Onkel Walter oder die Kartoffel am Zaun

Writeolm

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Onkel Walter oder die Kartoffel am Zaun
(2021 WS)

Die Kindergeburtstage, soweit ich mich erinnere, waren zweigeteilt. Morgens nach dem Aufwachen wurde es spannend. Ich stand im Mittelpunkt. Alle gratulierten. Vom teuren Lieblingskäse meines Vaters bekam ich eine dünne Scheibe und überall lag Hoffnung in der Luft. Meistens erfüllte sich die Hoffnung durch das bescheiden ersehnte Geschenk.
Dann aber wurde es Nachmittag. Der zweite Teil des Tages begann. Ein wenig war noch die Spannung des Morgens zu spüren. Vielleicht ja doch? Könnte es sein? Manchmal gibt es diese Wunder. Doch als Tante Edith den hübsch verpackten Kirschsaft überreichte, Tante Ursel die Taschentücher und Großmutter die Socken, war alles wie in jedem Jahr. Ich liebte sie trotzdem, natürlich.
Schlimm wurde es danach. Die Steifheit einer familiären Kaffeetafel haftet am wohlerzogenen Kind wie Baumharz an den Händen. Dabei gibt es einen wesentlichen Unterschied. Wenn auch mühevoll, so lässt sich Baumharz mit geeignetem Mittel beseitigen. Außerdem kann man aus harziger Begegnung lernen und weitere Berührungen vermeiden.
Kaffeetafeln kommen immer wieder. Jahr für Jahr das gleiche Geschirr, die gleiche Sitzordnung, die gleichen Menschen und die gleichen Geschichten. Es gibt nichts, was dem mit 10, 12 oder auch 14 Jahren entgegenzusetzen wäre.
Onkel Jochem flog im Krieg Wasserflugzeuge. Es interessierte mich weit mehr, wieso dieses m statt des doch so üblichen n seinen Namen abschloss. Leider bekam ich keine Antwort darauf.
Onkel Walter war Kriegsgefangener. Das war spannend für mich. Noch Tage nach den Geburtstagen spielten wir draußen in den Gärten Kriegsgefangenschaft. Mein Freund Hartmut war Aufseher, sein kleiner flinker Bruder Feldarbeiter und ich der Gefangene hinter dem Gartenzaun. Hartmut lief mit einem Birkenstock bewaffnet den Zaun auf und ab. Sein Bruder hatte ein großes Herz und bewegte sich fast unmerklich näher und näher in Richtung der Absperrung. Dabei tat er natürlich so, als gäbe es außer dem Acker nichts anderes für ihn. Und doch versteckte er in seiner Hand eine Kartoffel, die er in einem unbeobachteten Moment unter dem Zaun hindurchschob. Hartmut bekam davon meistens nichts mit, und so saß ich auf dem nackten Boden mit der Kartoffel in der Hand. So richtig aber konnte ich die Bedeutung dieser Sache für Onkel Walter nicht nachvollziehen, obwohl ich einmal in die Hackfrucht biss.
Außer meinen Onkel saß auch mein Vater an den Kaffeetafeln. Er beteiligte sich rege an den Gesprächen, erzählte von seiner Arbeit und seinen Reisen. Nie aber kam ein Wort über Krieg und Nachkriegszeit über seine Lippen.
Die Jahre vergingen, und irgendwann waren die Kaffeetafeln Geschichte und die meisten Menschen auch, oder, wie mein Vater, in Pension.
Da er sich zu Haus langweilte, begleitete er mich oft auf meinen Dienstfahrten. Auch da erzählte er von seinen Reisen und den vielen spannenden Erlebnissen.
Eines Tages war die Autobahn gesperrt. Es gab eine Umleitung, doch die war überfüllt. Also fuhr ich Schleichwege. Ich kannte mich in der Gegend aus. Plötzlich bat mich mein Vater anzuhalten. “Es dauert nicht lange.“, meinte er und stieg aus. Er ging zu einem alleinstehenden Gehöft. Fast hatte er schon das Gartentor erreicht, als er stehenblieb. Es sah aus, als würde er zögern. Doch dann lief er ein Stück den Feldweg hinein, der gleich nach dem Haus begann und in einen Wald führte. Ich verlor ihn aus den Augen, stieg aus dem Auto und ging ihm nach. Er stand einfach nur da, regungslos und schaute zu Boden. Ich blickte ihn an. Er schüttelte den Kopf und winkte ab. Ich hatte ihn so noch nie erlebt.
Dann hob er seinen linken Arm und zeigte zum Wegrand. “Hier liegen drei Russen. Die haben wir erschossen und vergraben.“
Später dann im Auto erzählte er weiter: “Wir haben im Frühling 1945 die russische Armee aufhalten wollen. In dem Gehöft dort war unser Quartier. Wir hatten Meldung zu machen, sobald sich der Feind nähert und sollten uns dann zurückziehen. An einem nebligen Morgen im April standen wir fröstelnd neben dem Haus und rauchten. Man sah keine 10 Meter weit. Plötzlich stieß mich Hermann an und sah aschfahl aus. Ich folgte seinem starren Blick, und da standen sie.“
Er machte eine Pause. Es schien, als lausche er seinen Worten hinterher, so als könne er das Gesagte selbst nicht glauben. Dann schaute er zum Seitenfenster hinaus, und fuhr mit leiser Stimme fort: “Kennst du das, wenn die Zeit stehenbleibt? Du bist wie in einem Film, weit weg von dir selbst und siehst doch alles klar und voller Farbe. Da ist nichts grau. Im Gegenteil, jeder Nebel war mit einem Schlag weg. Aus diesem Film schließlich entstehen Fotos, einige wenige nur, aber die trage ich ohne Album an jedem Tag mit mir. Manchmal versuche ich ihnen eine Hülle zu geben, aber diese Hüllen taugen meistens nicht viel. Bei jeder Gelegenheit reißen sie, das war schon immer so.“
Er holte tief Luft und schaute zu mir: “Erinnerst du dich an diese Familienfeiern, an Walter oder Jochem? Wie kann man bei Kaffee und Kuchen …?“
In diesem Augenblick liebte ich meine Kindergeburtstage, besonders die Nachmittage. Dieser beklemmende Ring, der mir in seiner unfassbaren Realität die Luft abzuschnüren drohte, lockerte sich ein wenig. Fast fühlte ich augenzwinkernde Verbundenheit mit meinem Vater im nachträglichen Geständnis der hüllenreißenden Feiern.
Doch das Aufatmen war nur von kurzer Dauer.
“Die waren ganz jung, nicht älter als wir. Einer von ihnen hielt etwas in der Hand und zeigte es seinem Nebenmann. Doch dieser blickte ebenso starr zu uns wie wir zu ihnen. Wir hätten zurückgehen sollen, ganz vorsichtig, ruhig, ohne jede unbeherrschte Bewegung. Vielleicht so, wie man einem Bären ausweicht, wenn man ihn unvermittelt trifft. Man liest ja manchmal über solche Begegnungen. Aber all diese Gedanken kamen erst später. Viel später. Meistens nachts, wenn ich die Fotos wieder aus dem Film krame und denke und denke.
Hermann war sofort tot. Wir anderen begruben die drei Russen an Ort und Stelle. Als wir gehen wollten, wehte der Wind etwas hoch. Es war das Bild, welches einer der beiden dem anderen zeigen wollte. Ein Mädchen vor einer blauen Tür, ich hab’s nicht mehr.“
Auf der Heimfahrt schwiegen wir. Ich setzte ihn vor seinem Haus ab. Bevor er die Autotür schloß, beugte er sich zu mir herunter: “Ich war lange in Gefangenschaft. Mit einem hatte Walter recht. Ohne die Menschen hinter dem Zaun und ihre Kartoffeln wäre ich nicht hier. Und du auch nicht.“
 
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