rotkehlchen
Mitglied
Wieder von O.H. geträumt. Sah wieder seine dürre, lang aufgeschossene Gestalt mit dem dunklen Gesicht und dem wirren, zerzausten Haarschopf. Er wurde länger und länger; plötzlich klappte er wie ein Taschenmesser zusammen und verschwand.
Seltsam: Obwohl Onkel Herfried relativ früh das Zeitliche segnete, wie man so sagt, ist er nicht nur von den verstorbenen, sondern auch von lebenden Exemplaren unserer Familien-Muschpoke, wie er die Mitglieder unseres norddeutschen Clans nannte, noch eines der lebendigsten. Ja, manchmal träume ich noch von ihm, und das, wo er doch schon vor Jahrzehnten an einem dicken Eichenast baumelte.
Wer war dieses eigenartige Wesen im Menschen-Zoo?
Zunächst: Er war kein Spießer, der den Rasen in seinem winzigen Vorgarten mit der Heckenschere mähte und anschließend mit einer Kleiderbürste kämmte, wie sein scheeläugiger Gartenzwerg-Nachbar. Er mähte ihn überhaupt nicht. Dann war er weder Fernsehkonsument noch Fleischfresser, erst recht kein Gottesanbeter. Und natürlich – frischluftfanatischer Nichtraucher. Alkohol? Pfui Deibel! Ein Auto? Nicht daran zu denken (obwohl ihm seine Mutter gerne eines finanziert hätte)! Die achtzehn Kilometer zu seiner Arbeitsstätte radelte der Dickkopf sommers wie winters mit dem Fahrrad ab, bei Eis, Schnee und heraufziehender Windhose. Dass er mal unpässlich oder sogar krank gewesen wäre? Ich kann mich nicht erinnern. Aber er war keiner, der seine Ansichten zum Maß aller Dinge erhob, und das machte das Beisammensein mit ihm interessant und – erträglich.
Dann: Worüber er nicht sprach.
Zum Beispiel über seine finanziellen Verhältnisse, und warum nie Geld im Haus war (sollte sich erst nach seinem Tode klären, und dann auf bittere Art). Und wie er´s mit der Stasi gehalten hatte – denn mir war klar, den Posten damals hätten sie ihm nicht als Mitläufer zugeschoben. Ich hätte liebend gerne mal, in dieses schwarzen Schweigen hinein, das mich bei diesem Thema anhauchte wie stinkender Atem, ein ehrliches Wort vernommen und ihm nötigenfalls verziehen. Denn die Irrtümer der Jugend sind das Lehrgeld, das jeder zahlen muss. Nein. Nicht ein Wort. Er legte den Kopf zur Seite und schwieg.
Dabei konnte er durchaus reden! Zum Beispiel über Politik und die Welt und warum Gelb seine und Weiß keine Farbe sei. Also über Dinge, die praktisch wertlos sind. In seinem Beruf allerdings muss er seinen Mann gestanden haben, denn er war zum Schluss stellvertretender Betriebsratvorsitzender einer großen Rostocker Firma.
Er besaß einige Marotten, über die sich die Muschpoke den Mund fusselig redete und mit dem Finger gegen die Stirn tippte. Die einen sahen ihn neben dem Geleis, die anderen hielten ihn schlichtweg für durchgeknallt, und eine dritte Gruppe meinte, er sei total aus der Zeit gefallen und sagten nicht O.H., sondern oha!, wenn sie von ihm redeten. Diese Gruppe sollte übrigens Recht behalten.
O.H. wohnte mit seiner Familie in einem winzigen Siedlungshaus am Rande der Stadt. Dort hauste er mit sechs Personen in sechs winzigen Zimmern: Er, seine Frau, seine drei Jungs, seine Mutter, die ihm das Häuschen gebaut hatte. Herfried war, das muss ich bei aller Sympathie bekennen, finanziell der geborene Versager. Mit dem neuen System kam er irgendwie nicht zurecht. Später kam noch die Schwester der Mutter, Tante Lisbeth aus Ostberlin hinzu, die dort vor Einsamkeit in die Tischkante gebissen hatte – und damit war´s noch nicht genug: Häufig war ich in den großen Ferien auch noch zu Gast – dann lebten acht Personen mehr oder weniger friedlich auf hundertzwanzig Quadratmetern. Nichtsdestotroz: Ein Besuch in seinem quirligen, dampfenden, aus allen Nähten platzenden Haus war für mich immer ein Abenteuer.
Nun ja, um ehrlich zu sein: O.H. war zunächst nur ein Beifang gewesen, um es mal so auszudrücken, und auch kein angenehmer.
Meine Großmutter, die Tante Lisbeth, hatte mich zum Pilzesammeln eingeladen, denn als alte Ostpreußin stand sie auf Pilzgerichten. Sie und O.H. empfingen mich im Wohnzimmer, das, ach, so winzig war, dass man keinen Sessel verschieben konnte, ohne irgendwo anzuecken. Herfried sagte nichts sondern starrte mich mit leicht hervorquellenden Augen 'unverwandt' an; eine Weile versuchte ich, seinen fixierenden Augen standzuhalten, dann senkte ich den Blick – dergleichen optische Ringkämpfe sind mir zuwider. Ich fühlte mich wie die Maus vor der sprungbereiten Katze und sortierte ihn in die Kategorie von Menschen ein, die mir den Buckel runterrutschen können.
Ein paar Tage später lud mich er zu einer Fahrradtour ein, und ich sagte zu. Auf einmal fing der große Schweiger zu reden an, aber nicht von sich, was eine Unart vieler Leute ist, besonders älterer, besonders kranker; und krank war er zu der Zeit schon, schwerkrank sogar, nur wusste es außer ihm und seinem Arzt keiner. Er fragte mich dies und das und wies mich immer wieder auf Schönheiten der Natur hin. Da merkte ich, dass wir, trotz des Altersunterschiedes, aus gleichem Holz geschnitzt waren; uns beiden ging der Sinn nach Höherem, zum Beispiel nach dem Geheimnis hinter dem weißen Wolken-Gebirge, das sich gerade über den schwarzen Kiefernforsten auftürmte; beide glaubten wir nicht, dass dahinter ein Gott lebe aber daran, dass im Universum eine gestaltende Kraft wirke, die zu erkennen dem Menschen unmöglich ist. Als wir wieder zuhause ankamen, waren wir Freunde im Geiste.
Damals hielt ich ihn für einen Freigeist, der er nicht war. Er glaubte nur nicht an den Kirchengott.
O.H. ernährte sich vegan – es ist mittlerweile eine Ewigkeit her, und ich weiß nicht, ob der Begriff 'vegan' damals schon existierte – jedenfalls verabscheute er alles Tierische in der Nahrung, sogar Milch Butter Käse waren für ihn tabu. Manchmal erschien er mir, so klapperdürr wie er war, wie jemand, der nur das Allernötigste zu sich nahm, wenn überhaupt. Jedenfalls habe ich ihn nie essen und trinken sehen. Die Großmutter hingegen war eine absolute Fleischesserin und ließ es sich nicht nehmen, mich in seinem Haus mit Brathähnchen und Kotelett zu bewirten.
Wieder habe ich folgendes Bild vor Augen: Ich, am Küchentisch, vor mir ein üppiges Schnitzel mit selbst gesammelten Pilzen und einem Haufen Bratkartoffeln; jetzt erscheinen, von dem verführerischen Duft angelockt, nacheinander seine drei mageren Jungs, die 'Luftkoteletts', setzen sich zu mir und starren mit offenen Mündern auf den Teller; O.H. kommt hinzu, setzt sich ebenfalls an den Tisch und beobachtet mich mit seinen Froschaugen, wie ich mir den Appetit nicht verderben lasse. Die Großmutter, gehässig wie sie manchmal sein konnte, bietet ihm und den Jungs in ihrem singenden Tonfall etwas an, das quasi so klingt wie: „Nu Herfriedche, nehmt doch!“ – obwohl sie genau weiß, dass er seiner Familie absolutes Fleischverbot verordnet hat; O.H. lehnt für alle dankend ab und sagt: „Wer viel fritt, der viel schitt.“ Basta. Darauf die Großmutter mit Blick auf seine Jungs spitz: „Von Marmelade steht kein Pimmel gerade!“ Nun muss ich aber sagen, dass er das Fleischverbot bei meinem nächsten Besuch schon aufgehoben hatte – außer für sich selbst; ich denke mal, er war zur Einsicht gelangt, dass er seine Restfamilie nicht auf Dauer von Großmutters Küche abhalten konnte.
Wenn ich überlege, so richtig verstanden haben sich O.H. und Tante Lisbeth, meine Großmutter, nie.
Eines Tages tuschelte sie mir zu: „Der Herfried ist nicht mehr richtig im Kopf! Gestern ist er wieder splitternackt durch den Wald gelaufen.“ Einer ihrer Pilz-Bekanntschaften hatte es ihr gesteckt. Damals ahnte keiner von uns, wie dicht sie mit ihrer Bemerkung bei der Wahrheit lag: Hirntumor. Ich nehme an, Herfried versuchte, sich den Druck im Kopf weg zu laufen. Dass er dabei beobachtet wurde, interessierte ihn nicht. Doch es nutzte nichts: Ein halbes Jahr später lief er wieder in den Wald und hängte sich auf. Eine Operation war natürlich nicht infrage gekommen. Er hatte zu Lebzeiten kaum etwas von sich preisgegeben, und jetzt sollten ihm fremde Leute ins Gehirn schauen?
Ironie der Geschichte: Zwanzig Jahre später wurde in diesem Wald ein offizieller Nacktwanderweg eingerichtet. O.H. war also zumindest in diesem Punkt seiner Zeit weit voraus gewesen.
Aber ich greife vor.
Einmal nahm er mich mit in seine Werkstatt. Sie war in einem Schuppen hinter dem Haus untergebracht. Dort zeigte er mir den Sarg, der aufrecht an einer Wand stand. Er hatte ihn aus Holz vom Sperrmüll selber gezimmert, wie er sagte; in ihm wollte er auch eingeäschert werden. Er hatte sich bei mehreren Beerdigungsinstituten erkundigt, ob das erlaubt sei; es war erlaubt, wenn das Möbel die richtige Größe habe und pietätvoll ausgelegt sei. Nun, das war schon ein starkes Stück, aber noch stärker war die Überraschung, als er den Deckel öffnete: Das Innere war aufs Feinste ausstaffiert und mit einer gepolsterten Sitzbank versehen. Auf meinen erstaunten Blick hin erklärte er, dort nehme er ab und zu Platz und denke über sich und die Welt nach. So habe der Gedanke an den Tod für ihn nichts Schreckliches mehr.
Und dann legte er los.
Das mit dem ewigen Leben sei Unsinn, sagte er. Ewig bedeute ohne Anfang und Ende, und da der Mensch einen Anfang hat, könne er höchstens unbegrenzt weiterleben. Aber auch das sei denktechnisch problematisch, denn da das Universum begrenzt sei, sei auch die Zeit begrenzt, und sollte es sogar schrumpfen, wie einige spekulierten, und wieder auf einen Urknall hinauslaufen, könne es sogar sein, dass man irgendwann einmal auf seine Geburt zusteuere.
Aber warum glauben dann so viele Menschen an ein Weiterleben nach dem Tode, gab ich zu bedenken, irgendetwas Wahres muss doch dran sein.
Natürlich ist etwas Wahres dran, sagte er. Schau dich doch um! Die Erde strotzt vor Leben! Alles gewachsen aus der Asche der Toten! Das Problem ist nur: Diese Menschen nehmen sich zu wichtig! Sie verlangen, dass ihr kleines mieses persönliches Leben ewig dauert! Welche himmelschreiende Borniertheit!
Kaum jemand von der Muschpoke wunderte sich, als an dem Tag, an dem seine Asche ins Erdreich gesenkt werden sollte, eine Windhose über den Friedhof fegte und das Erdloch unter einem heillosen Chaos aus herabgestürzten Ästen und entwurzelten Bäumen begrub. „Dat hat ä nu davon, dä Freidenker“, brummte Onkel Gustav schadenfroh, „warum red ä son Schitt! Jetz will ühm noch nich amoal de Deibel, hä hä.“
Nun noch das dicke Ende. Seine Witwe, die Tante Magda, von der ich nur noch das unklare Bild eines kleinen, gedrungenen 'Wonneproppens' mit Wuschelkopf reaktivieren kann, sichtete seine Papiere und stellte fest, dass er jahrelang der Scientologen-Sekte bedeutende Summen überwiesen hatte. Von diesem Schlag hat sie sich nicht mehr erholt. Sie und ihre Jungs mussten in der Küche auf ausgemusterten Autositzen Platz nehmen, dieweil er das Geld zum Fenster hinaus warf.
Soviel zu O.H.
Seltsam: Obwohl Onkel Herfried relativ früh das Zeitliche segnete, wie man so sagt, ist er nicht nur von den verstorbenen, sondern auch von lebenden Exemplaren unserer Familien-Muschpoke, wie er die Mitglieder unseres norddeutschen Clans nannte, noch eines der lebendigsten. Ja, manchmal träume ich noch von ihm, und das, wo er doch schon vor Jahrzehnten an einem dicken Eichenast baumelte.
Wer war dieses eigenartige Wesen im Menschen-Zoo?
Zunächst: Er war kein Spießer, der den Rasen in seinem winzigen Vorgarten mit der Heckenschere mähte und anschließend mit einer Kleiderbürste kämmte, wie sein scheeläugiger Gartenzwerg-Nachbar. Er mähte ihn überhaupt nicht. Dann war er weder Fernsehkonsument noch Fleischfresser, erst recht kein Gottesanbeter. Und natürlich – frischluftfanatischer Nichtraucher. Alkohol? Pfui Deibel! Ein Auto? Nicht daran zu denken (obwohl ihm seine Mutter gerne eines finanziert hätte)! Die achtzehn Kilometer zu seiner Arbeitsstätte radelte der Dickkopf sommers wie winters mit dem Fahrrad ab, bei Eis, Schnee und heraufziehender Windhose. Dass er mal unpässlich oder sogar krank gewesen wäre? Ich kann mich nicht erinnern. Aber er war keiner, der seine Ansichten zum Maß aller Dinge erhob, und das machte das Beisammensein mit ihm interessant und – erträglich.
Dann: Worüber er nicht sprach.
Zum Beispiel über seine finanziellen Verhältnisse, und warum nie Geld im Haus war (sollte sich erst nach seinem Tode klären, und dann auf bittere Art). Und wie er´s mit der Stasi gehalten hatte – denn mir war klar, den Posten damals hätten sie ihm nicht als Mitläufer zugeschoben. Ich hätte liebend gerne mal, in dieses schwarzen Schweigen hinein, das mich bei diesem Thema anhauchte wie stinkender Atem, ein ehrliches Wort vernommen und ihm nötigenfalls verziehen. Denn die Irrtümer der Jugend sind das Lehrgeld, das jeder zahlen muss. Nein. Nicht ein Wort. Er legte den Kopf zur Seite und schwieg.
Dabei konnte er durchaus reden! Zum Beispiel über Politik und die Welt und warum Gelb seine und Weiß keine Farbe sei. Also über Dinge, die praktisch wertlos sind. In seinem Beruf allerdings muss er seinen Mann gestanden haben, denn er war zum Schluss stellvertretender Betriebsratvorsitzender einer großen Rostocker Firma.
Er besaß einige Marotten, über die sich die Muschpoke den Mund fusselig redete und mit dem Finger gegen die Stirn tippte. Die einen sahen ihn neben dem Geleis, die anderen hielten ihn schlichtweg für durchgeknallt, und eine dritte Gruppe meinte, er sei total aus der Zeit gefallen und sagten nicht O.H., sondern oha!, wenn sie von ihm redeten. Diese Gruppe sollte übrigens Recht behalten.
O.H. wohnte mit seiner Familie in einem winzigen Siedlungshaus am Rande der Stadt. Dort hauste er mit sechs Personen in sechs winzigen Zimmern: Er, seine Frau, seine drei Jungs, seine Mutter, die ihm das Häuschen gebaut hatte. Herfried war, das muss ich bei aller Sympathie bekennen, finanziell der geborene Versager. Mit dem neuen System kam er irgendwie nicht zurecht. Später kam noch die Schwester der Mutter, Tante Lisbeth aus Ostberlin hinzu, die dort vor Einsamkeit in die Tischkante gebissen hatte – und damit war´s noch nicht genug: Häufig war ich in den großen Ferien auch noch zu Gast – dann lebten acht Personen mehr oder weniger friedlich auf hundertzwanzig Quadratmetern. Nichtsdestotroz: Ein Besuch in seinem quirligen, dampfenden, aus allen Nähten platzenden Haus war für mich immer ein Abenteuer.
Nun ja, um ehrlich zu sein: O.H. war zunächst nur ein Beifang gewesen, um es mal so auszudrücken, und auch kein angenehmer.
Meine Großmutter, die Tante Lisbeth, hatte mich zum Pilzesammeln eingeladen, denn als alte Ostpreußin stand sie auf Pilzgerichten. Sie und O.H. empfingen mich im Wohnzimmer, das, ach, so winzig war, dass man keinen Sessel verschieben konnte, ohne irgendwo anzuecken. Herfried sagte nichts sondern starrte mich mit leicht hervorquellenden Augen 'unverwandt' an; eine Weile versuchte ich, seinen fixierenden Augen standzuhalten, dann senkte ich den Blick – dergleichen optische Ringkämpfe sind mir zuwider. Ich fühlte mich wie die Maus vor der sprungbereiten Katze und sortierte ihn in die Kategorie von Menschen ein, die mir den Buckel runterrutschen können.
Ein paar Tage später lud mich er zu einer Fahrradtour ein, und ich sagte zu. Auf einmal fing der große Schweiger zu reden an, aber nicht von sich, was eine Unart vieler Leute ist, besonders älterer, besonders kranker; und krank war er zu der Zeit schon, schwerkrank sogar, nur wusste es außer ihm und seinem Arzt keiner. Er fragte mich dies und das und wies mich immer wieder auf Schönheiten der Natur hin. Da merkte ich, dass wir, trotz des Altersunterschiedes, aus gleichem Holz geschnitzt waren; uns beiden ging der Sinn nach Höherem, zum Beispiel nach dem Geheimnis hinter dem weißen Wolken-Gebirge, das sich gerade über den schwarzen Kiefernforsten auftürmte; beide glaubten wir nicht, dass dahinter ein Gott lebe aber daran, dass im Universum eine gestaltende Kraft wirke, die zu erkennen dem Menschen unmöglich ist. Als wir wieder zuhause ankamen, waren wir Freunde im Geiste.
Damals hielt ich ihn für einen Freigeist, der er nicht war. Er glaubte nur nicht an den Kirchengott.
O.H. ernährte sich vegan – es ist mittlerweile eine Ewigkeit her, und ich weiß nicht, ob der Begriff 'vegan' damals schon existierte – jedenfalls verabscheute er alles Tierische in der Nahrung, sogar Milch Butter Käse waren für ihn tabu. Manchmal erschien er mir, so klapperdürr wie er war, wie jemand, der nur das Allernötigste zu sich nahm, wenn überhaupt. Jedenfalls habe ich ihn nie essen und trinken sehen. Die Großmutter hingegen war eine absolute Fleischesserin und ließ es sich nicht nehmen, mich in seinem Haus mit Brathähnchen und Kotelett zu bewirten.
Wieder habe ich folgendes Bild vor Augen: Ich, am Küchentisch, vor mir ein üppiges Schnitzel mit selbst gesammelten Pilzen und einem Haufen Bratkartoffeln; jetzt erscheinen, von dem verführerischen Duft angelockt, nacheinander seine drei mageren Jungs, die 'Luftkoteletts', setzen sich zu mir und starren mit offenen Mündern auf den Teller; O.H. kommt hinzu, setzt sich ebenfalls an den Tisch und beobachtet mich mit seinen Froschaugen, wie ich mir den Appetit nicht verderben lasse. Die Großmutter, gehässig wie sie manchmal sein konnte, bietet ihm und den Jungs in ihrem singenden Tonfall etwas an, das quasi so klingt wie: „Nu Herfriedche, nehmt doch!“ – obwohl sie genau weiß, dass er seiner Familie absolutes Fleischverbot verordnet hat; O.H. lehnt für alle dankend ab und sagt: „Wer viel fritt, der viel schitt.“ Basta. Darauf die Großmutter mit Blick auf seine Jungs spitz: „Von Marmelade steht kein Pimmel gerade!“ Nun muss ich aber sagen, dass er das Fleischverbot bei meinem nächsten Besuch schon aufgehoben hatte – außer für sich selbst; ich denke mal, er war zur Einsicht gelangt, dass er seine Restfamilie nicht auf Dauer von Großmutters Küche abhalten konnte.
Wenn ich überlege, so richtig verstanden haben sich O.H. und Tante Lisbeth, meine Großmutter, nie.
Eines Tages tuschelte sie mir zu: „Der Herfried ist nicht mehr richtig im Kopf! Gestern ist er wieder splitternackt durch den Wald gelaufen.“ Einer ihrer Pilz-Bekanntschaften hatte es ihr gesteckt. Damals ahnte keiner von uns, wie dicht sie mit ihrer Bemerkung bei der Wahrheit lag: Hirntumor. Ich nehme an, Herfried versuchte, sich den Druck im Kopf weg zu laufen. Dass er dabei beobachtet wurde, interessierte ihn nicht. Doch es nutzte nichts: Ein halbes Jahr später lief er wieder in den Wald und hängte sich auf. Eine Operation war natürlich nicht infrage gekommen. Er hatte zu Lebzeiten kaum etwas von sich preisgegeben, und jetzt sollten ihm fremde Leute ins Gehirn schauen?
Ironie der Geschichte: Zwanzig Jahre später wurde in diesem Wald ein offizieller Nacktwanderweg eingerichtet. O.H. war also zumindest in diesem Punkt seiner Zeit weit voraus gewesen.
Aber ich greife vor.
Einmal nahm er mich mit in seine Werkstatt. Sie war in einem Schuppen hinter dem Haus untergebracht. Dort zeigte er mir den Sarg, der aufrecht an einer Wand stand. Er hatte ihn aus Holz vom Sperrmüll selber gezimmert, wie er sagte; in ihm wollte er auch eingeäschert werden. Er hatte sich bei mehreren Beerdigungsinstituten erkundigt, ob das erlaubt sei; es war erlaubt, wenn das Möbel die richtige Größe habe und pietätvoll ausgelegt sei. Nun, das war schon ein starkes Stück, aber noch stärker war die Überraschung, als er den Deckel öffnete: Das Innere war aufs Feinste ausstaffiert und mit einer gepolsterten Sitzbank versehen. Auf meinen erstaunten Blick hin erklärte er, dort nehme er ab und zu Platz und denke über sich und die Welt nach. So habe der Gedanke an den Tod für ihn nichts Schreckliches mehr.
Und dann legte er los.
Das mit dem ewigen Leben sei Unsinn, sagte er. Ewig bedeute ohne Anfang und Ende, und da der Mensch einen Anfang hat, könne er höchstens unbegrenzt weiterleben. Aber auch das sei denktechnisch problematisch, denn da das Universum begrenzt sei, sei auch die Zeit begrenzt, und sollte es sogar schrumpfen, wie einige spekulierten, und wieder auf einen Urknall hinauslaufen, könne es sogar sein, dass man irgendwann einmal auf seine Geburt zusteuere.
Aber warum glauben dann so viele Menschen an ein Weiterleben nach dem Tode, gab ich zu bedenken, irgendetwas Wahres muss doch dran sein.
Natürlich ist etwas Wahres dran, sagte er. Schau dich doch um! Die Erde strotzt vor Leben! Alles gewachsen aus der Asche der Toten! Das Problem ist nur: Diese Menschen nehmen sich zu wichtig! Sie verlangen, dass ihr kleines mieses persönliches Leben ewig dauert! Welche himmelschreiende Borniertheit!
Kaum jemand von der Muschpoke wunderte sich, als an dem Tag, an dem seine Asche ins Erdreich gesenkt werden sollte, eine Windhose über den Friedhof fegte und das Erdloch unter einem heillosen Chaos aus herabgestürzten Ästen und entwurzelten Bäumen begrub. „Dat hat ä nu davon, dä Freidenker“, brummte Onkel Gustav schadenfroh, „warum red ä son Schitt! Jetz will ühm noch nich amoal de Deibel, hä hä.“
Nun noch das dicke Ende. Seine Witwe, die Tante Magda, von der ich nur noch das unklare Bild eines kleinen, gedrungenen 'Wonneproppens' mit Wuschelkopf reaktivieren kann, sichtete seine Papiere und stellte fest, dass er jahrelang der Scientologen-Sekte bedeutende Summen überwiesen hatte. Von diesem Schlag hat sie sich nicht mehr erholt. Sie und ihre Jungs mussten in der Küche auf ausgemusterten Autositzen Platz nehmen, dieweil er das Geld zum Fenster hinaus warf.
Soviel zu O.H.