Ihr Lieben, es gibt sie also doch noch, die guten Kommentare! Ich bin froh. Für alle eure Gedanken danke ich sehr.
Hier nun mein Statement dazu:
paenitentia
Da lag es nun. Drei Jahre Arbeit, vierhundert Seiten, geschätzte 150.000 Wörter. Fertig! Ok, ein paar wird Sägebrecht schon noch rausschmeißen. «Optimieren», nennt er das. Es wird ein Kampf sein, wie immer. Hassen werden sie sich, anbrüllen, wieder vertragen und am Ende in den Armen liegen. Vielleicht!
Die aufgehende Sonne schluckte gerade die Reste der Nacht, als Martin zum Fenster ging, es öffnete und die schlechte Luft aus seinem Arbeitszimmer in die Welt entließ. Es lag wieder eine dieser Zweihundertzigarettennächte hinter ihm. Die Letzte vorerst. Er wusste was gleich kommen würde, denn es war immer so gewesen in den letzten drei Jahren, immer dann, wenn er wie vom Teufel besessen auf seiner alten «Continental» die ganze Nacht seine Gedanken in die Maschine gehämmert hatte. Bernhard W. würde Punkt sechs auf dem Weg zur Arbeit die Treppen herunter stampfen, mit den Fäusten an seine Tür schlagen und sich für den Lärm der Nacht, der klappernden Buchstabensetzmaschine, lautstark beschweren. Martin würde nicht öffnen, das hatte er sich seit ein paar Jahren abgewöhnt. Manchmal, wenn sich beide zufällig im Treppenhaus begegnen, wird er von Bernhard angebrüllt, auch schlägt er ihm, wenn es mal wieder ganz schlimm und ganz lang war, seine Faust in den Magen. Ja, so ist es immer, seit Jahren schon und für beide ist es das ganz normale Leben. Martin liegt dann bekotzt im Treppenhaus, er muss sich immer übergeben, wenn ihm jemand zu nahe kommt oder sogar körperliche Gewalt anwendet und Bernhard geht fluchend in seine Wohnung. «Zieh dort endlich aus!», sagt ihm jedes mal Sägebrecht, wenn sie sich treffen. Manchmal kreuzt er sogar bei Martin zu Hause auf, natürlich nur um nach ihm zu sehen, sagt er, Pah, antreiben will er ihn, Menschlichkeit heuchelt er und will doch nur eins, nämlich dass er fertig wird, endlich fertig wird.
Nun ist es also soweit, von Sägebrechts Besuchen wird er verschont bleiben. Von nun an treffen sie sich zweimal die Woche beim Lektorat und streiten um Formulierungen, Worte, um Ansichten und Blickwinkel, so war es immer und so wird es auch immer bleiben, falls Martin nicht eines Tages von Bernhard W. so verprügelt wird, dass er nicht mehr hochkommt auf der Treppe.
Drüben in Schuberts Landbäckerei brannte schon das Licht im Verkaufsraum, noch fünf Minuten, dann ist es sechs und Helga würde die Tür aufschließen, ihm von unten zuwinken, er würde zurückwinken und auf Bernhard warten, auf seine Schritte und auf sein Hämmern an der Tür.
Die Luft in seinem Arbeitszimmer war besser geworden und schon wieder rauchte Martin am Fenster stehend eine von seinen tausend letzten Zigaretten. Er hat sich Mark Twains Ansicht zum Rauchen abgewöhnen verinnerlicht. Der sagte einmal: «Rauchen abgewöhnen ist doch kein Problem, ich hab das schon zweihundert Mal gemacht.» Gerade dachte er daran und lächelte. Für einen Moment stand die letzte Rauschwade vor dem Fenster fast unbeweglich wie eine Kumuluswolke, kein Wind wehte und Martin schnippte die Kippe mitten hindurch. Sein Husten wollte einfach nicht besser werden.
Es war wie immer Punkt sechs, als drüben die Jalousie von der Eingangstür der Bäckerei hochgezogen wurde, Helga ihm freundlich winkte, er kurz die Hand hob und das Fenster schloss. Synchron mit diesem dumpfen Ton flog eine Etage über ihm die Wohnungstür von Bernhard W. auf und krachte anschließend sofort wieder ins Schloss. Zwei Absätze, vierundzwanzig Stufen und jeden einzelnen Schritt zählte Martin lächelnd mit. Dann rumste es an seiner Tür. Faustschläge und eine wütende Bernhard Stimme brüllte sich die Seele aus dem Leib, aber nur kurz, denn etwas Schreckliches passierte. Martins Tür flog auf, das Schloss hatte nachgegeben und aus dem Lächeln auf Martins Gesicht wurde ein erschrockenes Staunen. Vier stampfende Schritte hörte er und dann stand sein Obermieter mit roten Backen im Türrahmen seines Arbeitszimmers. «Hast du Vollidiot noch alle!», brüllte der und erstarrte gleichzeitig, als er sich mit flackernden Augen im Zimmer umschaute. «Was ist das denn hier?» murmelte er mehr zu sich selbst vor sich hin. Martin stand noch immer am Fenster und hatte den Störenfried genau im Blick. Gleich würde er rüberkommen und zuschlagen, dachte er sich. Aber er tat es nicht. Er sah sich nur um, machte einen weiteren Schritt in den Raum und drehte sich um die eigene Achse. «Das ist ja wie …».
Martin versuchte sich vorzustellen, was in Bernhard gerade vorging. Seine Wohnung hatte er noch niemals betreten, wusste nichts von seinem Beruf, wusste nichts von dem Leben desjenigen, der unter ihm wohnte und nachts diesen schrecklichen Lärm mit der Schreibmaschine veranstalte. «Was sieht der gerade, was denkt der, was geht in dem denn vor?», dachte sich Martin und ließ Bernhard nicht aus den Augen.
Vor ein paar Jahren hatte Martin die beiden Zwischenwände zu den anderen Zimmern heraus gerissen und Regale einbauen lassen, zweireihig. Vom Wohnzimmer aus konnte man durch drei Zimmer in schmalen Gängen laufen, die bis unter die Decke mit Büchern vollgestopft waren. Fast vierzig Jahre Sammlertätigkeit und Hunderte Kilo von Papier auf ca. 90 m² Arbeitsraum waren ein wirklich beeindruckender Anblick. Das war damals, da wohnte noch die alte Frau Schwandt über ihm. Ach wie oft sehnte er sich in diese Zeit zurück. Sie war alt und fast vollkommen taub. Probleme mit Lautstärke hatte die Dame, die früher einmal Tänzerin im Moulin Rouge in Paris war niemals. Sie hatten sich immer gut verstanden, auch wenn sie sich ständig anbrüllen mussten. Dann aber starb sie und dieser Bernhard zog über ihm ein. Für jemanden der wahrscheinlich nur ein einziges Buch zu Hause hat, wohlmöglich nur das Sparbuch, musste dieser Anblick ein wirklicher Schock sein.
«Hast du hier ne Bibliothek oder was?», fragte Bernhard in den Raum hinein, ohne auch nur einen Blick auf den Wohnungsbesitzer zu werfen und ging langsam durch die Regale. «Red schon Mann, oder biste Schriftsteller?» Diesmal schaute er hinter einem Bücherstapel hervor, musterte irgendwie neugierig und mit einem Anflug von Respekt Martin, der immer noch am Fenster hinter seinem Schreibtisch stand und nicht wusste, wie er sich verhalten solle. Er nickte.
«Und was schreibste so?» bohrte Bernhard weiter und zog ein Buch aus dem Regal. «Nichts anfassen!», zischte Martin und erschrocken schob Bernhard wie automatisch das Buch zurück. «Bücher eben», sagte Martin fast ein wenig gequält und ärgerte sich, dass ihm dieser Prolet eine Antwort entlockt hatte. «Aber die haste nicht alle geschrieben, oder?» Bernhard grinste und strich mit der Fingerspitze über einen alten Band von Hugos «Der Glöckner von Notre Dame». «Dit kenn ick», sagte er und ging auf Martin zu. Wie automatisch wich der ein Stück zurück. Nur der Schreibtisch war noch zwischen ihnen, insgesamt vielleicht 3-4 Meter. «Mit diesem Ding machste den Lärm, oder?», er deutete auf die Schreibmaschine und erwartete gar keine Antwort, krachte in den Stuhl davor und beobachtete Martin.
«Watte so schreibst hab ick dir jefracht!», sagte Bernhard wieder und bohrte seinen Zeigefinger zwischen die Tasten der Schreibmaschine um einen Papierschnipsel heraus zu angeln der dazwischen lag. «Romane», erwiderte Martin leise und ließ das Manuskript, das direkt neben der Maschine lag, nicht aus den Augen.
«Wer ist Gabriela?», Bernhard hatte sich über das Titelblatt des Manuskripts gebeugt, berührte es aber nicht. «Ist das dein neues Buch?» Martin nickte und dachte nur daran, wie er aus dem Raum fliehen konnte. «Worum geht's denn da?», wieder schaute Bernhard in Martins Augen und lehnte sich zurück. «Ach, eine lange Geschichte», sagte Martin und winkte ab.
«Wenn du mir nicht sofort sagst, worum es geht in dem Buch, brech ich dir den den Arm, das kannste glooben, gehst mir die janze Nacht mit deinem blöden Husten und dem Geklapper auf den Sack, sodass ich nicht einpennen kann, und willst mir jetze nicht sagen, worum dit geht? », seine Blicke durchbohrten Martin und hatten eine Entschlossenheit, die Martin so nicht kannte. Er überlegte welche Verhaltensweise jetzt angebracht wäre und fürchtete sich ein wenig. Er entschloss sich zu antworten und sagte: «Ok, ich machs kurz, es geht um Mädchen aus Rumänien», setzte sich auf die Fensterbank, steckte sich eine Zigarette an und begann zu erzählen.
«Die Geschichte spielt Anfang der Achtziger Jahre in Rumänien. Am Schwarzen Meer, genauer gesagt. Gabriela arbeitete in den Ferien als Aushilfskellnerin in den Touristengebieten, sie verknallte sich in einen Ausländer, einen Deutschen. Die beiden kamen sich näher und landeten irgendwann auch gemeinsam in einem Hotelzimmer. Zu damaliger Zeit aber hatte die Securitate auf alles ein Auge. Denunziantentum war weitverbreitet und so kam es, dass in ihrer zweiten Liebesnacht, der rumänische Geheimdienst die Zimmertür aufbrach, Gabriela an den Haaren, vollkommen nackt aus dem Zimmer schleifte, sie in ein bereitstehendes Auto warf und davon fuhr. Dem Touristen hatte man, weil man internationale Verwicklungen befürchtete, nichts getan. Nicht ein einziges Wort hatten sie bei der Festnahme gesprochen und alle Recherchen von Gabrielas Freund in den nächsten Tagen blieben erfolglos. Irgendwann flog er verzweifelt zurück in sein Heimatland. Gabriela aber warf man in Konstanza, einer Hafenstadt direkt am Meer ohne Prozess, ohne Anhörung ins Gefängnis. Siebzehn war sie, siebzehn Jahre alt. Sie konnte von dort aus niemanden informieren, ihren Arbeitgeber nicht, ihre Eltern nicht und auch die Kollegen versuchten vergeblich ihren Aufenthaltsort herauszufinden. Gabriela selbst war sechs Monate lang eingesperrt und wurde während dieser Zeit gequält, geschlagen und vergewaltigt, manchmal mehrmals täglich. Man hatte ihr den Kopf geschoren, ihr ein paar Lumpen zum drüberstreifen gegeben und zwang sie täglich zwanzig Mal die rumänische Nationalhymne zu singen, während sich die Gefängniswärter über sie hermachten. Sie wurde still, sprach bald kein einziges Wort mehr, ertrug alle Schläge und Demütigungen und wurde nach sechs Monaten einfach auf die Straße geworfen. Natürlich nicht, ohne ihr vorher anzudrohen, wenn sie etwas in der Öffentlichkeit preisgeben würde, sie sofort töten zu lassen. Gabriela nahm es hin, antwortete nicht, setzte sich in die Bahn und fuhr nach Hause zu ihren Eltern. Aus Siebenbürgen kam sie, aus Brasov, Kronstadt hieß es früher. Dort wohnte sie in einem Neubaugebiet in der obersten Etage. Ihr Vater und ihre Mutter hatten sie fast gar nicht erkannt und versuchten das Mädchen, das in den ersten Wochen nur im Bett lag oder unter der Dusche stand wieder aufzupäppeln. Sie hatte abgenommen und wog gerade mal fünfzig Kilo. So verging ein weiteres halbes Jahr und noch immer hatte Gabriela kein einziges Wort gesprochen. Sie trainierte. Täglich rannte sie bis zu dreißig Mal die Treppen hoch und wieder runter, stemmte im Garten ihres Vaters zwei an einer Stange befestigte Feldsteine so lange, bis sie fast zusammenbrach, rannte wieder nach Hause und las. Sie las, was sie finden konnte über Waffen, Kampfsport Mord und Totschlag. Ihre Eltern machten sich wirklich große Sorgen, denn sie erkannten ihr Kind nicht mehr. Eines Tages war sie weg. Es war ungefähr ein Jahr später. Gabriela war zurück gefahren nach Konstanza, lauerte in irgendeiner Nacht einem bewaffneten Polizisten auf, stieß ihm von hinten in einer kleinen Gasse ein Küchenmesser mit solcher Wucht in den Hinterkopf, dass es vorn aus einem Auge sofort wieder heraustrat. Sie blieb einfach stehen, hielt das Messer fest in der Hand und sah zu, wie der Polizist vom Messer rutsche und auf tot auf die Straße klatschte. Sie nahm sich seine Ausweise und für sie die das Wichtigste; seine Waffe!
Ab dann trug sie sie ständig bei sich, suchte sich einen Job in einer Wäscherei, behauptete mit Zeichensprache, dass sie stumm sei, wurde in einem kleinen Zimmer direkt über den Waschhallen untergebracht und arbeitete von morgens um fünf bis abends um sieben. Ab dann hatte sie Freizeit und legte sich auf die Lauer. Inzwischen waren ihre Haare gewachsen, sie trug eine Brille mit Fensterglas, war ein kräftiges, sportliches Mädchen geworden und beobachtete den Eingang des Gefängnisses, in dem sie vor ein paar Monaten saß. Bewaffnet mit Zettel und Stift notierte sie sich ganz genau die Zeiten, zu denen ihre Peiniger von damals die Anstalt betraten und sie wieder verließen.
Als sie alle Daten zusammenhatte, fast einen Monat hatte sie dafür gebraucht, schlug sie zu. Inzwischen wusste sie von jedem, woher er kam, wann er kam und wohin er ging. Sieben Leute waren es, die auf ihrer Liste standen und um jeden Einzelnen kümmerte sie sich. Dem Ersten zündete sie mitten in der Nacht sein Haus an und erschoss ihn aus sicherer Entfernung, als er panisch mit einem Kind auf dem Arm aus dem Haus rannte. Das Kind töte sie gleich mit. Dem Nächsten schlug sie mit einem Stein KO, als der gerade auf einem dunklen Parkplatz in sein Auto steigen wollte. Sie zog ihn splitternackt aus, band ihn an die Stoßstange seines Wagens setzte sich selbst ans Steuer und raste mit ihm, mitten in der Nacht, als er gerade wieder aufwachte, durch Straßen und Wege solange bist sie nur noch Fleischfetzen hinter sich herzog. Ihr Vater hatte sie oft genug seinen Dacia in die Garage fahren lassen. Auch wenn sie noch keinen Führerschein besaß, konnte sie gut mit einem Auto umgehen, der Wagen war derselbe und sie hatte sogar Spaß dabei durch die Kurven zu brettern und im Rückspiegel zu beobachten wie die Reste ihres Peinigers gegen die Laternenmasten oder parkende Autos klatschten.
Den dritten zwang sie mit vorgehaltener Pistole sich ebenfalls vollkommen nackt auszuziehen und schoss dann ihr komplettes Magazin in seinen Unterleib. Seine Waffe und Munition nahm sie an sich und machte immer weiter. Wer die Morde als bestialisch bezeichnen würde, hätte untertrieben, denn der Rest ihrer Peiniger wurde ebenfalls unter unbeschreiblichen Qualen von ihr hingerichtet. Einem Schnitt sie die Kehle durch, dem Nächsten stach sie beim lebendigen Leibe die Augen aus und einen übergoss sie mit Salzsäure, die sie sich aus ihrer Wäscherei besorgt hatte. Erst dann, als sie wirklich alle erwischt hatte, fuhr sie zurück nach Hause, sprach wieder, erzählte ihren Eltern etwas von Selbstfindung und das man von Zeit zu Zeit eine Auszeit braucht und dass sie sich keine Sorgen machen sollten. Später studierte sie sogar Fremdsprachen, Deutsch und Englisch und wurde eine ganz normale Frau. Niemals stand sie unter Verdacht und doch war die Geschichte noch nicht zu Ende ...»
Martin schwieg und Bernhard saß wie versteinert hinter der Schreibmaschine und sagte kein einziges Wort. Anfangs hatte er lässig auf dem Stuhl gesessen und ein wenig Hin und Her gekippelt. Das hatte er aber bald eingestellt. Automatisch. Denn früh um halb sieben hatte er so eine Geschichte noch niemals gehört. Um diese Tageszeit war er entweder unterwegs zur Arbeit oder lag noch im Bett, wenn er Spätschicht hatte und hörte Jack und Chris zu wie sie oben, eine Etage höher versuchten, ihre Familie zu vergrößern. Er saß mit halb offenem Mund fast wie versteinert hinter Martins Schreibtisch. Martin selbst genoss den Anblick ein wenig und steckte sich schon wieder eine Zigarette an. Er wusste um seine erzählerischen Qualitäten und freute sich über das fassungslose Gesicht seines Nachbarn. Inzwischen war seine Angst ein wenig gewichen.
Das Erste was Bernhard stockend in fast perfektem Hochdeutsch fragte war: «Das steht hier alles drin?», er tippte auf den Stapel Papier direkt neben der Schreibmaschine und schaute fragend in Richtung Fenster. Wieder nickte Martin. «Mann, du bist ja ne richtige Kanone, ich wusste ja gar nicht, was du so machst, biste berühmt?» Bernhard war aufgestanden und stand wie jemand der nicht dorthin gehört mit hängenden Schultern mitten im Raum. Seine Stimme hatte sich geändert, hatte an Aggressivität verloren, ja klang schon fast unterwürfig. Er fühlte sich plötzlich klein und unbedeutend, wusste nicht so recht, was er denken sollte und kam sich, ohne selbst genau zu wissen warum, deplatziert vor. Er rückte den Stuhl vor sich wieder in eine gerade Position und hoffte, dass ihm Martin antworten würde. Martin schmunzelte in sich hinein und dachte: «Wenn der wüsste!»
Martin H. war eine Koryphäe unter den Schriftstellern Deutschlands. Er hatte alle Preise und Auszeichnungen, die wichtig und erstrebenswert für jeden Autoren sind, schon oft abgeräumt. Millionen hatte er mit seinen Büchern verdient, denn sie wurden weltweit in vielen Sprachen verlegt. Sechs Romane stammten bisher aus seiner Feder und dieser, mit dem Arbeitstitel «Gabriela», war Siebente. Nein, er musste wirklich nicht in diesem Mietshaus wohnen, er hätte es kaufen können, wenn er wollte und das Nachbarhaus und die Bäckerei von Gegenüber gleich mit. Aber Geld bedeutete ihm nichts, gar nichts. Er wollte schreiben, seine Ruhe haben und unter ganz normalen, lebendigen Menschen leben, nicht abgekapselt in irgendeiner Villa fernab von klappernden Bäckereien oder schimpfenden Nachbarn. Dort wo er wohnte, fühlte er sich ganz wohl und die Reibereien mit Bernhard gehörten zu seinem Dasein dazu. Sein Leben war ziemlich geordnet für seine Verhältnisse. Auch wenn es ihm niemals gelungen war eine Frau zu finden, war er ganz zufrieden mit dem, was ihm das Leben bot. Nur litt er schrecklich unter Selbstzweifeln, verstand oft nicht, warum überhaupt jemand seine Bücher kaufte und fand sie selbst, dann, wenn sie gedruckt waren furchtbar schlecht. Oft genug hatte er, wenn der letzte Tastenanschlag in seinem Arbeitszimmer und auch im Schlafzimmer von Bernhard verklungen war, leer und verbraucht am Fenster gestanden und sich gedacht: «Wenn es diesmal anders käme als gedacht, wenn die Mühe umsonst war, wenn die Leser das Geschriebene hassen würden, was wäre dann?» Er würde, das wusste er genau, sein Geld nehmen und die komplette Auflage des Verlages aufkaufen und eine gewaltige Bücherverbrennung veranstalten. Zerfetzen würde er jedes Blatt, zerreißen und sich selbst hassen. Er würde den Wald bedauern, von dem ein Paar Bäume ihr Leben für eine Schrottauflage geben mussten, die unter dem Druck der Maschinen, zersägt ihr Leben gegeben hatten. Allzu oft malte er sich aus, was man anstelle eines Buches daraus hätte machen können, Tische Stühle oder Stelzen für Kinder. Das wären ein paar Möglichkeiten gewesen. Stelzen ja, die würde er sich selbst wünschen, um ein wenig Distanz zu haben zu den auf der Erde herumliegenden schlechten Büchern, die bedruckt, in mühevoller Arbeit, mit Druckerschwärze durchtränkt von der Welt in Wort und Tat zerrissen worden wären. Welche sinnlose Mühe hatte er sich dann gemacht?
«Nein, nicht berühmt», log Martin.
«Druckerschwärze macht man aus Ruß und Öl, wusstest du -äh sie, wussten sie das?», Bernhard war ein wenig stolz auf diese Frage, denn als Kind hatte ihm sein Großvater, der in einer Druckerei arbeitete, dieses Wissen weitergegeben und es war irgendwie in Bernhards Kopf hängen geblieben.
«Ja, das weiß ich», murmelte Martin und schmunzelte.
Dann war für einen Moment der beiden wie eine Ewigkeit vorkam Stille im Raum, Bernhard stand immer noch beeindruckt aber wie ein Fremdkörper im Zimmer und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
«Ich muss los», sagte er und schlich in Richtung Korridor. «Wenn das Buch fertig ist, will ick och´n Exemplar haben.» Eine Antwort wartete er nicht ab. Auf dem Weg zur Wohnungstür fiel sein Blick in die ziemlich unordentliche Küche von Martin. Auf der Arbeitsplatte stand ein Messerblock. Bernhard lief ein kalter Schauer über den Rücken und fasste sich automatisch an den Hinterkopf. Kaum hörbar schloss sich Martins Wohnungstür, als er endlich ging. Nicht einmal seine Schritte im Treppenhaus konnte man hören. Martin war allein. Die ganze Begegnung hatte eine halbe Stunde gedauert.
Punkt acht Uhr stand Sägebrecht vor der Tür, klingelte und holte das Manuskript ab. Ein paar Monate später lag das Buch in den Läden und wurde ein Bestseller. Inzwischen waren Martin und Bernhard so was wie Freunde geworden. Sein Nachbar hatte ihn überredet sich endlich einen Computer zu kaufen und brachte ihm sogar bei, wie man ihn bedient. In der Öffentlichkeit prahlte er damit einen berühmten Mann zum Freund zu haben und hatte vorn in seinem Überlandbus einen kleinen Schrein aufgebaut, in dessen Zentrum, der Roman «Gabriela» von Martin V. lag. Jedem Fahrgast, der zu ihm in den Bus stieg und sein Ticket löste, machte er auf das Buch aufmerksam und zeigte die Widmung herum die ihm Martin dort hineingeschrieben hatte. Er selbst hatte es wohl schon fünf Mal gelesen. Im Internet fand er durch einen Zufall ein Gedicht und musste an Martin denken. Er druckte es aus und schob es eines Morgens still und leise unter der Tür von Martin hindurch, es hatte diesen Inhalt:
paenitentia
Wenn alles anders käme als gedacht,
würd unterschlagen werden jedes Blatt, zerfetzt!
Denk an das Holz, das aufgab unter Sägen,
Schlägen und im Regen, faulend sich
nach dem Verbuchen sehnte,
das tot dem Walde wich,
und unterlag dem Druck.
Hätt man nur Stelzen draus gemacht statt dessen
um sie wie Brückenpfeiler,
allem Hohn zum Trotz,
in Ruß und Öl zu baden.
LG an Jacko, Mäuschen und Herbert natürlich!!!