Ostbahn

Scal

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"Ja, ich sehe schwarz", meinte er.
"Aus Überzeugung", fügte er hinzu, wandte den Kopf wieder zum Fenster und blickte in die Landschaft hinaus.
Grünland, Weiden, ein Bach, ein Hof.
Er hob den Blick zu den Wolken, schien sie eingehender zu mustern.
Ihre Umrisse vielleicht, dachte ich, ihre voluminöse Gewölbtheit.
Getriebene Gebilde, dachte ich, vom Westwind geformt und gewalzt, sie schwimmen ins Ungewisse.
Er sah mich plötzlich aufmerksam an, mit bewölkter Stirn.
"Ja, ich bin Schwarzseher", sagte er, "seit aus aus der Sicht des zweiten deutschen Fern-Sehens, trotzt erstklassiger Kritik im Jahre 1986, Matrjonas Hof drittklassig ist".
Wir stiegen in Rosenheim aus.



Alexander Solschenizyn, Matrjonas Hof
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Scal,

es gab Zeiten, da war ein Schwarzseher jemand, der sich dem Rundfunkbeitrag entzog. Das ist ja nun Geschichte und jeder muss zahlen, also kann diese Schwarzseherei 2023 nicht gemeint sein.

Wenn es also eine allgemein pessimistische Weltsicht ist, die sich an einem aktuellen Verriss genannten Buches orientiert, das 1986 noch erstklassige Kritiken bekam, dann sehe ich den Schwerpunkt der genannten Fakten falsch gesetzt. Man hat im Kopf die konkrete Zahl 1986, aber wann der Verriss war? Weist die Schwarzseherei in das Jahr 1986 oder in die heutige? Dieser Knoten löst sich nicht. Und wenn es um eine aktuelle Gesellschaftskritik handelt, schwächt die Zahl 1986 das Argument: Das ist 37 Jahre her und nachfolgende Leser (und Kritiker) haben das Recht, ein Werk anders zu lesen. Wenn Du darauf hinaus willst, das gute Literatur aus dem Kanon fällt, weil es ein russischer Autor ist (wofür das Wolkenbild spricht), dann würde ich folgenden Satz

"Ja, ich bin Schwarzseher", sagte er, "seit aus aus der Sicht des zweiten deutschen Fern-Sehens, trotzt erstklassiger Kritik im Jahre 1986, Matrjonas Hof drittklassig ist"
anders akzenturieren, z.B. "seit aus aus der Sicht des zweiten deutschen Fern-Sehens" Solschenizyns Matrjonas Hof drittklassig sein soll, oder 'sogar ein Werk Solschenizyns drittklassig genannt wird'.

Ich fürchte, mein Kommentar ist jetzt länger als Dein Werk - aber manchmal ist das so.

Liebe Grüße
Petra
 

Scal

Mitglied
Vielen Dank, Petra, für dein aufmerksames Bedenken!

Ich stimme dir zu, der zitierte Satz müsste anders akzentuiert sein, die Jahreszahl (Erscheinungsjahr der deutschsprachigen Ausgabe der Erzählung) ist ein irritierender Faktor. Ich habe den Text spontan verfasst, nachdem ich die Betrachtungen von Dichter Erdling über eine 3Sat-Sendung gelesen hatte.
Insofern erzählen die Zeilen von einem - unzulänglich gelungenen - skizzenhaft artikulierten, persönlichen Reflex gegen den konformistischen Zeitgeist, der sich in den Leitmedien so eklatant bevormundend breit macht.

"zweiten deutschen Fern-Sehens - erstklassiger Kritik - drittklassig" und "Schwarzseher" (im Sinne von "Rundfunkbeitragsvermeider" gibt es das in Österreich noch) deuten auf die doppelbödige, ironische Tendenz des ganzen Textes hin, die konkreten Details (hat das ZDF wirklich ... ?) sind demgegenüber nebensächlich (hat es nicht, soviel ich weiß, aber es wird als Repräsentant für das, alles sofort politisch kategorisierende Argusauge ins Spiel gebracht ).

Matrjona ist in Solschenzyns Erzählung eine arme, ungebildete, einfach alte Frau mit authentischer, aufrichtiger Herzensgüte, "unverzichtbar" für jedes Dorf und jedes Land.

Bei Gelegenheit werde ich versuchen, den Text umzugestalten, falls es sich überhaupt lohnt. Danke für deine Anregungen!

Lieben Gruß
Scal
 

petrasmiles

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Ich sag's ja: Felix Austria :) (wegen der 'Schwarzseher' - und der Autor*innen)
Es zeigt sich mal wieder, dass man seine eigenen Rahmenbedingungen nicht absolut setzen darf und wir hier ein internationales Forum sind :) Mich hatte aber auch 'Rosenheim' nicht auf die österreichische Spur kommen lassen ...

Ansonsten habe ich die Konnotation Deines Textes richtig gedeutet und mir den Zusammenhang gedacht.
Ich glaube, im Sinne der Wirkung Deines Textes wäre eine Überarbeitung nicht nötig - nur für den Text an sich :)

Liebe Grüße
Petra
 

Scal

Mitglied
Nö, ich neige immer wieder dazu, in der Sinnbildlichkeit eines Wortes zu verweilen. Diese Eigenart bringt mit sich, dass ich oft unverständlich bleibe.
Eine Lyrikerverschrobenheit.
"Er" und "ich" sind sich einig: "Rosenheim" ist der passendste gemeinsame Ausstiegsort.
 



 
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