Operation Mondschein

2,00 Stern(e) 1 Stimme

Ungefähr war es Ende November, als er seine Mondscheinspaziergänge anfing.
Gewiss nicht aus Lust wandelte er durch die Nächte, es trieb ihn etwas anderes.
Von Tag zu Tag wurde es kälter und im Supermarkt spielten sie längst schon die kitschgefärbten Gassenhauer. Überall musste es blinken. Tannenbäume und Schnee-Imitate, wohin man schaute. Aus Watte, aus Plastik, aus der Spraydose ließ man es schneien, auf Verkaufsstände, Punschbuden, auf das gottverdammte Shoppingcenter als Ganzes. Derweil der wirkliche Schnee wollte mal wieder nicht kommen.
Noch nicht mal das war dem Spaziergänger vergönnt: die weißen Flocken, die ihn vielleicht ein kleines bisschen milder gestimmt hätten. Gnädiger. Als hätte sich wirklich alles, auch die gesamte Natur in ihrer Allmacht gegen ihn verschworen. Als hätte es nicht gereicht, dass es dieses Jahr… und dann auch noch…
Ganz und gar ausgeschlossen war er von jeglicher Weihnachtsfreude, wie man gemeinhin so schön sagte. Für ihn sollte es kein gemütliches Weihnachten geben, aus Gründen.
Nicht für ihn und seinesgleichen.
Demgemäß aus purer Verzweiflung fing er seine Mondscheinspaziergänge an.
Bewegen musste er sich, etwas tun, irgendwas, damit er nicht eines Tages … oder sich einfach mit vollem Körpergewicht in die aufgepoppte Deko-Abteilung mit den Christbaumkugeln reinschmeißen, das wär‘s. Au ja.

Auf seinen ersten Streifzügen war er tatsächlich noch vollkommen unbewaffnet und einfacher Zivilist.
Dass dies sein Projekt werden würde, wusste er damals noch nicht gleich.
Reiner Zufall, dass da ein Jemand im Vorgarten diese Rentiergruppennachbildung samt Weihnachtsmannschlitten so straßenseitig aufgestellt hatte, dass er einfach nicht anders konnte als einmal kräftig zuzutreten. Kawumm.
In hohem Bogen flog eins der Viecher durch die Luft, die haben ja jeder einen eigenen Namen, aber der rotnäsige Rudolph war es nicht. Prallte lustig an der Hecke ab und kam im aschfahlen Gras verkehrtherum zum Liegen, dass es eine Freude war. Die Hufe stramm nach oben. Santa Claus gleich hinterher.
Augenblicklich ging es ihm besser, das merkte er deutlich, und die Operation Mondschein war geboren.

Aber sicher, die Mondscheinstraßen gehörten ihm allein.
Nur gut, dass alle mit dem verordneten Zuhausehocken so vollauf beschäftigt waren und brav in ihren Bettchen vom Christkind träumten.
Spätestens nach Mitternacht begegnete dir kaum noch ein Mensch in dieser Zeit.
Es brauchte auch gar nicht viel Werkzeug, ist er ziemlich schnell draufgekommen.
Was es brauchte, war Entschlossenheit und Energie, davon hatte er im rauschenden Überfluss.
Ein kleines Arsenal hat er sich mit der Zeit aber doch angeschafft. Dabei leistete ihm die unscheinbare Schere die spannendsten Dienste, wunderbar effektiv. So Lichterketten und Girlandenschnickschnack waren flugs im Vorbeigehen durchgekappt, das konnte man mitunter sogar tagsüber erledigen. Zack waren sie wert- und zwecklos.
Wesentlich gestromt hat er sich dabei kein einziges Mal, aber sowieso war es das Risiko wert. Berufsrisiko.
Furchtlos und fleißig, das war er wohl.
Mit einem Hammer demolierte er gekonnt diese leuchtenden Zuckerstangen, die irgendwo völlig sinnbefreit in der Erde steckten. Und weg. Goldengel und Sternengeflimmer hörte auf zu sein. Auf so manchem aufblasbaren Schneemann trampelte er ausdauernd herum, bis die Luft draußen war. Ganze Krippen nahm er auseinander, ließ meist nur Ochs und Esel drinstehen, auf dass es am Ende wieder nur ein Stall war wie sich das gehörte.
Für drahtige Angelegenheiten führte er eine kleine Zange bei sich, Taschenmesser ist nie verkehrt. Eine ganze Rüstkammer passte problemlos in die Innenseite seines Anoraks, das machte ihn froh.
Schluss mit dem Geblinke und Gesumse und Gesäusel. Weihnachten fällt aus. Für alle, hehe.

Allzu viel aufpassen musste er nicht.
Selbst wenn mal ein Vorbeikommender auftauchen sollte, kaum einer schert sich. Niemand wundert sich groß oder stellt Fragen. Und selbst wenn…
Einmal hatte ihn sogar ein Nachbar in flagranti erwischt.
Aber der Spaziergänger, ganz cool, hat kurzerhand rotzfrech hinübergegrüßt. Gut geblufft.
Der andere hat es tatsächlich geschluckt und gemeint, es wäre der ihm Nebenwohnende, der an seinem lichtpunktüberzogenen Gebüsch herumhantiert, um es weihnachtlich noch weiter zu verschönern.
„Jaja, das verheddert sich ganz leicht, das kenn ich auch“ hat ihm die Stimme aus dem Dunkel gar noch Mut zugesprochen, nichtahnend, was wirklich vor sich geht auf der anderen Seite des Zauns. Yeah, hat sich der Spaziergänger gedacht, und hat obendrein gespielt freundlich eine gute Nacht gewünscht. Am lichten Morgen werden sie sich wundern, ho ho ho.
Nur einmal wäre es beinah schiefgegangen.
Grad war der Spaziergänger so schön dabei, diese lachhafte Puppe erfolgreich von der Hausfassade abzusäbeln, so ein Modell von der Sorte Nikolaus-himself-klettert-mit-dem-Geschenkesack-durchs-Fenster, da ging drinnen blöderweise urplötzlich das Licht an.

Also in eine ganz dumme Lage war er da geraten, etwa Mitte Dezember war‘s.
So leicht sollte er da nicht mehr herauskommen.
Zu draufgängerisch, er hatte einen Fehler gemacht.
Normalerweise pirschte er sich nicht so gefährlich nah an die Häuser heran, sondern arbeitete sich lieber an den Außengrenzen der Grundstücke ab, von wo man jederzeit einen unauffälligen Rückzug starten kann.
Aber diese Figur an ihrer Strickleiter… die hatte ihn jetzt schon seit Tagen getriggert. Spukte ihm stundenlang im Kopf rum.
Präzise hatte er die Operation geplant.
Einen hübschen Galgen wollte er dem Plastikmann aus dem mitgelieferten Strick basteln und ihm den Geschenkesack übers feixende Gesicht stülpen. Soweit der Schlachtplan, aber jetzt hatte er echt ein Problem. Mit schlaflosen Hausbewohnern hatte er nicht unbedingt gerechnet.
Klare Sache, der Fremde im Fenster könnte ihn ganz leicht auffliegen lassen. Es blieb nur gekonnte Tarnung und Strategie hoffen, hoffen.
Ganz fest drückte er sich an den kratzigen Verputz der Hausfassade, während das Fensterlicht über seinem Kopf nicht und nicht ausgehen wollte.
Er stellte sich vor, wie die Hausfrau in klobigen Pantoffeln am Fenster stand. Schaut mit Silberblick in die Nacht und ahnt nicht, Eindringling direkt voraus.
Ganz bestimmt hatte sie auch drinnen alles so überaus geschmacklos verunstaltet wie im Außerhalb ihres Hauses und trinkt Milch vorm Kühlschrank aus dem Tetra Pak.
Auch noch musste es jetzt anfangen zu nieseln.
Dass sich wirklich alles gegen ihn verschworen hatte, war sowieso sicher und wunderte ihn nicht weiter.
So stand er geschlagene achtunddreißig Ave-Maria – was anderes wollte ihm nicht einfallen - an die fremde Hauswand gepresst im Nieselregen in der Nacht und würde sich vermutlich den Tod holen. Zwar hatte er vorsorglich einen Schirm mitgebracht, wagte es aber freilich nicht, diesen aufzuspannen in ebenjener Lage, in der er sich befand.
Wie erstarrt stand er da und rührte sich nicht, um nur ja nicht entdeckt zu werden. Aufgedeckt.
Die Kälte kroch von unten und von der Hausseite trocken ihn in rein, von oben war die Kälte aufdringlich nass.
Der da im Warmen seine Milch schlürfte, war der Feind, und schien nicht und nicht mürbe zu werden.
Erst nach den achtunddreißig im Geiste runtergespulten Versen verdunkelte sich das Fenster wieder, Gott sei’s gelobt.
Vorsichtshalber wartete er noch weitere zehn Vater-Unser, ehe er sich selbst den Befehl gab: Rühren, Kamerad.

Kaum noch spürte er seine Gliedmaßen. Alles steif geworden von der peinlich langen Warterei.
Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, robbte er nun auch noch ungelenk auf allen Vieren durch den matschigen Rasen. So ein Krieg ist eben doch kein Spaziergang.
Nachdem er endlich das neutrale Terrain der öffentlichen Straße erreicht hatte, taumelte er heftig enttäuscht nach Hause. Das gewisse Gefühl wollte sich partout nicht einstellen. Es fehlte ihm etwas.
Zu Hause stellte er schließlich fest, dass ihm außer Gefühl noch etwas anderes fehlte, und zwar sein guter Schirm.
Sonst war alles noch da: Schere, Hammer, Zange, das Messer. Bloß der Schirm blieb unauffindbar.
Auf seiner überstürzten Flucht musste er das Utensil wohl verloren haben, das ärgerte ihn. Es war ein schönes altes Stück gewesen. Dunkelblau, mit einem edlen Kirschholzgriff, auf dem man die Einkerbungen der Zeit prima mit den Fingern nachzeichnen konnte. Der war jetzt weg, damit musste er sich abfinden.

In den nächsten Tagen verzichtete er auf Mondscheinoperationen. Vorerst.
Das tat ihm besonders schlecht.
Er war außerordentlich extrem übellaunig und rempelte die Supermarktkunden absichtlich mit dem Einkaufswagen an. Den Teufel wird er sich entschuldigen.
Weihnachten war nun gar nicht mehr weit.
Dieses schleißige Regenwetter hörte jetzt erst recht nicht auf, natürlich nicht. Es regnete so kalt wie möglich, aber genau nicht kalt genug, dass sich der Regen in Schnee hätte wandeln lassen.
Der Spaziergänger wurde noch schweigsamer als ohnehin schon. Er ließ lieber Taten sprechen.
Im Bus krallte er sich mit voller Dreistigkeit den allerletzten Sitzplatz.
Wenigstens der stand ihm zu. Wenn er schon kein Weihnachten haben sollte, dann doch wenigstens das.
Extra breit hat er sich gemacht.
Das Mädchen neben ihm hat er richtiggehend zur Seite gequetscht, haha.
Der Spaziergänger sah, eine lange Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Sie war noch sehr jung und fraglos gut erzogen. Sie sagte kein Wort. Wohnte bestimmt noch zu Haus bei ihren Eltern, keine Ahnung von irgendwas.
Schüchtern starrte sie auf den Schirmknauf in ihrer Hand, der war alt und aus Holz, und verlegen fing sie an, diese Schneisen, welche die Zeit in das Material geschlagen hatte, mit den Fingern nachzuzeichnen.
Die Fenster im Bus waren rundum angelaufen. Man sah nichts von der Straße draußen und es dampfte zwischen den Passagieren.
Da musste er auf einmal unverschämt grinsen, ganz ohne dass es einer merkte.
Regelrecht formvollendet wandte er sich an die junge Frau und fragte sie so charmant als möglich nach der Uhrzeit, um ein höchst interessantes Gespräch zu beginnen.
 



 
Oben Unten