Liebe Marie-Luise,
ich freue mich immer sehr, wenn Du nachfragst.
Das Schluchzen in der Buchenrinde wird
nicht zum Ton des Zuhörers, sondern zum Ton in der Stimme des Schauspielers.
Ich mache das mal deutlicher, obgleich Du mich jetzt wahrscheinlich schon verstanden hast.
Der Schauspiler spricht ein Hörbuch auf. Es handelt sich dabei um einen 1000jährigen Baum, der in der Ich-Form erzählt, was alles er schon in seinem Leben gesehen hat. Er spricht auch von den Gräueln des 30jährigen Krieges. Diese haben ihn nicht kalt gelassen. Wenn ich nun diese Stelle vorgelesen höre, dann höre ich in der Stimme des Schauspielers, das Schluchzen in der Rinde des Baumes über die Gräuel, die Menschen einander antun können.
Mit den himmelaufwärts fahrenden Engeln verhält es sich ähnlich. Auch sie weiß der Schauspieler, auf die ihm eigene Weise, in seine Stimme hineinzubekommen. (So etwas erfüllt mich mit großer Ehrfurcht, denn der Schauspielberuf ist ein knallhartes Geschäft und sich seine Sensibilität dennoch zu bewahren, ist eigentlich immer ein Wunder.)
Die zweite Strophe ist, auch aus meiner Sicht, nicht leicht zu verstehen. Hier handelt es sich um die Voraussetzungen, welche der Schauspieler mitbringen muss, um in eine Rolle hineinzufinden. Er muss natürlich er selbst sein und er muss auch ein erwachsener Mensch sein, aber (wie soll ich das jetzt formulieren?) er muss sich selbst so weit zurücknehmen können, dass er für diesen anderen Menschen, den er verkörpern möchte, in seinem Inneren so viel Platz schafft, wie es ihm überhaupt möglich ist. Diesen Raum, den er dann mit dem Fremden erfüllt hat, muss er aber anschließend mit seinem eigenen Sein, seiner Individualität verschmelzen.
"Das Ahnungslose umfängt Neuerliches".Hier steckt das drin, diese gewisse geistige Keuschheit der Rollenfigur gegenüber aber dann doch das in sie eindringen und mit ihr verschmelzen.
"Neuerliches" habe ich statt Neues geschrieben, weil ein Schauspieler im Laufe seines Lebens eine Rolle ja auch mehrmals verkörpert, so dass sie jetzt nicht mehr neu sondern etwas Neuerliches für ihn ist. Denn, da er selbst sich inzwischen verändert hat, muss er den ganzen Prozess der Rollenfindung wieder von vorne durchlaufen.
Die letzte Strophe war Dir ja nicht so fremd vorgekommen. Gerne würde ich mich trotzdem auch dazu äußern. (Ach, ja, wie peinlich der Autor ist verliebt in seine Zeilen, ich gebe es zu. *schäm*)
Jetzt- gibst du dir selbst
das Ja-Wort
und ich höre
den angehaltenen Atem
dieser Nacht.
Hier wird der Augenblick beschrieben, (ach, naja angedeutet, beschreiben kann ich so etwas nicht) wie es klick macht und der Schauspieler spürt:"Jetzt habe ich es, in dieser Sekunde habe ich mich in die Rollenfigr verwandelt." Das passiert tatsächlich innerhalb eines einzigen Augenblicks und man weiß nur, dass es zu 80% aus Arbeit besteht und zu 20% ein Geheimnis bleibt. Der Schauspieler gibt sich also selbst das Ja-Wort zu der Art und Weise, wie er die Person darstellen will.
Das ist ein großer Moment und das Lyri durfte das dieses eine Mal mit diesem Schauspieler miterleben und ihm, dem Lyri, blieb der Atem weg und es erlebte diesen Augenblick, als hielte die ganze Schöpfung den Atem an. So übertrieben kann ich das ja hier jetzt mal schreiben. (Peinlich,peinlich).
Liebe Marie-Luise, jetzt habe ich Dich zugetextet. Nimm es mir bitte nicht übel.
Ganz liebe Grüße
Vera-Lena