangen. Dort hat man ihn dann gepackt, wie er mit ausgezogener Hose ..."

Nach seiner Verhaftung wird es klar: Er hat zuvor schon einmal in einer anderen Stadt sein Unwesen getrieben. Da ist er noch davongekommen. Jetzt nicht mehr.
"Es ist so furchtbar." Christel lässt sich weinend in die Schulbank fallen.
"Meine Mutter schreit daheim herum wie eine Furie. Meine Mutter!! Gestern hat sie mich immer wieder gepackt und geschüttelt und wissen wollen, was der Onkel Hans mit mir gemacht hat und so ... Und mein Vater soll auf dem Revier wie ein Stier getobt haben. Mama sagt, er wäre gerade noch von seinen Polizisten-Kollegen zurückgerissen worden ... weil er dem Onkel Hans gleich an die Gurgel gesprungen wäre. Meine Mutter sagt, das Gesetz sagt: "Niemand darf so einem Schweine-kerl ein Haar krümmen bis zur Gerichtsverhandlung, daran muss die Obrigkeit sich halten."
Christel hört gar nicht mehr auf, zu schluchzen.

Tatsache ist aber: Christels Eltern hatten von den Besuchen ihrer Tochter bei Onkel Hans und seiner Frau gewusst und sich nur Gutes dabei gedacht.
"Das Ehepaar Müller machte einen grundsoliden Eindruck", werden auch Zeugen später aussagen ...

Hermine wundert sich, warum Christel das alles so furchtbar tragisch nimmt und tagelang in den Schulpausen immer wieder davon anfängt. Und sogar aus heiterem Himmel losheult. Es ist der Freundin ja nichts passiert - ihr selbst eigentlich auch nicht - wenn man es richtig bedenkt ... da braucht man doch kein SOLCHES Theater zu machen. Über etwas ist Hermine aber besonders traurig: es wird ihr jetzt klar, dass der Onkel Hans sie ja gar nicht gern gehabt hat. Er hat das, was er im Auto getan hat, mit anderen Mädchen genau so gemacht. Oder versucht. Auch denen hat er bestimmt erzählt, er hätte sie lieb.

Ein paarmal ist Hermine nah daran, die ganze Sache der Stiefmutter, der Lisa, zu erzählen, aber dann lässt sie es doch lieber sein.
*




Aus meinem Roman: MINOU (auch hier seit Anfang 2006 gepostet)


*


Copyright Irmgard Schöndorf Welch August 2002
überarbeitet am 01.06.2005
 

majissa

Mitglied
Liebe Inu,

ein leider immer wieder aktuelles Thema hast du da glaubwürdig und spannend in eine Geschichte verpackt. Du kannst wirklich SCHREIBEN, dachte ich beim Lesen und stolperte nur an wenigen Textstellen, auch wenn man aufgrund der Länge meines Kommentars anderes vermuten könnte. Zum Ende hin wirkt deine Story etwas abgehakt, nahezu telegrammartig. So, als hättest du endlich zum Schluss kommen wollen. Ansonsten aber ist das hier wirklich ein gelungenes Stück Prosa. Hier noch meine Anmerkungen:


Die Geschichte hat einen guten, schnörkellosen Einstieg. Dann treffe ich im zweiten Absatz auf die großgeschriebenen „Müllers“ und „begeistert“, woraufhin ich leicht beim Lesen hängenbleibe, weil ich mich frage, warum du diese Worte unbedingt hervorheben musst. Das lenkt nur ab. Dein Stil, Inu, ist sicher und zumeist fesselnd genug, dass du auf die Hervorhebungen locker verzichten kannst. Aha! Ich sehe gerade, die Großschreibung zieht sich durch den ganzen Text. Das tut nicht Not. Konstruktionen wie „am Putzen, am Kochen usw.“ sind unschön, auch wenn sie zur (bewußt gewählten?) kindlichen Erzählweise im zweiten Absatz passen mögen. Von Waltraud habe ich gleich ein Bild vor Augen.
Die Beschreibung von Hans jedoch ist weniger einprägsam. Dass er laut ist, merkt man sich gleich. Doch dann kommt der etwas lasche Vergleich: „...So, als wenn plötzlich viele Leute da wären.“ Da könntest du dir etwas Besseres einfallen lassen. An Skurrilität fehlt es dir ja nicht (siehe Mücke!). Warum, möchte der Leser wissen, klingt es so, als wäre der Raum voller Menschen, sobald Hans eintritt? Trampelt er durch die Wohnung? Summt er, während er gleichzeitig lautstark in Schränken kramt und nebenbei unbeabsichtigt Gegenstände zu Boden fegt? Das Wörtchen „alle“ vor „elektrischen Haushaltsgeräte“ stört. Ich meine, würde Hans auch nur ¾ oder die Hälfte der damals erhältlichen Haushaltsgeräte verkaufen, hätte auch diese Mengenangabe dem Leser nur ein müdes Achselzucken entlockt. Diese Info ist unwichtig. Das „frisch gekaufte“ Auto würde ich durch „fabrikneu“ ersetzen. Herrlich aber Hans‘ Bemerkung zur Ehe.
Du hast übrigens ein gutes Gespür für die Absatzeinteilung. Bei der Eiscremestelle ahne ich jetzt erstmalig, dass irgendwas mit den Müllers nicht stimmen kann. Mal sehen, ob sich das gleich bestätigt. „Das ist verruckt“ klingt witzig, aber mit „ü-Pünktchen“ wär’s korrekter. Oder handelt es sich hier um ein charmantes Fehlerchen im Deutsch der Mademoiselle Beaune? Oh Gott! Baggert Hans etwa das Mädel an? Hier wird es jetzt richtig gruselig. Super, Inu, wie glaubwürdig du während des Dialogs im Auto Luzies kindliche Naivität herausstreichst.
Zuviel „dass“ ist in folgendem Abschnitt enthalten: „Das ist dem Kind furchtbar peinlich. Weil ihm das nie passiert ist, dass jemand den Arm um es gelegt hat.“ Der Schockeffekt bleibt nicht aus. Gelungen! Das „Ding“ hast du gut beschrieben. Genauso würden Kinder es sehen. Bei der „fetten, fahlen Schnecke“ und über die nächsten Absätze hinweg bewegt man sich unfreiwillig zwischen Entsetzen und dem Drang zu Lachen. So furchtbar das Beschriebene auch ist, Inu, muss man über deinen Einfallsreichtum wirklich schmunzeln. Erstaunlich dabei aber, dass die Furcht vor dem Kommenden durch die humorvollen Beschreibungen nicht etwa abnimmt, sondern sich eher noch intensiviert.
Hm...also die Sache mit dem Geheimnis solltest du noch weiter ausbauen. Es ist nicht glaubwürdig, dass das Kind nur aufgrund des einmaligen Hinweises, nun mit Onkel Hans ein Geheimnis zu haben, schweigen wird. Hans müsste viel nervöser sein, nachdrücklich darauf beharren, dass Luzie auch wirklich schweigt. So durchtrieben, wie er ist, muss ihm klar sein, dass ein Wort des Kindes an falscher Stelle ihn um Reichtum und Ansehen bringen würde. Glaubwürdig ist es jedoch, dass Luzie wieder zu den Müllers geht.
Aus „Bis eines Morgens“ würde ich „Bis eines Morgens Christel verstört in die Schule gerannt kommt“ machen. Dass die Mutter daheim herumschreit wie eine „Bekloppte“ scheint mir für die Sprachgewohnheiten der kleinen Christel zur damaligen Zeit doch recht ungewöhnlich. Das passt nicht. Ein Verdreher steckt in folgendem Satz: „Gestern hat sie mich immer wieder gepackt und geschüttelt und wissen wollte...“

Liebe Grüße
Majissa
 

Aneirin

Mitglied
GROSSBUCHSTABEN

Hallo Inu,

Du fragst, was andere von Worten in GROSSBUCHSTABEN halten.

Nicht viel bis überhaupt nichts! Das ist meine Meinung. Ausnahmen bei Abkürzungen wie UNO, NASA usw.

Du benutzt die Wörter in Deinem Text, um ihnen eine besondere Betonung zu verleihen. Das erreichst Du schon durch die Stellung des Wortes im Satz oder durch das gewählte Wort überhaupt. Für meine lesenden Augen verstärken die GROSSBUCHSTABEN die Wirkung nicht, sondern stören den Lesefluss wegen des uneinheitlichen Bildes.

Du schreibst "er ist ein SITTENSTROLCH". Das entscheidende starke Wort "Sittenstrolch" steht am Ende des Satzes und ist schon dadurch betont. Es hat auch einen heftigen Klang. Beides zusamen verhindert, dass es untergeht auch ohne besondere Schreibweise.

Dann schreibst Du, "Meiers schienen WIRKLICH reich zu sein". Wirklich reich ist für mich reicher als reich und ist durch die Wortwahl schon betont, ohne dass es GROSSBUCHSTABEN bedarf.

Also: die Betonung einzelner Wörter sollte aus dem Inhalt des textes und aus irer Stellung im Satz kommen, aber nicht aus der Schreibweise.

Kannst Du meiner Argumentation folgen?

Viele liebe Grüße und ein schönes Wochenende
Aneirin
 

Inu

Mitglied
Liebe Aneirin

Entschuldige die große Verspätung. Ich bin in einem Internet Cafe, da mein Internet seit einer Woche anscheinend unrettbar? zusammengebrochen ist. kann in der Hektik kaum arbeiten. Bins nicht gewöhnt. Ich habe mich aber bemüht, die Schreibweise der Geschichte wieder auf "normal" umzustellen. Danke Dir sehr für Deinen Kommentar.

Und sehr liebe Grüße
Inu
 

Aneirin

Mitglied
COMPUTER

Hey Inu,

der Text hat meinen Augen gut getan in normaler Schreibweise.

Ich verstehe Dich, mein Computer war 14 Tage zur Reparatur undich kam mir nicht vollständig vor, obwohl ich ja im Büro einen stehen habe, vor dem ich den ganzen Tag sitze, so auch jetzt.

Viele liebe Grüße aus einer heißen Ecke Deutschlands
Aneirin
 

Inu

Mitglied
Hallo Aneirin

Jetzt bin ich endlich wieder verfügbar. Ja, ich finde auch, dass der Text so besser rüberkommt.

Liebe Grüße :) :)Inu
 

Inu

Mitglied
*




Onkel Hans.

Zeit: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.
(um 1950)

*



Hermine ist zehneinhalb Jahre alt und geht in die Sexta der Mädchenmittelschule in Brückenstadt. Jeden Morgen fährt sie die fünfunddreißig Kilometer mit dem Zug dorthin und am frühen Nachmittag wieder zurück.

Christel Dornbüsch, Hermines Klassenkameradin, die neben ihr in der Bank sitzt, erzählt ihr, dass sie oft bis zum Abend bei den Müllers bleibt. Die Müllers wohnen nicht weit von der Schule entfernt in einem Neubau.
"Komm doch mal mit", sagt Christel, "bei denen ist es schön!"
Das tut Hermine. "Schön" ist gar kein Ausdruck. Hermine ist sprachlos.

Die Müllers, das sind Hans Müller - den Christel ‘Onkel Hans’ nennt - und seine Frau, die Waltraud.
Die Waltraud ist immer am Putzen, am Kochen. Wenn die Kinder da sind und alles in der Wohnung frisch blinkt und strahlt, nimmt sie ihre Handarbeit vor. Dann strickt sie. Oder sie stickt. Aber sie hört auch gern schöne Schlagermusik. Sieht hübsch aus. Redet wenig.

Onkel Hans ist laut. Kaum kommt er zur Tür herein, ist es, als ob die Wohnung plötzlich auf einen Schlag voller Menschen wäre, soviel Stimmung bringt er mit. Weil er auch immer lustig ist und seine Sprache verstellen kann, sich dann anhört wie der Heinz Erhard oder der Karl Valentin. Er ist groß, ein bisschen dick, blond, zirka vierzig Jahre alt. Und wenn er Witze erzählt, müssen die Kinder lachen, ob sie wollen oder nicht ...

Onkel Hans hat es schon zu etwas gebracht. Das ist nur wenigen gelungen, so kurz nach dem Krieg. Er ist nämlich Handelsreisender. Vertreter für Radios, Musiktruhen, elektrische Haushaltsgeräte. Das ist eine gute Existenz, sagt Christel, hätte ihre Mutter gesagt. Weil, in Deutschland müssen die Leute sich nach dem Krieg ja alles frisch anschaffen.
Die Müllers leben in einer brandneuen Etagen- Eigentumswohnung mit einer großen Sonnenterrasse nach Süden.

Onkel Hans ist stolz auf sich, auf die Wohnung und sein frisch gekauftes, vornehmes Auto, den silbernen Mercedes. Und auf die Waltraud.
"Sie ist Hausfrau mit Leib und Seele", sagt er, "so muss es sein in einer guten Ehe. Dass Mann und Weib an einem Strang ziehen."

Waltraud lädt häufig Leute in ihr schickes Heim ein. Sie mag auch Kinder gern, hat aber selbst keine. Deswegen ist sie ganz froh, meint sie, wenn Christel und Hermine sie möglichst oft besuchen.

"Ihr könnt jederzeit herkommen und bei uns eure Hausaufgaben machen. Hier habt ihr Platz und Ruhe."

Bei den Müllers in der Küche steht ein riesiger Kühlschrank. Der ist etwas Neues, nie Dagewesenes, denn er hat ein eingebautes Gefrierteil ... supermodern. Dass es Eisfächer gibt, wo Lebensmittel sich monatelang frisch halten, davon haben die meisten Leute noch nichts gehört. Erst wenige haben einen simplen Kühlschrank zu Hause. Lisa, die Stiefmutter, besitzt keinen.

Waltraud serviert den Kindern nachmittags Erdbeertorte mit Schlagsahne. Und ... o Wunder, nachher gibt es eine große Portion Eiscreme. Unsagbar lecker türmt sich das köstliche Kunstwerk in zwei großen Cocktailschalen vor den Mädchen auf. Eiscreme aus rot-grün-orange-rosa übereinandergelagerten Fruchtschichten. Hm ... das schmeckt! Oben ist das Ganze noch mit Schokoladeraspeln und eingeweckten Kirschen verziert.

"Was hab ich dir versprochen? Ist das nicht toll? grinst Christel.
"Ja, der Wahnsinn!"

Eiscreme bekommt Hermine daheim nie, denn: "So große Sprünge können wir nicht machen", sagt die Stiefmutter. "Ich muss jeden Pfennig dreimal umdrehen. Weil der Papa, seit er aus Gefangenschaft zurück ist, nur experimentiert und mit seiner blöden Wichskocherei herumfuhrwerkt. Statt sich eine gute Anstellung beim Staat zu sichern, wo er doch Abitur hat und Offizier war und wo die meisten Soldaten im Krieg gefallen und andere hohe Nazis gewesen sind und sie jetzt jeden übrig gebliebenen anständigen Mann in Deutschland gut brauchen können."

Da kommt Christel schon aus einer besser gestellten Familie. Ihr Vater ist nämlich Polizeioberwachtmeister.
Sie wohnen am Stadtrand. In einem großen Haus, das wie fast alle anderen in dem Viertel von Brandbomben getroffen war. "Wenigstens sind die Außenwände stehen geblieben", sagt Christel. Noch immer wird gebaut und renoviert. Aber die Zimmer im Erdgeschoss haben sie schon wieder schön hergerichtet.

Die Müllers jedoch scheinen wirklich reich zu sein. Der Onkel Hans und die Waltraud haben immer schicke Kleider an und die modernsten Möbel. Im Wohnzimmer steht eine nagelneue Musiktruhe aus gelbpoliertem Schleiflack mit aufklappbaren Türen. Mit Radio und Plattenspieler. Beinahe dreißig Schallplatten sind in einem Halter auf dem nierenförmigen Beistelltisch aufgereiht. Die beiden kleinen Mädchen dürfen da Musik hören, solang sie wollen.
"Heimweh nach dir, o old Virginia" ,
"Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt",
"Heimat, deine Sterne" oder
Zarah Leander: "Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn und dann werden tausend Märchen wahr..." so etwas eben ...

Wenn der Onkel Hans da ist, singt er laut mit und tanzt ausgelassen mit den kleinen Mädchen im Zimmer herum. Dann ist richtig was los.

Eigentlich sind die Kinder nicht mit dem Onkel Hans und der Tante Waltraud verwandt. Aber Christel hat gesagt, dass ihre Eltern die beiden schon seit Jahren kennen.

Eines Tages gehen Christel und Hermine wieder einmal nach der Schule zu den Müllers. An dem Tag gibt es Sauerbraten mit Kartoffelklößen und Kopfsalat. Danach natürlich eine Riesenportion Eis. Anschließend machen die beiden Mädchen ihre Schulaufgaben auf der sonnigen Terrasse. Die Waltraud legt sich ein bisschen hin, weil sie heute abend mit ihrer Freundin ins Skala gehen will. In die Nachtvorstellung. Einen Arzt-Liebesfilm mit Dieter Borsche und Maria Schell.

Hermine und Christel haben es sich richtig gemütlich gemacht. Holen sich Cola aus dem Kühlschrank. Waltraud hat ihnen auch erlaubt, Schallplatten zu hören, während sie Vokabeln pauken. Das ist normal. Viele Schüler lassen neuerdings im Hintergrund beim Hausaufgaben-Machen sogar das Radio dudeln.

"Das ist verruckt ... wie soll eine Mensch das im Gehirn aushalten?" hat Mademoiselle Beaujolais, die Französischlehrerin, warnend gerufen, als sie davon hörte. Diejenigen, die es anging, haben nur gegrinst.

Onkel Hans kommt am späten Nachmittag von seiner Vertreter-Tour zurück. Als die Kinder sich verabschieden, meint er, er könne sie doch beide heimfahren. Mit dem Wagen. Tante Waltraud sagt ... ja, das wäre eine gute Idee. So machen sie es dann auch.

Zuerst setzt Onkel Hans Christel vor ihrer Tür ab, denn sie wohnt ja nur ein paar Straßen weiter.
Danach geht es in Richtung Marienstock, wo Hermine zuhause ist, wie wir bereits wissen.

Eine herrliche Fahrt. Das kleine Mädchen hat noch nie im Leben in einem so tollen Auto gesessen. Wie auf Wolken gleiten sie dahin, schnell und weich. Das neue Auto riecht innen ganz frisch nach Leder, ist geräumig und tausendmal bequemer als Papas alte Klapperkiste.

"Das gefällt dir, nicht wahr? Es gefällt dir immer bei uns, oder? "
"O ja."
"Weißt du, wir haben dich sehr gern. Besonders ich. Ich hab dich viel lieber als die Christel", fährt er fort und wird rot wie ein Krebs. "Für dich würd ich die Christel glatt stehen lassen!"
"Das ist unfair. Du kennst sie doch schon viel länger."
"Du bist aber ... netter."

Ein bisschen freut sich Hermine s c h o n, dass er sie gern hat. Auch wenn sie ihn gar nicht besonders mag. Er ist so dick und meistens zu laut. Nein, besonders gern hat sie ihn nicht ... sie kann ihn gut leiden, so wie sie viele Leute gut leiden kann. Oft bringt er sie ja auch zum Lachen ...

Der Onkel Hans legt auf einmal seinen Arm um Hermines Schulter.
Das gefällt ihr überhaupt nicht.
"Du hast so schöne Zöpfe, du bist ein so nettes, kleines Mädel", sagt er. "Ich hab dich sehr lieb!"
Das ist Hermine furchtbar peinlich. Weil ihr das nie passiert ist, dass jemand so den Arm um sie gelegt hat. Und nie hat ihr jemand gesagt, dass er sie lieb hat. Der Papa nicht und die Lisa schon gar nicht. Auch die Zöpfe hat bis jetzt noch niemand gelobt ... sie waren einfach da. Basta. Rattenschwänze.

Kurz vor Marienstock hält der Onkel Hans am Ackerrand den Wagen an.
"Warum", fragt Hermine, was ist los?"
"Komm wir ruhen uns ein bisschen in dem schönen Auto aus. Wir haben es doch nicht eilig ... oder?"
"Nein ..."
Er sitzt so komisch da, ist rot im Gesicht und mit seiner Hand ist er da unten an seiner Hose, wo jedes Kind weiß, dass es sich nicht gehört, wenn einer sich da anfasst ...
Hermine passt das gar nicht. Ist einfach eklig.

"Guck mal", sagt er, "was ich da Schönes habe!"
Das Schöne ist ein schlaffes Ding, das plötzlich klein vor seinem Bauch hängt wie eine rohe Bratwurst, nur viel mickriger. Eher wie eine fette, fahle Schnecke. Baumelt weiß zwischen Onkel Hans mächtigen Hosenschenkeln. Hermine hat keine Ahnung, was der Onkel Hans da macht ... ach, sie kann gar nicht mehr richtig hingucken, es ist ... scheußlich.

Onkel Hans hat ein rosa Hemd und einen vornehmen, taubenblauen Anzug an. Der bleiche, madige Fleischwurm, der da lungert, passt überhaupt nicht dazu. Würde nirgendwo hinpassen ... und erst recht nicht an den schicken Onkel Hans. Sowas Abscheuliches hat Hermine ja noch nie gesehen.
Es ist bestimmt der Blinddarm ... Appendix, Wurmfortsatz. Das haben sie doch neulich in Bio durchgenommen ... Genau der muss es sein: ein aus dem Bauch herausgequollener ‘Wurmfortsatz.’
Wirklich ... etwas, was so schwabbelweiß und krank aussieht, kann nur etwas Unnormales ...

Der Onkel Hans fummelt an dem Ding herum.
"Schau mal, schau mal", flüstert er und rückt näher.
„Schau mal wie es wächst!“
Das kann doch nicht wahr sein? Hermine vergisst vor Schreck, den Mund zuzumachen.
„Fass es doch mal an!“
„Nimm‘s weg", schreit sie.
„Ach komm“, sagt er und versucht, ihre Hand zu nehmen.
"Machs weg." Hermines Stimme überschlägt sich. Der Onkel sieht nicht, dass das Kind im Gesicht grün ist.
"Uh, wie eklig", schreit es.

"Komm", sagt der Onkel Hans, "fass ihn an, meinen kleinen Freund. Er mag das. Fass ihn an! Probier das doch mal. Komm ... schau, er ist schon viel größer geworden!"

Hermine wird schlecht.

Onkel Hans greift nach Hermines Hand. Das Kind reißt sie ihm schnell weg. Es verhakt die Finger seiner beiden Hände ineinander. Weiß treten die Knöchel hervor. Es verhakt beide Hände so fest, dass er sich keine davon greifen kann.

"Sei doch lieb ... Fass ihn an ..."
"Nein", schreit Hermine.
"Da macht das bleiche Madending dann plötzlich ein paar komische Hopser und oben kommt etwas Weißes raus, wie dicke Milch, so sämig Weißes.

Hermine muss gleich brechen..

Am Ende putzt der Onkel Hans das Ding mit dem frischen, weißen Taschentuch ab und stopft es in die Hose. Wahrscheinlich auch, weil Hermine wie am Spieß schreit.
"Tu das sofort weg ... tu das sofort weg!", brüllt sie schon die ganze Zeit.

Schnell fährt der Mann sie nach Haus.
Als er das Auto anhält, zieht er sie plötzlich zu sich hin. Und er streichelt sie ... ihre Wange, ihr Haar.
„Gell, anfassen darf ich dich aber, ich hab dich doch so arg gern!“
"Lass mich, ich will heim!"
"Du bist ein so verständiges Mädchen. Bitte versprich mir, dass du es niemand erzählst, dass ich dich so lieb habe. Wir haben jetzt ein großes Geheimnis." Er lächelt komisch.
Dann lässt er sie aussteigen. Beim Wegfahren winkt er aus dem Fenster, so ganz freundlich und wirft ihr einen Kuss zu ... so etwas machen doch sonst nur Leute im Film.

Nachher im Bett muss sie lange an all das denken. Sie fühlt einfach, dass das bös war, was er da gemacht hat ... und es hat ihr überhaupt nicht gefallen, obwohl er gut nach Parfüm roch.

Zur Waltraud geht Hermine noch einmal. Zwei Wochen später. Weil Christel nach der Schule unbedingt hin will.
Natürlich erzählt Hermine der Freundin NICHTS von der Sache im Auto. Denn die würde vielleicht meinen, sie wär selber schuld.
‚Vielleicht ist es auch normal, DAS mit dem Onkel Hans‘, was weiß ich denn schon davon‘, fährt es Hermine durch den Kopf, ‚womöglich machen alle erwachsenen Männer so etwas, wenn sie ein Mädchen lieb haben??‘ Warum sollte sie deswegen nicht mehr zur Waltraud gehen? Die kann ja nichts dafür.
Es ist einfach nur die Lust aufs Musikhören und auf Eiscreme, die Hermine wieder zu den Müllers treibt.

Eis essen sie an dem Tag eine ganze Menge und auch Schallplatten hören sie wie immer.

"La mer, qu on voit danser le long des golfes clairs ..." singt gerade Louis Trenet.
S c h ö n.

Da kommt der Onkel Hans heim. Man merkt ihm an, dass er sich freut, als er die zwei kleinen Mädchen sieht. Schaut auch gleich Hermine an, grinst sonderbar, legt den Zeigefinger an seine Lippen, wie, um ihr oder sich den Mund zu verbieten, und das sieht so blöd aus und ‚so etwas macht ein richtiger Mann doch nicht, wenn er ein Mädchen lieb hat, oder?‘ denkt Hermine. Er zwinkert ihr zu. Das mag sie überhaupt nicht.

"Ich kann euch doch nachher heimfahren, euch zwei Hübsche", fragt der Onkel. Christel nickt.
"Mich aber nicht", sagt Hermine.
„Warum nicht? Es ist doch schön in meinem Auto!“
„Ich will nicht“, sagt Hermine.
„Dann fahr‘ ich auch nicht mit“, sagt Christel.
Der Onkel Hans legt eine neue Platte auf: ‚Über den Wellen.‘ Er weiß, dass den Mädchen die Melodie gefällt.
„Komm ich zeig dir, wie man Walzer tanzt!“ Der Onkel will Hermine am Arm vom Stuhl hochziehen.
„Nein!“
Bald darauf tritt die Waltraud herein.

"Ach, hier ist ja mein Schatz", ruft er, nimmt sie fest in die Arme, zieht sie mit Tanzschritten durchs Zimmer. Und die Waltraud quiekt fast wie ein Schweinchen, weil er sie ganz wild drückt.
"Ich tanze mit dir in den Himmel... " Onkel Hans schmettert es laut. Und schielt dabei am Kopf seiner Frau vorbei zu den beiden Kindern. Zwinkert ihnen abwechselnd zu.
Hermine wird übel. Wenn sie jetzt nur nicht brechen muss. Warum hat sie auch so viel Eis gegessen?

"Ich komm noch ein Stück mit dir", murmelt sie, als sie später mit Christel auf der Straße steht.
"Weißt du ... der Onkel Hans ...", fängt sie zaghaft an und stockt.
"Was ist mit ihm? Du kannst ihn nicht leiden, stimmt's? Das hab ich schon lang gemerkt!"
"Aber ..."
"Was ist denn?"
Ach ... nichts."

Dann marschiert Hermine zum Bahnhof und nimmt den Zug nach Marienstock.

Von da an hält sie sich vom Haus der Müllers fern. Sie will auch nicht mehr an das hässliche, bleiche Ding erinnert werden, von dem sie schon eine Minute später gewusst hatte, dass es kein Blinddarm und kein ‘Wurmfortsatz’ war. Sie spürt: Das hatte sie sich nur vorgemacht.

Ein halbes Jahr später denkt Hermine nicht mehr oft daran.

Bis eines Morgens. Da kommt Christel aufgeregt in die Schule gerannt.
"Hermine ... sie haben den Onkel Hans festgenommen, UNSEREN On... Du kannst dir nicht vorstellen, was bei mir daheim los ist und wie mein Vater herumbrüllt. Er und seine Kollegen haben ihn gestern verhaften müssen. Der Onkel Hans ist ein Sitt-lich-keits-ver-bre-cher", stammelt sie. "Und die Waltraud wäre ein böses Luder, die hätte von seiner Ab-artig-keit gewusst", sagt mein Vater. Aber ich kann es nicht glauben." Christel schluchzt gottserbärmlich.

Doch es ist wahr. Der Onkel ist ein
S i t t e n s t r o l c h . Es steht auch in der Zeitung, die Christel für Hermine zum Beweis mitgebracht hat:
Hans M. ein Wiederholungstäter. Besucher hatten ihn seit Tagen beobachtet, wie er im Freibad Kinder ansprach, ihnen am Kiosk Süßigkeiten kaufte, sie sogar anfasste. Er wurde in fragranti in seiner Kabine mit einer Zehnjährigen ertappt. Hans M. soll sich noch über Grobheiten der Polizei beschwert haben, als die Obrigkeit zuschlug und ihn festnahm. ...


"Es war nämlich so gewesen, hat mein Vater gesagt", erzählt Christel, "der Bademeister hat ihm eine Falle gestellt. Ein schlaues, kleines Mädchen hat dabei mitgemacht und ist schließlich mit ihm in seine Kabine gegangen. Dort hat man ihn dann gepackt, wie er mit ausgezogener Hose ..."

Nach seiner Verhaftung wird es klar: Er hat zuvor schon einmal in einer anderen Stadt sein Unwesen getrieben. Da ist er noch davongekommen. Jetzt nicht mehr.
"Es ist so furchtbar." Christel lässt sich weinend in die Schulbank fallen.
"Meine Mutter schreit daheim herum wie eine Furie. Meine Mutter!! Gestern hat sie mich immer wieder gepackt und geschüttelt und wissen wollen, was der Onkel Hans mit mir gemacht hat und so ... Und mein Vater soll auf dem Revier wie ein Stier getobt haben, sagt Mama. Er wäre gerade noch von seinen Polizisten-Kollegen zurückgerissen worden ... weil er dem Onkel Hans an die Gurgel gesprungen wäre. Meine Mutter sagt, das Gesetz sagt: "Niemand darf so einem Schweine-kerl ein Haar krümmen bis zur Gerichtsverhandlung, daran muss die Obrigkeit sich halten."
Christel hört gar nicht mehr auf, zu schluchzen.

Tatsache ist aber: Christels Eltern hatten von den Besuchen ihrer Tochter bei Onkel Hans und seiner Frau gewusst und sich nur Gutes dabei gedacht.
"Das Ehepaar Müller machte einen grundsoliden Eindruck", werden auch Zeugen später aussagen ...

Hermine wundert sich, warum Christel das alles so furchtbar tragisch nimmt und tagelang in den Schulpausen immer wieder davon anfängt. Und sogar aus heiterem Himmel losheult. Es ist der Freundin ja nichts passiert - ihr selbst eigentlich auch nicht - wenn man es richtig bedenkt ... da braucht man doch kein SOLCHES Theater zu machen. Über etwas ist Hermine aber besonders traurig: es wird ihr jetzt klar, dass der Onkel Hans sie ja gar nicht gern gehabt hat. Er hat das, was er im Auto getan hat, mit anderen Mädchen genau so gemacht. Oder versucht. Auch denen hat er bestimmt erzählt, er hätte sie lieb.

Ein paarmal ist Hermine nah daran, die ganze Sache der Stiefmutter, der Lisa, zu erzählen, aber dann lässt sie es doch lieber sein.


*




Aus meinem Roman: MINOU (auch hier seit Anfang 2006 gepostet)


*


Copyright Irmgard Schöndorf Welch August 2002
überarbeitet am 01.06.2005
 

Inu

Mitglied
*




Onkel Hans.

Zeit: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.
(um 1950)

*



Hermine ist zehneinhalb Jahre alt und geht in die Sexta der Mädchenmittelschule in Brückenstadt. Jeden Morgen fährt sie die fünfunddreißig Kilometer mit dem Zug dorthin und am frühen Nachmittag wieder zurück.

Christel Dornbüsch, Hermines Klassenkameradin, die neben ihr in der Bank sitzt, erzählt ihr, dass sie oft bis zum Abend bei den Müllers bleibt. Die Müllers wohnen nicht weit von der Schule entfernt in einem Neubau.
"Komm doch mal mit", sagt Christel, "bei denen ist es schön!"
Das tut Hermine. "Schön" ist gar kein Ausdruck. Hermine ist sprachlos.

Die Müllers, das sind Hans Müller - den Christel ‘Onkel Hans’ nennt - und seine Frau, die Waltraud.
Die Waltraud ist immer am Putzen, am Kochen. Wenn die Kinder da sind und alles in der Wohnung frisch blinkt und strahlt, nimmt sie ihre Handarbeit vor. Dann strickt sie. Oder sie stickt. Aber sie hört auch gern schöne Schlagermusik. Sieht hübsch aus. Redet wenig.

Onkel Hans ist laut. Kaum kommt er zur Tür herein, ist es, als ob die Wohnung plötzlich auf einen Schlag voller Menschen wäre, soviel Stimmung bringt er mit. Weil er auch immer lustig ist und seine Sprache verstellen kann, sich dann anhört wie der Heinz Erhard oder der Karl Valentin. Er ist groß, ein bisschen dick, blond, zirka vierzig Jahre alt. Und wenn er Witze erzählt, müssen die Kinder lachen, ob sie wollen oder nicht ...

Onkel Hans hat es schon zu etwas gebracht. Das ist nur wenigen gelungen, so kurz nach dem Krieg. Er ist nämlich Handelsreisender. Vertreter für Radios, Musiktruhen, elektrische Haushaltsgeräte. Das ist eine gute Existenz, sagt Christel, hätte ihre Mutter gesagt. Weil, in Deutschland müssen die Leute sich nach dem Krieg ja alles frisch anschaffen.
Die Müllers leben in einer brandneuen Etagen- Eigentumswohnung mit einer großen Sonnenterrasse nach Süden.

Onkel Hans ist stolz auf sich, auf die Wohnung und sein frisch gekauftes, vornehmes Auto, den silbernen Mercedes. Und auf die Waltraud.
"Sie ist Hausfrau mit Leib und Seele", sagt er, "so muss es sein in einer guten Ehe. Dass Mann und Weib an einem Strang ziehen."

Waltraud lädt häufig Leute in ihr schickes Heim ein. Sie mag auch Kinder gern, hat aber selbst keine. Deswegen ist sie ganz froh, meint sie, wenn Christel und Hermine sie möglichst oft besuchen.

"Ihr könnt jederzeit herkommen und bei uns eure Hausaufgaben machen. Hier habt ihr Platz und Ruhe."

Bei den Müllers in der Küche steht ein riesiger Kühlschrank. Der ist etwas Neues, nie Dagewesenes, denn er hat ein eingebautes Gefrierteil ... supermodern. Dass es Eisfächer gibt, wo Lebensmittel sich monatelang frisch halten, davon haben die meisten Leute noch nichts gehört. Erst wenige haben einen simplen Kühlschrank zu Hause. Lisa, die Stiefmutter, besitzt keinen.

Waltraud serviert den Kindern nachmittags Erdbeertorte mit Schlagsahne. Und ... o Wunder, nachher gibt es eine große Portion Eiscreme. Unsagbar lecker türmt sich das köstliche Kunstwerk in zwei großen Cocktailschalen vor den Mädchen auf. Eiscreme aus rot-grün-orange-rosa übereinandergelagerten Fruchtschichten. Hm ... das schmeckt! Oben ist das Ganze noch mit Schokoladeraspeln und eingeweckten Kirschen verziert.

"Was hab ich dir versprochen? Ist das nicht toll? grinst Christel.
"Ja, der Wahnsinn!"

Eiscreme bekommt Hermine daheim nie, denn: "So große Sprünge können wir nicht machen", sagt die Stiefmutter. "Ich muss jeden Pfennig dreimal umdrehen. Weil der Papa, seit er aus Gefangenschaft zurück ist, nur experimentiert und mit seiner blöden Wichskocherei herumfuhrwerkt. Statt sich eine gute Anstellung beim Staat zu sichern, wo er doch Abitur hat und Offizier war und wo die meisten Soldaten im Krieg gefallen und andere hohe Nazis gewesen sind und sie jetzt jeden übrig gebliebenen anständigen Mann in Deutschland gut brauchen können."

Da kommt Christel schon aus einer besser gestellten Familie. Ihr Vater ist nämlich Polizeioberwachtmeister.
Sie wohnen am Stadtrand. In einem großen Haus, das wie fast alle anderen in dem Viertel von Brandbomben getroffen war. "Wenigstens sind die Außenwände stehen geblieben", sagt Christel. Noch immer wird gebaut und renoviert. Aber die Zimmer im Erdgeschoss haben sie schon wieder schön hergerichtet.

Die Müllers jedoch scheinen wirklich reich zu sein. Der Onkel Hans und die Waltraud haben immer schicke Kleider an und die modernsten Möbel. Im Wohnzimmer steht eine nagelneue Musiktruhe aus gelbpoliertem Schleiflack mit aufklappbaren Türen. Mit Radio und Plattenspieler. Beinahe dreißig Schallplatten sind in einem Halter auf dem nierenförmigen Beistelltisch aufgereiht. Die beiden kleinen Mädchen dürfen da Musik hören, solang sie wollen.
"Heimweh nach dir, o old Virginia" ,
"Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt",
"Heimat, deine Sterne" oder
Zarah Leander: "Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn und dann werden tausend Märchen wahr..." so etwas eben ...

Wenn der Onkel Hans da ist, singt er laut mit und tanzt ausgelassen mit den kleinen Mädchen im Zimmer herum. Dann ist richtig was los.

Eigentlich sind die Kinder nicht mit dem Onkel Hans und der Tante Waltraud verwandt. Aber Christel hat gesagt, dass ihre Eltern die beiden schon seit Jahren kennen.

Eines Tages gehen Christel und Hermine wieder einmal nach der Schule zu den Müllers. An dem Tag gibt es Sauerbraten mit Kartoffelklößen und Kopfsalat. Danach natürlich eine Riesenportion Eis. Anschließend machen die beiden Mädchen ihre Schulaufgaben auf der sonnigen Terrasse. Die Waltraud legt sich ein bisschen hin, weil sie heute abend mit ihrer Freundin ins Skala gehen will. In die Nachtvorstellung. Einen Arzt-Liebesfilm mit Dieter Borsche und Maria Schell.

Hermine und Christel haben es sich richtig gemütlich gemacht. Holen sich Cola aus dem Kühlschrank. Waltraud hat ihnen auch erlaubt, Schallplatten zu hören, während sie Vokabeln pauken. Das ist normal. Viele Schüler lassen neuerdings im Hintergrund beim Hausaufgaben-Machen sogar das Radio dudeln.

"Das ist verruckt ... wie soll eine Mensch das im Gehirn aushalten?" hat Mademoiselle Beaujolais, die Französischlehrerin, warnend gerufen, als sie davon hörte. Diejenigen, die es anging, haben nur gegrinst.

Onkel Hans kommt am späten Nachmittag von seiner Vertreter-Tour zurück. Als die Kinder sich verabschieden, meint er, er könne sie doch beide heimfahren. Mit dem Wagen. Tante Waltraud sagt ... ja, das wäre eine gute Idee. So machen sie es dann auch.

Zuerst setzt Onkel Hans Christel vor ihrer Tür ab, denn sie wohnt ja nur ein paar Straßen weiter.
Danach geht es in Richtung Marienstock, wo Hermine zuhause ist, wie wir bereits wissen.

Eine herrliche Fahrt. Das kleine Mädchen hat noch nie im Leben in einem so tollen Auto gesessen. Wie auf Wolken gleiten sie dahin, schnell und weich. Das neue Auto riecht innen ganz frisch nach Leder, ist geräumig und tausendmal bequemer als Papas alte Klapperkiste.

"Das gefällt dir, nicht wahr? Es gefällt dir immer bei uns, oder? "
"O ja."
"Weißt du, wir haben dich sehr gern. Besonders ich. Ich hab dich viel lieber als die Christel", fährt er fort und wird rot wie ein Krebs. "Für dich würd ich die Christel glatt stehen lassen!"
"Das ist unfair. Du kennst sie doch schon viel länger."
"Du bist aber ... netter."

Ein bisschen freut sich Hermine s c h o n, dass er sie gern hat. Auch wenn sie ihn gar nicht besonders mag. Er ist so dick und meistens zu laut. Nein, besonders gern hat sie ihn nicht ... sie kann ihn gut leiden, so wie sie viele Leute gut leiden kann. Oft bringt er sie ja auch zum Lachen ...

Der Onkel Hans legt auf einmal seinen Arm um Hermines Schulter.
Das gefällt ihr überhaupt nicht.
"Du hast so schöne Zöpfe, du bist ein so nettes, kleines Mädel", sagt er. "Ich hab dich sehr lieb!"
Das ist Hermine furchtbar peinlich. Weil ihr das nie passiert ist, dass jemand so den Arm um sie gelegt hat. Und nie hat ihr jemand gesagt, dass er sie lieb hat. Der Papa nicht und die Lisa schon gar nicht. Auch die Zöpfe hat bis jetzt noch niemand gelobt ... sie waren einfach da. Basta. Rattenschwänze.

Kurz vor Marienstock hält der Onkel Hans am Ackerrand den Wagen an.
"Warum", fragt Hermine, was ist los?"
"Komm wir ruhen uns ein bisschen in dem schönen Auto aus. Wir haben es doch nicht eilig ... oder?"
"Nein ..."
Er sitzt so komisch da, ist rot im Gesicht und mit seiner Hand ist er da unten an seiner Hose, wo jedes Kind weiß, dass es sich nicht gehört, wenn einer sich da anfasst ...
Hermine passt das gar nicht. Ist einfach eklig.

"Guck mal", sagt er, "was ich da Schönes habe!"
Das Schöne ist ein schlaffes Ding, das plötzlich klein vor seinem Bauch hängt wie eine rohe Bratwurst, nur viel mickriger. Eher wie eine fette, fahle Schnecke. Baumelt weiß zwischen Onkel Hans mächtigen Hosenschenkeln. Hermine hat keine Ahnung, was der Onkel Hans da macht ... ach, sie kann gar nicht mehr richtig hingucken, es ist ... scheußlich.

Onkel Hans hat ein rosa Hemd und einen vornehmen, taubenblauen Anzug an. Der bleiche, madige Fleischwurm, der da lungert, passt überhaupt nicht dazu. Würde nirgendwo hinpassen ... und erst recht nicht an den schicken Onkel Hans. Sowas Abscheuliches hat Hermine ja noch nie gesehen.
Es ist bestimmt der Blinddarm ... Appendix, Wurmfortsatz. Das haben sie doch neulich in Bio durchgenommen ... Genau der muss es sein: ein aus dem Bauch herausgequollener ‘Wurmfortsatz.’
Wirklich ... etwas, was so schwabbelweiß und krank aussieht, kann nur etwas Unnormales ...

Der Onkel Hans fummelt an dem Ding herum.
"Schau mal, schau mal", flüstert er und rückt näher.
„Schau mal wie es wächst!“
Das kann doch nicht wahr sein? Hermine vergisst vor Schreck, den Mund zuzumachen.
„Fass es doch mal an!“
„Nimm‘s weg", schreit sie.
„Ach komm“, sagt er und versucht, ihre Hand zu nehmen.
"Machs weg." Hermines Stimme überschlägt sich. Der Onkel sieht nicht, dass das Kind im Gesicht grün ist.
"Uh, wie eklig", schreit es.

"Komm", sagt der Onkel Hans, "fass ihn an, meinen kleinen Freund. Er mag das. Fass ihn an! Probier das doch mal. Komm ... schau, er ist schon viel größer geworden!"

Hermine wird schlecht.

Onkel Hans greift nach Hermines Hand. Das Kind reißt sie ihm schnell weg. Es verhakt die Finger seiner beiden Hände ineinander. Weiß treten die Knöchel hervor. Es verhakt beide Hände so fest, dass er sich keine davon greifen kann.

"Sei doch lieb ... Fass ihn an ..."
"Nein", schreit Hermine.
"Da macht das bleiche Madending dann plötzlich ein paar komische Hopser und oben kommt etwas Weißes raus, wie dicke Milch, so sämig Weißes.

Hermine muss gleich brechen..

Am Ende putzt der Onkel Hans das Ding mit dem frischen, weißen Taschentuch ab und stopft es in die Hose. Wahrscheinlich auch, weil Hermine wie am Spieß schreit.
"Tu das sofort weg ... tu das sofort weg!", brüllt sie schon die ganze Zeit.

Schnell fährt der Mann sie nach Haus.
Als er das Auto anhält, zieht er sie plötzlich zu sich hin. Und er streichelt sie ... ihre Wange, ihr Haar.
„Gell, anfassen darf ich dich aber, ich hab dich doch so arg gern!“
"Lass mich, ich will heim!"
"Du bist ein so verständiges Mädchen. Bitte versprich mir, dass du es niemand erzählst, dass ich dich so lieb habe. Wir haben jetzt ein großes Geheimnis." Er lächelt komisch.
Dann lässt er sie aussteigen. Beim Wegfahren winkt er aus dem Fenster, so ganz freundlich und wirft ihr einen Kuss zu ... so etwas machen doch sonst nur Leute im Film.

Nachher im Bett muss sie lange an all das denken. Sie fühlt einfach, dass das bös war, was er da gemacht hat ... und es hat ihr überhaupt nicht gefallen, obwohl er gut nach Parfüm roch.

Zur Waltraud geht Hermine noch einmal. Zwei Wochen später. Weil Christel nach der Schule unbedingt hin will.
Natürlich erzählt Hermine der Freundin NICHTS von der Sache im Auto. Denn die würde vielleicht meinen, sie wär selber schuld.
‚Vielleicht ist es auch normal, DAS mit dem Onkel Hans‘, was weiß ich denn schon davon‘, fährt es Hermine durch den Kopf, ‚womöglich machen alle erwachsenen Männer so etwas, wenn sie ein Mädchen lieb haben??‘ Warum sollte sie deswegen nicht mehr zur Waltraud gehen? Die kann ja nichts dafür.
Es ist einfach nur die Lust aufs Musikhören und auf Eiscreme, die Hermine wieder zu den Müllers treibt.

Eis essen sie an dem Tag eine ganze Menge und auch Schallplatten hören sie wie immer.

"La mer, qu on voit danser le long des golfes clairs ..." singt gerade Louis Trenet.
S c h ö n.

Da kommt der Onkel Hans heim. Man merkt ihm an, dass er sich freut, als er die zwei kleinen Mädchen sieht. Schaut auch gleich Hermine an, grinst sonderbar, legt den Zeigefinger an seine Lippen, wie, um ihr oder sich den Mund zu verbieten, und das sieht so blöd aus und ‚so etwas macht ein richtiger Mann doch nicht, wenn er ein Mädchen lieb hat, oder?‘ denkt Hermine. Er zwinkert ihr zu. Das mag sie überhaupt nicht.

"Ich kann euch doch nachher heimfahren, euch zwei Hübsche", fragt der Onkel. Christel nickt.
"Mich aber nicht", sagt Hermine.
„Warum nicht? Es ist doch schön in meinem Auto!“
„Ich will nicht“, sagt Hermine.
„Dann fahr‘ ich auch nicht mit“, sagt Christel.
Der Onkel Hans legt eine neue Platte auf: ‚Über den Wellen.‘ Er weiß, dass den Mädchen die Melodie gefällt.
„Komm ich zeig dir, wie man Walzer tanzt!“ Der Onkel will Hermine am Arm vom Stuhl hochziehen.
„Nein!“
Bald darauf tritt die Waltraud herein.

"Ach, hier ist ja mein Schatz", ruft er, nimmt sie fest in die Arme, zieht sie mit Tanzschritten durchs Zimmer. Und die Waltraud quiekt fast wie ein Schweinchen, weil er sie ganz wild drückt.
"Ich tanze mit dir in den Himmel... " Onkel Hans schmettert es laut. Und schielt dabei am Kopf seiner Frau vorbei zu den beiden Kindern. Zwinkert ihnen abwechselnd zu.
Hermine wird übel. Wenn sie jetzt nur nicht brechen muss. Warum hat sie auch so viel Eis gegessen?

"Ich komm noch ein Stück mit dir", murmelt sie, als sie später mit Christel auf der Straße steht.
"Weißt du ... der Onkel Hans ...", fängt sie zaghaft an und stockt.
"Was ist mit ihm? Du kannst ihn nicht leiden, stimmt's? Das hab ich schon lang gemerkt!"
"Aber ..."
"Was ist denn?"
Ach ... nichts."

Dann marschiert Hermine zum Bahnhof und nimmt den Zug nach Marienstock.

Von da an hält sie sich vom Haus der Müllers fern. Sie will auch nicht mehr an das hässliche, bleiche Ding erinnert werden, von dem sie schon eine Minute später gewusst hatte, dass es kein Blinddarm und kein ‘Wurmfortsatz’ war. Sie spürt: Das hatte sie sich nur vorgemacht.

Ein halbes Jahr später denkt Hermine nicht mehr oft daran.

Bis eines Morgens. Da kommt Christel aufgeregt in die Schule gerannt.
"Hermine ... sie haben den Onkel Hans festgenommen, UNSEREN On... Du kannst dir nicht vorstellen, was bei mir daheim los ist und wie mein Vater herumbrüllt. Er und seine Kollegen haben ihn gestern verhaften müssen. Der Onkel Hans ist ein Sitt-lich-keits-ver-bre-cher", stammelt sie. "Und die Waltraud wäre ein böses Luder, die hätte von seiner Ab-artig-keit gewusst", sagt mein Vater. Aber ich kann es nicht glauben." Christel schluchzt gottserbärmlich.

Doch es ist wahr. Der Onkel ist ein
S i t t e n s t r o l c h . Es steht auch in der Zeitung, die Christel für Hermine zum Beweis mitgebracht hat:
Hans M. ein Wiederholungstäter. Besucher hatten ihn seit Tagen beobachtet, wie er im Freibad Kinder ansprach, ihnen am Kiosk Süßigkeiten kaufte, sie sogar anfasste. Er wurde in fragranti in seiner Kabine mit einer Zehnjährigen ertappt. Hans M. soll sich noch über Grobheiten der Polizei beschwert haben, als die Obrigkeit zuschlug und ihn festnahm. ...


"Es war nämlich so gewesen, hat mein Vater gesagt", erzählt Christel, "der Bademeister hat ihm eine Falle gestellt. Ein schlaues, kleines Mädchen hat dabei mitgemacht und ist schließlich mit ihm in seine Kabine gegangen. Dort hat man ihn dann gepackt, wie er mit ausgezogener Hose ..."

Nach seiner Verhaftung wird es klar: Er hat zuvor schon einmal in einer anderen Stadt sein Unwesen getrieben. Da ist er noch davongekommen. Jetzt nicht mehr.
"Es ist so furchtbar." Christel lässt sich weinend in die Schulbank fallen.
"Meine Mutter schreit daheim herum wie eine Furie. Meine Mutter!! Gestern hat sie mich immer wieder gepackt und geschüttelt und wissen wollen, was der Onkel Hans mit mir gemacht hat und so ... Und mein Vater soll auf dem Revier wie ein Stier getobt haben, sagt Mama. Er wäre gerade noch von seinen Polizisten-Kollegen zurückgerissen worden ... weil er dem Onkel Hans an die Gurgel gesprungen wäre. Meine Mutter sagt, das Gesetz sagt: "Niemand darf so einem Schweine-kerl ein Haar krümmen bis zur Gerichtsverhandlung, daran muss die Obrigkeit sich halten."
Christel hört gar nicht mehr auf, zu schluchzen.

Tatsache ist aber: Christels Eltern hatten von den Besuchen ihrer Tochter bei Onkel Hans und seiner Frau gewusst und sich nur Gutes dabei gedacht.
"Das Ehepaar Müller machte einen grundsoliden Eindruck", werden auch Zeugen später aussagen ...

Hermine wundert sich, warum Christel das alles so furchtbar tragisch nimmt und tagelang in den Schulpausen immer wieder davon anfängt. Und sogar aus heiterem Himmel losheult. Es ist der Freundin ja nichts passiert - ihr selbst eigentlich auch nicht - wenn man es richtig bedenkt ... da braucht man doch kein SOLCHES Theater zu machen. Über etwas ist Hermine aber besonders traurig: es wird ihr jetzt klar, dass der Onkel Hans sie ja gar nicht gern gehabt hat. Er hat das, was er im Auto getan hat, mit anderen Mädchen genau so gemacht. Oder versucht. Auch denen hat er bestimmt erzählt, er hätte sie lieb.

Ein paarmal ist Hermine nah daran, die ganze Sache der Stiefmutter, der Lisa, zu erzählen, aber dann lässt sie es doch lieber sein.


*




Aus meinem Roman: MINOU (auch hier seit Anfang 2006 gepostet)


*


Copyright Irmgard Schöndorf Welch August 2002
überarbeitet am 01.06.2005
 



 
Oben Unten