paenitentia (gelöscht)

Mäuschen

Mitglied
Guten Abend ^^

Ich bin mal so frei und wage es, hier meine Meinung öffentlich zu machen.

1) Paenitentia - Ich lieeeebe Latein ^^

2) "Sägen, Schlägen und im Regen" - wunderschön zu lesen, diese Stelle. Wenn ich es mit der Musik vergliche , bezeichnete ich es als Tonartwechsel ^^ Allerdings gehört nach dem "Regen" kein Komma, oder lese ich es falsch? Und auch wenn es nur zur Betonung der Pause da wäre... fließend gefiele es mir fast besser.

3) Dritter Vers ("Und ach") - ich musste so lachen^^ Hab meine Facharbeit unter anderem über die Interpretation von vier Jahreszeitengedichte von Goethe geschrieben. "Ach!" ist sein absoluter Lieblingsausdruck. Dein Gedicht erinnert mich ein wenig an Goethes (ob es nur an dem "Ach!" liegt... ich denke nicht.)

4) Gefällt mir gut =)


Liebe Grüße,
Christine
 

JackoF

Mitglied
Hallo Spaetschreiber,

etwas sehr Interessantes, und so zwischen/in den Zeilen Guckendes :)) !

Sprachlich gelungen dieses „vers-libre“ / in seiner Ahnungs-Gebung, in seiner feinen Spitze, so seitlich direkt.

Und für mich sehr schwierig, hier die immanente Denk-Linie zu entdecken,
zum einen der Titel als irgendwie Reue, Buße(bin ja nur Heide), und die Suche, wer nun tatsächlich paeniteniert ?
Ebenso ist da für mich ein permanentes Umkehren des Zwischenzeiligen !!

Irgendwie gehts um das Thema „Bedeutung seiner selbst“ / vielleicht auch gar nicht ? ;)
Das „Seiend Unauffällige“ ist deswegen so, weil es einerseits so ist,
wie ebenso zu einem Auffall maskeriert werden kann - und nun deswegen so, und blubbiger angenommen ist.
Die Frage : Was ist denn was nun wirklich ? / Und, fragt sich wer ?
Die Blubbser bestimmt nicht !

In der Welt der Empathie-Betler(oder doch Bettler ?) wird Sein zu dem Mittel zum Zweck, den es ego-funktional haben könnte, also so werde.
Reales in seiner selbst ist eben scheinbar „nur“, dass es einfach da ist - doch "Da Sein als Plakat" ist nun mal der große Hunger der Entleerten - und gerne mal mit paenitentia, im Nebenbesuch beim Beichtstuhl, köstlich gefüllt worden zu sein. Und womit letztlich ?
Mit der Legitimation,
also dieses Arrangement, dem Maskeradenspiel irdisch unbegrenzt weiter fröhnen zu dürfen, da es sonst ja keine B-Stühle, wie auch keine beruflichen Beter und Empathie-Säusler mehr bräuchte.

Die ewige Suche danach, den Mond in seinem Safe als Besitz zu sichern, als jenes, schon längst Daseiende zu bekosten,
dass eben der Mond nur dort, wo er ist, uns auf eine eigene Art bereichern kann :))) /(mal das Prinzip der Wissenschaft ausgeklammert :) )

Spaetschreiber,
bin mal gespannt,
was Du zu meinen Gedanken meinst – doch ein kompletter Fehltritt ??? ;),
dennoch ein interessanter, zumindest für mich.....

Wieder gerne hier gelesen - und wieder ein Tschüss, Jacko

--
 
„Irgendwie gehts um das Thema „Bedeutung seiner selbst“ / vielleicht auch gar nicht ?“
Nun, Jacko, wie kommst Du denn darauf? Der Titel: „paenitentia“ sagt eigentlich aus, worum es geht und ist ein fester Bestandteil des Ganzen. Man sollte ihn, den Titel, nicht aus den Augen verlieren, denn er korrespondiert sofort mit den ersten beiden Zeilen. Nimm doch mal nur den Titel und die besagten Zeilen, dann wird vollkommen klar, worum es geht. Da ist nix mit Metaphern, nix verschlüsselt, nix zwei -oder mehrdeutig.
Ich kann, so sehr ich mich auch bemühe, Deinen Gedanken nicht folgen. Lustig. Eigentlich müsste man daraus ein Gedicht machen, aus Deinen Gedanken. Ich fürchte ein wenig, Du hast in Deiner Interpretation gleich zwei Gedichte besprochen, wobei das eine (blubb) den größeren Teil Deiner Gedanken gesteuert hat. Kann das sein? Oder war etwa: „C21 H23 NO5“ im Spiel? Egal.

Aber weißt Du was? Für Deine Gedanken bin ich Dir wirklich dankbar, für die Zeit die Du mir und dem Gedicht geopfert hast sowieso. So soll es sein, freie Interpretationen und von allem ein Stück für die ganz persönlichen „Pictures of Exibition“.

Viel Spaß beim Knobeln

Es grüßt der
Spaetschreiber
 

JackoF

Mitglied
Hallo Spaetschreiber,

Erst einmal ein Danke an Dein mich schmunzeln lassen zu Diacetylmorphin / Diamorphin / Heroin - Hi, hi.......
Na, vielleicht passieren ja bei mir opiade Verstoffwechselungen in meinem Gehirn, wenn ich mich in einen Text/Gedicht fallen lasse :))))

Zum textlichen Ernst :
Oh Jeee – doch, wie ich schon sagte(es fast annahm), mein Deutung könnte doch in einer Verirrung geeendet sein :)).
Und ich meinte es sehr Ernst mit meinem Heidensein(was immer ich auch darunter verstehe ;) )

Soll also heißen - mit kirchlichen Norm-Ritualen habe ich nichts am Hut – bewusst und gedankenvoll !
Und dieses „paenitentia“ rücke ich nun mal in diesen Bereich rein / habe nun auch google hierzu ausgelesen :)) / selbst hierzu sogar die moral-ethische Betrachtung zu Rechtsverträgen.......mal angelesen...

Zu Deinem Hinweis bezüglich der ersten beiden Zeilen + Titel :
paenitentia

Wenn alles anders käme als gedacht,
würd unterschlagen werden jedes Blatt, zerfetzt!
und dann Dein Abschlussteil mit :
Hätt man nur Stelzen draus gemacht statt dessen,
um sie wie Brückenpfeiler,
allem Hohn zum Trotz,
in Ruß und Öl zu baden.
Diese Paar-Bindung bringt mich(wohl meiner religiösen Unkenntnisse wegen) in eine beißenste Ironie - und zwar gerade zum Thema : Reue, Buße, Versöhnung, usw.../auch als die dogmatische Verordnung von oben !

Meine wohl nun unbedachte Frage (besser gehts halt nicht :) ) : Was hat Reue, Buße, Versöhnung mit einem „ohne dieses paenitentia“, im direkten Sinne, bezogen auf das Blatt, Bäume, Leben zu tun ?
Der humanoidus kann auch bedenkend sehr viel ohne mit sein :)))

Desweiteren zum Abschlussteil :
Ist das nicht purste Ironie ?
allem Hohn zum Trotz,
in Ruß und Öl zu baden.
oder :
Hätt man nur Stelzen draus gemacht statt dessen
oder :
Stelzen zu Brückenfeilern werden zu lassen
Für mich wird da gerade die „üblich-paenitentia“ mehr als auf die echte und notwendige Schippe genommen - oder ?

Spaetschreiber - bei mir liegts wohl an der paenitentia ;),
und ansonsten bin ich nun noch näher zu meiner Deutung gerutscht.

Das Ding/Objekt/Leben in seiner selbst verbirgt das lebendige Aroma, und nicht das von außen aufgesprühte Parfüm ! Also gerade die Versöhnung seiner selbst mit sich und den anderen ihrer Selbstheiten......, und dann ist da so etwas wie Achtung und Beachtung möglich !,
und nicht den Kern im Mantel entdecken zu wollen...........
Also paenitentia hier (in meinem Verstehen) in der Handhabung als pure Heuchelei gemeint.

Na, vielleicht bekomme ich ja ob meiner Dümmlichkeit noch einen Tip von Dir :))))

Wieder ein gerne Tschüss, Jacko – nun schon mit etwas Qualm aus den Gedankenzellen.....,
und in die nächste Knobelrunde...

--
 

Mäuschen

Mitglied
Guten Tag, meine lieben Knobler ^^

Nach diesen wahnsinnig interessanten, tiefsinnigen (teilweise für mich undurchschaubaren^^) Gedanken würd ich auch gerne einen "Lösungs"vorschlag bringen.

Ich habe es so verstanden, dass die "Reue" (paenitentia im Folgenden so übersetzt) eintritt, "Wenn alles anders käme als gedacht." Dann würde man das, was man jetzt noch als höchstes Gut sieht (Blatt) "unterschlagen" und "zerfetzt" werden, da man eingesehen hat, dass das falsch war (-> Buße).

"Und ach, das Holz" -> Dieser Satz ist eigtl nur ein Ausruf mit anschließender näherer Beschreibung des Holzes. Es fehlt das Verb (oder ich finde es nicht?^^), daher nehme ich diese nächsten fünf Verse als einen Blick in die Vergangenheit. Was machte eben jenes "Blatt", dass man für so wertvoll hielt, genau so? Es war die jahrelange Mühe, die man mit dem Holz hatte, die ganzen Qualen, die der Baum ertragen musste.

Nun büßt man (oder eben nicht, da der Konjunktiv an dieser Stelle ("Hätt") eben keine Wirklichkeit ausdrückt) und sieht ein, dass Stelzen besser gewesen wären als Blätter. Stelzen sehe ich hier schon als eine Art Metapher, die du ja aber selbst andeutest ("wie Brückenpfeiler") -> Halt gebend das Alte zu stützen versuchen, sich nicht an dem Luxus zu erfreuen (Blatt).

Ruß und Öl verstehe ich überhaupt nicht. Badet man Holz darin, um Brückenpfeiler zu machen? Eher nicht :D

"Allem Hohn zum Trotz" ergibt mehr Sinn (für mich und meine Interpretation zumindest^^). Man hätte sich schon früher dazu entschließen sollen, aus dem Baum Brückenpfeiler zu machen, keine Blätter und genau DARIN liegt diese "Buße".

So interpretiere ich jetzt "Paenitentia" und bin gespannt, was du/ihr dazu meint. Was im Einzelnen nun das Blatt, der Baum und die Stelzen sind muss eben jeder für sich entscheiden.


Winkend,
Christine
 

JackoF

Mitglied
Hallo Spaetschreiber,
hallo Mäuschen,

möchte noch mal kurz - nun mit dem Ansatz von Mäuschen - gerade auf die ersten beiden Zeilen mit Titel eingehen.
Hier steht doch :
paenitentia

Wenn alles anders käme als gedacht,
würd unterschlagen werden jedes Blatt, zerfetzt!
Da ein Konjunktiv mit : "Wenn alles anders käme als gedacht"
den Text einleitet, gibt es ebenso den realen Standpunkt :
Wenn alles so ist, wie gedacht,
würd jedes Blatt nicht zerfetzt und nicht unterschlagen werden.
=> Also Gut !

Und mit dieser aus dem Text gegebenen auch Realität verstehe ich nun direkt den Titel "paenitentia" nicht mehr.
Also für mich die ironische Provokation(als doppelte Irrealität),
dass es doch "so" gedacht wird, ein Blatt zu zerfetzen und zu unterschlagen - und Blatt als Metapher fürs echte Leben, das nun mal gedankenlos und mutwillig zerstört werden kann.

Soll heißen.
Stünde da :

paenitentia

Wenn alles so ist wie gedacht,/=> suggestiv /(wie es die Menschen handhaben in ihrer Ego-Gier)
würd unterschlagen werden jedes Blatt, zerfetzt!

oder :

paenitentia

wenn alles so käme wie gedacht,(wie erhofft, mit Konjunktiv !)
würd kein Blatt unterschlagen werden, zerfetzt!

dann würde ich hierzu die "paenitentia" verstehen !(eben als Einsichts-Möglichkeit, die Realität ändern zu können...)

Was da nun mal nicht steht - also(für mich) Ironie,
da es ja real nun mal anders ist !

Und dann mit dem provokanten Abschluss - in Ruß und Öl zu baden - Ruß vielleicht für Verbrennung und Verstaubung, und Öl für vielleicht eine ritualisierte Sauberwaschung bezüglich kirchlicher Leer-Rituale(mindestens in Deutschland :)), wie eben auch die Buße selbst, als Beicht-Ritual)
Bewusstsein/Erkenntnis und Erkennen funktioniert nun mal nicht mittels Rituale, weiß zumindest der gedankenvolle Ungläubige sicher !! (klar, mM !)

Wieder ein knobelndes Tschüss Euch Beiden,
Jacko, der hier fragezeichnende Mensch :)

--
 

Mäuschen

Mitglied
Hello again!

Ah, jetzt verstehe ich deinen Gedankengang, Jacko. In meinen Augen hast du recht, die doppelte Irrealität ist mir noch gar nicht aufgefallen bzw bewusst geworden.

Wenn das wirklich Absicht war von Spaetschreiber, dann wird das ja noch richtig kompliziert! :D Es eröffnen sich ja dadurch mehrere Ebenen, von denen eine geschildert wird, die andere angedeutet und eine (oder mehrere?) überhaupt nicht angesprochen wird, dennoch den Leser beschäftigen kann (sollte, müsste, dürfte...).

Aber ist das "Wenn... käme" zu Anfang nicht einfach ein grammatikalisches Muss? Nach "wenn" folgt Konjunktiv (Indikativ wäre umgangssprachlich?) Wahrscheinlich grade auf dem HOLZweg (ha ha ha... xD)

Grübelnde Grüße,
Christine
 

JackoF

Mitglied
Hallo Christine,

wie Du es sagst - und da Spaetschreiber eigentlich immer etwas versteckt Tiefes mitbedeutet - erahne ich hier(ungeachtet mal meiner hier "Konjunktiv-Probleme" ;) ) eben auch dieses Mehr an Inhalts-Ebenen. :))

Und zu Deiner Aussage, dass auf ein "wenn" immer ein Konjunktiv folgen müsste, bin ich etwas anderer Meinung, und zwar mal ungeachtet des Umgangssprachlichen.

Z.B.:
Wenn er morgens aufsteht, putzt(Indikativ) er sich zuerst die Zähne.
Soll heißen,
(immer/oder meistens oder oft...) - wennn er morgens aufsteht, dann macht er es so, oder so......

Und konkret :

Wenn alles anders käme als gedacht,
würd unterschlagen werden jedes Blatt, zerfetzt!

Hier wird es für mich suggestiv !

Genauso möglich :

Wenn alles anders ist als gedacht,
würd unterschlagen werden jedes Blatt, zerfetzt!

Und hier ist es für mich indirekt konjunktivisch alternativ / Ja oder Nein

Kann natürlich auch komplett falsch liegen :)))
Christine, hast mich nun auch ins Grübeln gebracht ;)

Erst einmal wieder ein Tschüss Dir, Jacko,

mal sehen, wo wir hier in diesem Faden noch landen werden.....

--
 

Mäuschen

Mitglied
Hallo Jacko,

Du hast natürlich (wieder^^) recht, ich hab mich falsch ausgedrückt. Nach "wenn" folgt Konjunktiv bei konditionaler Bedeutung. Bei temporaler (wenn/immer wenn) natürlich nicht.

Zu deinem "Genauso möglich":

Hier hast du ja das Verb verändert. "Käme" wurde bei dir zu "ist". Eine wandelbare Begebenheit wurde ja bei dir dann zu einem Zustand -> Nochmal eine neue Ebene^^

Schön, dich ins Grübeln gebracht zu haben. Kann ich nur zurückgeben! ^^

Ich würde sagen, wir warten mal ab, bis Spaetschreiber sich mal von seinem Lachanfall, hervorgerufen durch unsere wilden Interpretationen, wieder erholt hat und uns ein wenig die richtige Richtung bei der Weggabelung der tausend Möglichkeiten zeigt^^

Bin schon sehr gespannt :D

Mit rauchendem Kopf und einem Lächeln auf den Lippen,
Christine
 

HerbertH

Mitglied
Hallo,

ich lese das als Reue, etwas Falsches zu Papier gebracht zu haben, in Druck gehen zu lassen. Da hätte man aus dem Holz besser Bauholz als Papier gemacht....

:D

Wilde Deutung, oder?

lG

Herbert
 

JackoF

Mitglied
Hallo Christine,

Ich würde sagen, wir warten mal ab, bis Spaetschreiber sich mal von seinem Lachanfall, hervorgerufen durch unsere wilden Interpretationen, wieder erholt hat und uns ein wenig die richtige Richtung bei der Weggabelung der tausend Möglichkeiten zeigt^^

Bin schon sehr gespannt
Mit rauchendem Kopf und einem Lächeln auf den Lippen,
Ich stimme Dir komplett zu :))))))

Aber nun Hallo !!!!!!!!!!!!
-------------------------------

Hallo Herbert,

ich lese das als Reue, etwas Falsches zu Papier gebracht zu haben, in Druck gehen zu lassen. Da hätte man aus dem Holz besser Bauholz als Papier gemacht....
Mensch Meier - das ist aber eine Top Deutung von Dir, also wirklich :)

Auch möglich "Druck" als direkter Aufdruck - ja, ja....
Nur hätte ich
auch hierzu ein Deutungsproblem,
was dieses am Ende "in Ruß und Öl zu baden" zu bedeuten haben könnte ???

Ungeachtet dessen - echt guuuut von Dir, dieser Deine Ansatz.

Nun bin ich ja noch mehr gespannt auf Spaetschreiber ;)

Euch beiden,
Christine und Herbert, wieder ein Tschüss,
klar Dir auch Spaetschreiber :)), Jacko

--
 

Mäuschen

Mitglied
Oje oje... Ich wollte ja erst wieder auf Spaetschreibers Kommentar warten... Aber das ist einfach zu genial, um übergangen zu werden!

Herbert! Ich werd verrückt! Das is GENIAL! :D Ich und Jacko heben ab in fremde Dimensionen und du schreibst es klar in einem Satz auf xD
Klingt für mich auch total logisch... Unter "Druck" habe ich mehr das Zu-Papier-Pressen verstanden. Ich denke, das "Ruß und Öl" bezieht sich

entweder: Auf das Bauholz machen, wie Herbert meinte.
oder: Auf paenitentia. (Ich denke da an Asche auf sein Haupt streuen, wenn man in Trauer ist.)

Ich bin jetzt jedenfalls schon hin und weg von dem Gedicht. Egal, wie Spaetschreiber es sich gedacht hat - Alles macht irgendwie Sinn - Hammer *daumen hoch*

Euch grüßt alle drei herzlichst,
Christine
 
Ihr Lieben, es gibt sie also doch noch, die guten Kommentare! Ich bin froh. Für alle eure Gedanken danke ich sehr.
Hier nun mein Statement dazu:


paenitentia

Da lag es nun. Drei Jahre Arbeit, vierhundert Seiten, geschätzte 150.000 Wörter. Fertig! Ok, ein paar wird Sägebrecht schon noch rausschmeißen. «Optimieren», nennt er das. Es wird ein Kampf sein, wie immer. Hassen werden sie sich, anbrüllen, wieder vertragen und am Ende in den Armen liegen. Vielleicht!

Die aufgehende Sonne schluckte gerade die Reste der Nacht, als Martin zum Fenster ging, es öffnete und die schlechte Luft aus seinem Arbeitszimmer in die Welt entließ. Es lag wieder eine dieser Zweihundertzigarettennächte hinter ihm. Die Letzte vorerst. Er wusste was gleich kommen würde, denn es war immer so gewesen in den letzten drei Jahren, immer dann, wenn er wie vom Teufel besessen auf seiner alten «Continental» die ganze Nacht seine Gedanken in die Maschine gehämmert hatte. Bernhard W. würde Punkt sechs auf dem Weg zur Arbeit die Treppen herunter stampfen, mit den Fäusten an seine Tür schlagen und sich für den Lärm der Nacht, der klappernden Buchstabensetzmaschine, lautstark beschweren. Martin würde nicht öffnen, das hatte er sich seit ein paar Jahren abgewöhnt. Manchmal, wenn sich beide zufällig im Treppenhaus begegnen, wird er von Bernhard angebrüllt, auch schlägt er ihm, wenn es mal wieder ganz schlimm und ganz lang war, seine Faust in den Magen. Ja, so ist es immer, seit Jahren schon und für beide ist es das ganz normale Leben. Martin liegt dann bekotzt im Treppenhaus, er muss sich immer übergeben, wenn ihm jemand zu nahe kommt oder sogar körperliche Gewalt anwendet und Bernhard geht fluchend in seine Wohnung. «Zieh dort endlich aus!», sagt ihm jedes mal Sägebrecht, wenn sie sich treffen. Manchmal kreuzt er sogar bei Martin zu Hause auf, natürlich nur um nach ihm zu sehen, sagt er, Pah, antreiben will er ihn, Menschlichkeit heuchelt er und will doch nur eins, nämlich dass er fertig wird, endlich fertig wird.


Nun ist es also soweit, von Sägebrechts Besuchen wird er verschont bleiben. Von nun an treffen sie sich zweimal die Woche beim Lektorat und streiten um Formulierungen, Worte, um Ansichten und Blickwinkel, so war es immer und so wird es auch immer bleiben, falls Martin nicht eines Tages von Bernhard W. so verprügelt wird, dass er nicht mehr hochkommt auf der Treppe.


Drüben in Schuberts Landbäckerei brannte schon das Licht im Verkaufsraum, noch fünf Minuten, dann ist es sechs und Helga würde die Tür aufschließen, ihm von unten zuwinken, er würde zurückwinken und auf Bernhard warten, auf seine Schritte und auf sein Hämmern an der Tür.

Die Luft in seinem Arbeitszimmer war besser geworden und schon wieder rauchte Martin am Fenster stehend eine von seinen tausend letzten Zigaretten. Er hat sich Mark Twains Ansicht zum Rauchen abgewöhnen verinnerlicht. Der sagte einmal: «Rauchen abgewöhnen ist doch kein Problem, ich hab das schon zweihundert Mal gemacht.» Gerade dachte er daran und lächelte. Für einen Moment stand die letzte Rauschwade vor dem Fenster fast unbeweglich wie eine Kumuluswolke, kein Wind wehte und Martin schnippte die Kippe mitten hindurch. Sein Husten wollte einfach nicht besser werden.

Es war wie immer Punkt sechs, als drüben die Jalousie von der Eingangstür der Bäckerei hochgezogen wurde, Helga ihm freundlich winkte, er kurz die Hand hob und das Fenster schloss. Synchron mit diesem dumpfen Ton flog eine Etage über ihm die Wohnungstür von Bernhard W. auf und krachte anschließend sofort wieder ins Schloss. Zwei Absätze, vierundzwanzig Stufen und jeden einzelnen Schritt zählte Martin lächelnd mit. Dann rumste es an seiner Tür. Faustschläge und eine wütende Bernhard Stimme brüllte sich die Seele aus dem Leib, aber nur kurz, denn etwas Schreckliches passierte. Martins Tür flog auf, das Schloss hatte nachgegeben und aus dem Lächeln auf Martins Gesicht wurde ein erschrockenes Staunen. Vier stampfende Schritte hörte er und dann stand sein Obermieter mit roten Backen im Türrahmen seines Arbeitszimmers. «Hast du Vollidiot noch alle!», brüllte der und erstarrte gleichzeitig, als er sich mit flackernden Augen im Zimmer umschaute. «Was ist das denn hier?» murmelte er mehr zu sich selbst vor sich hin. Martin stand noch immer am Fenster und hatte den Störenfried genau im Blick. Gleich würde er rüberkommen und zuschlagen, dachte er sich. Aber er tat es nicht. Er sah sich nur um, machte einen weiteren Schritt in den Raum und drehte sich um die eigene Achse. «Das ist ja wie …».

Martin versuchte sich vorzustellen, was in Bernhard gerade vorging. Seine Wohnung hatte er noch niemals betreten, wusste nichts von seinem Beruf, wusste nichts von dem Leben desjenigen, der unter ihm wohnte und nachts diesen schrecklichen Lärm mit der Schreibmaschine veranstalte. «Was sieht der gerade, was denkt der, was geht in dem denn vor?», dachte sich Martin und ließ Bernhard nicht aus den Augen.

Vor ein paar Jahren hatte Martin die beiden Zwischenwände zu den anderen Zimmern heraus gerissen und Regale einbauen lassen, zweireihig. Vom Wohnzimmer aus konnte man durch drei Zimmer in schmalen Gängen laufen, die bis unter die Decke mit Büchern vollgestopft waren. Fast vierzig Jahre Sammlertätigkeit und Hunderte Kilo von Papier auf ca. 90 m² Arbeitsraum waren ein wirklich beeindruckender Anblick. Das war damals, da wohnte noch die alte Frau Schwandt über ihm. Ach wie oft sehnte er sich in diese Zeit zurück. Sie war alt und fast vollkommen taub. Probleme mit Lautstärke hatte die Dame, die früher einmal Tänzerin im Moulin Rouge in Paris war niemals. Sie hatten sich immer gut verstanden, auch wenn sie sich ständig anbrüllen mussten. Dann aber starb sie und dieser Bernhard zog über ihm ein. Für jemanden der wahrscheinlich nur ein einziges Buch zu Hause hat, wohlmöglich nur das Sparbuch, musste dieser Anblick ein wirklicher Schock sein.

«Hast du hier ne Bibliothek oder was?», fragte Bernhard in den Raum hinein, ohne auch nur einen Blick auf den Wohnungsbesitzer zu werfen und ging langsam durch die Regale. «Red schon Mann, oder biste Schriftsteller?» Diesmal schaute er hinter einem Bücherstapel hervor, musterte irgendwie neugierig und mit einem Anflug von Respekt Martin, der immer noch am Fenster hinter seinem Schreibtisch stand und nicht wusste, wie er sich verhalten solle. Er nickte.
«Und was schreibste so?» bohrte Bernhard weiter und zog ein Buch aus dem Regal. «Nichts anfassen!», zischte Martin und erschrocken schob Bernhard wie automatisch das Buch zurück. «Bücher eben», sagte Martin fast ein wenig gequält und ärgerte sich, dass ihm dieser Prolet eine Antwort entlockt hatte. «Aber die haste nicht alle geschrieben, oder?» Bernhard grinste und strich mit der Fingerspitze über einen alten Band von Hugos «Der Glöckner von Notre Dame». «Dit kenn ick», sagte er und ging auf Martin zu. Wie automatisch wich der ein Stück zurück. Nur der Schreibtisch war noch zwischen ihnen, insgesamt vielleicht 3-4 Meter. «Mit diesem Ding machste den Lärm, oder?», er deutete auf die Schreibmaschine und erwartete gar keine Antwort, krachte in den Stuhl davor und beobachtete Martin.

«Watte so schreibst hab ick dir jefracht!», sagte Bernhard wieder und bohrte seinen Zeigefinger zwischen die Tasten der Schreibmaschine um einen Papierschnipsel heraus zu angeln der dazwischen lag. «Romane», erwiderte Martin leise und ließ das Manuskript, das direkt neben der Maschine lag, nicht aus den Augen.
«Wer ist Gabriela?», Bernhard hatte sich über das Titelblatt des Manuskripts gebeugt, berührte es aber nicht. «Ist das dein neues Buch?» Martin nickte und dachte nur daran, wie er aus dem Raum fliehen konnte. «Worum geht's denn da?», wieder schaute Bernhard in Martins Augen und lehnte sich zurück. «Ach, eine lange Geschichte», sagte Martin und winkte ab.

«Wenn du mir nicht sofort sagst, worum es geht in dem Buch, brech ich dir den den Arm, das kannste glooben, gehst mir die janze Nacht mit deinem blöden Husten und dem Geklapper auf den Sack, sodass ich nicht einpennen kann, und willst mir jetze nicht sagen, worum dit geht? », seine Blicke durchbohrten Martin und hatten eine Entschlossenheit, die Martin so nicht kannte. Er überlegte welche Verhaltensweise jetzt angebracht wäre und fürchtete sich ein wenig. Er entschloss sich zu antworten und sagte: «Ok, ich machs kurz, es geht um Mädchen aus Rumänien», setzte sich auf die Fensterbank, steckte sich eine Zigarette an und begann zu erzählen.

«Die Geschichte spielt Anfang der Achtziger Jahre in Rumänien. Am Schwarzen Meer, genauer gesagt. Gabriela arbeitete in den Ferien als Aushilfskellnerin in den Touristengebieten, sie verknallte sich in einen Ausländer, einen Deutschen. Die beiden kamen sich näher und landeten irgendwann auch gemeinsam in einem Hotelzimmer. Zu damaliger Zeit aber hatte die Securitate auf alles ein Auge. Denunziantentum war weitverbreitet und so kam es, dass in ihrer zweiten Liebesnacht, der rumänische Geheimdienst die Zimmertür aufbrach, Gabriela an den Haaren, vollkommen nackt aus dem Zimmer schleifte, sie in ein bereitstehendes Auto warf und davon fuhr. Dem Touristen hatte man, weil man internationale Verwicklungen befürchtete, nichts getan. Nicht ein einziges Wort hatten sie bei der Festnahme gesprochen und alle Recherchen von Gabrielas Freund in den nächsten Tagen blieben erfolglos. Irgendwann flog er verzweifelt zurück in sein Heimatland. Gabriela aber warf man in Konstanza, einer Hafenstadt direkt am Meer ohne Prozess, ohne Anhörung ins Gefängnis. Siebzehn war sie, siebzehn Jahre alt. Sie konnte von dort aus niemanden informieren, ihren Arbeitgeber nicht, ihre Eltern nicht und auch die Kollegen versuchten vergeblich ihren Aufenthaltsort herauszufinden. Gabriela selbst war sechs Monate lang eingesperrt und wurde während dieser Zeit gequält, geschlagen und vergewaltigt, manchmal mehrmals täglich. Man hatte ihr den Kopf geschoren, ihr ein paar Lumpen zum drüberstreifen gegeben und zwang sie täglich zwanzig Mal die rumänische Nationalhymne zu singen, während sich die Gefängniswärter über sie hermachten. Sie wurde still, sprach bald kein einziges Wort mehr, ertrug alle Schläge und Demütigungen und wurde nach sechs Monaten einfach auf die Straße geworfen. Natürlich nicht, ohne ihr vorher anzudrohen, wenn sie etwas in der Öffentlichkeit preisgeben würde, sie sofort töten zu lassen. Gabriela nahm es hin, antwortete nicht, setzte sich in die Bahn und fuhr nach Hause zu ihren Eltern. Aus Siebenbürgen kam sie, aus Brasov, Kronstadt hieß es früher. Dort wohnte sie in einem Neubaugebiet in der obersten Etage. Ihr Vater und ihre Mutter hatten sie fast gar nicht erkannt und versuchten das Mädchen, das in den ersten Wochen nur im Bett lag oder unter der Dusche stand wieder aufzupäppeln. Sie hatte abgenommen und wog gerade mal fünfzig Kilo. So verging ein weiteres halbes Jahr und noch immer hatte Gabriela kein einziges Wort gesprochen. Sie trainierte. Täglich rannte sie bis zu dreißig Mal die Treppen hoch und wieder runter, stemmte im Garten ihres Vaters zwei an einer Stange befestigte Feldsteine so lange, bis sie fast zusammenbrach, rannte wieder nach Hause und las. Sie las, was sie finden konnte über Waffen, Kampfsport Mord und Totschlag. Ihre Eltern machten sich wirklich große Sorgen, denn sie erkannten ihr Kind nicht mehr. Eines Tages war sie weg. Es war ungefähr ein Jahr später. Gabriela war zurück gefahren nach Konstanza, lauerte in irgendeiner Nacht einem bewaffneten Polizisten auf, stieß ihm von hinten in einer kleinen Gasse ein Küchenmesser mit solcher Wucht in den Hinterkopf, dass es vorn aus einem Auge sofort wieder heraustrat. Sie blieb einfach stehen, hielt das Messer fest in der Hand und sah zu, wie der Polizist vom Messer rutsche und auf tot auf die Straße klatschte. Sie nahm sich seine Ausweise und für sie die das Wichtigste; seine Waffe!

Ab dann trug sie sie ständig bei sich, suchte sich einen Job in einer Wäscherei, behauptete mit Zeichensprache, dass sie stumm sei, wurde in einem kleinen Zimmer direkt über den Waschhallen untergebracht und arbeitete von morgens um fünf bis abends um sieben. Ab dann hatte sie Freizeit und legte sich auf die Lauer. Inzwischen waren ihre Haare gewachsen, sie trug eine Brille mit Fensterglas, war ein kräftiges, sportliches Mädchen geworden und beobachtete den Eingang des Gefängnisses, in dem sie vor ein paar Monaten saß. Bewaffnet mit Zettel und Stift notierte sie sich ganz genau die Zeiten, zu denen ihre Peiniger von damals die Anstalt betraten und sie wieder verließen.

Als sie alle Daten zusammenhatte, fast einen Monat hatte sie dafür gebraucht, schlug sie zu. Inzwischen wusste sie von jedem, woher er kam, wann er kam und wohin er ging. Sieben Leute waren es, die auf ihrer Liste standen und um jeden Einzelnen kümmerte sie sich. Dem Ersten zündete sie mitten in der Nacht sein Haus an und erschoss ihn aus sicherer Entfernung, als er panisch mit einem Kind auf dem Arm aus dem Haus rannte. Das Kind töte sie gleich mit. Dem Nächsten schlug sie mit einem Stein KO, als der gerade auf einem dunklen Parkplatz in sein Auto steigen wollte. Sie zog ihn splitternackt aus, band ihn an die Stoßstange seines Wagens setzte sich selbst ans Steuer und raste mit ihm, mitten in der Nacht, als er gerade wieder aufwachte, durch Straßen und Wege solange bist sie nur noch Fleischfetzen hinter sich herzog. Ihr Vater hatte sie oft genug seinen Dacia in die Garage fahren lassen. Auch wenn sie noch keinen Führerschein besaß, konnte sie gut mit einem Auto umgehen, der Wagen war derselbe und sie hatte sogar Spaß dabei durch die Kurven zu brettern und im Rückspiegel zu beobachten wie die Reste ihres Peinigers gegen die Laternenmasten oder parkende Autos klatschten.

Den dritten zwang sie mit vorgehaltener Pistole sich ebenfalls vollkommen nackt auszuziehen und schoss dann ihr komplettes Magazin in seinen Unterleib. Seine Waffe und Munition nahm sie an sich und machte immer weiter. Wer die Morde als bestialisch bezeichnen würde, hätte untertrieben, denn der Rest ihrer Peiniger wurde ebenfalls unter unbeschreiblichen Qualen von ihr hingerichtet. Einem Schnitt sie die Kehle durch, dem Nächsten stach sie beim lebendigen Leibe die Augen aus und einen übergoss sie mit Salzsäure, die sie sich aus ihrer Wäscherei besorgt hatte. Erst dann, als sie wirklich alle erwischt hatte, fuhr sie zurück nach Hause, sprach wieder, erzählte ihren Eltern etwas von Selbstfindung und das man von Zeit zu Zeit eine Auszeit braucht und dass sie sich keine Sorgen machen sollten. Später studierte sie sogar Fremdsprachen, Deutsch und Englisch und wurde eine ganz normale Frau. Niemals stand sie unter Verdacht und doch war die Geschichte noch nicht zu Ende ...»

Martin schwieg und Bernhard saß wie versteinert hinter der Schreibmaschine und sagte kein einziges Wort. Anfangs hatte er lässig auf dem Stuhl gesessen und ein wenig Hin und Her gekippelt. Das hatte er aber bald eingestellt. Automatisch. Denn früh um halb sieben hatte er so eine Geschichte noch niemals gehört. Um diese Tageszeit war er entweder unterwegs zur Arbeit oder lag noch im Bett, wenn er Spätschicht hatte und hörte Jack und Chris zu wie sie oben, eine Etage höher versuchten, ihre Familie zu vergrößern. Er saß mit halb offenem Mund fast wie versteinert hinter Martins Schreibtisch. Martin selbst genoss den Anblick ein wenig und steckte sich schon wieder eine Zigarette an. Er wusste um seine erzählerischen Qualitäten und freute sich über das fassungslose Gesicht seines Nachbarn. Inzwischen war seine Angst ein wenig gewichen.

Das Erste was Bernhard stockend in fast perfektem Hochdeutsch fragte war: «Das steht hier alles drin?», er tippte auf den Stapel Papier direkt neben der Schreibmaschine und schaute fragend in Richtung Fenster. Wieder nickte Martin. «Mann, du bist ja ne richtige Kanone, ich wusste ja gar nicht, was du so machst, biste berühmt?» Bernhard war aufgestanden und stand wie jemand der nicht dorthin gehört mit hängenden Schultern mitten im Raum. Seine Stimme hatte sich geändert, hatte an Aggressivität verloren, ja klang schon fast unterwürfig. Er fühlte sich plötzlich klein und unbedeutend, wusste nicht so recht, was er denken sollte und kam sich, ohne selbst genau zu wissen warum, deplatziert vor. Er rückte den Stuhl vor sich wieder in eine gerade Position und hoffte, dass ihm Martin antworten würde. Martin schmunzelte in sich hinein und dachte: «Wenn der wüsste!»

Martin H. war eine Koryphäe unter den Schriftstellern Deutschlands. Er hatte alle Preise und Auszeichnungen, die wichtig und erstrebenswert für jeden Autoren sind, schon oft abgeräumt. Millionen hatte er mit seinen Büchern verdient, denn sie wurden weltweit in vielen Sprachen verlegt. Sechs Romane stammten bisher aus seiner Feder und dieser, mit dem Arbeitstitel «Gabriela», war Siebente. Nein, er musste wirklich nicht in diesem Mietshaus wohnen, er hätte es kaufen können, wenn er wollte und das Nachbarhaus und die Bäckerei von Gegenüber gleich mit. Aber Geld bedeutete ihm nichts, gar nichts. Er wollte schreiben, seine Ruhe haben und unter ganz normalen, lebendigen Menschen leben, nicht abgekapselt in irgendeiner Villa fernab von klappernden Bäckereien oder schimpfenden Nachbarn. Dort wo er wohnte, fühlte er sich ganz wohl und die Reibereien mit Bernhard gehörten zu seinem Dasein dazu. Sein Leben war ziemlich geordnet für seine Verhältnisse. Auch wenn es ihm niemals gelungen war eine Frau zu finden, war er ganz zufrieden mit dem, was ihm das Leben bot. Nur litt er schrecklich unter Selbstzweifeln, verstand oft nicht, warum überhaupt jemand seine Bücher kaufte und fand sie selbst, dann, wenn sie gedruckt waren furchtbar schlecht. Oft genug hatte er, wenn der letzte Tastenanschlag in seinem Arbeitszimmer und auch im Schlafzimmer von Bernhard verklungen war, leer und verbraucht am Fenster gestanden und sich gedacht: «Wenn es diesmal anders käme als gedacht, wenn die Mühe umsonst war, wenn die Leser das Geschriebene hassen würden, was wäre dann?» Er würde, das wusste er genau, sein Geld nehmen und die komplette Auflage des Verlages aufkaufen und eine gewaltige Bücherverbrennung veranstalten. Zerfetzen würde er jedes Blatt, zerreißen und sich selbst hassen. Er würde den Wald bedauern, von dem ein Paar Bäume ihr Leben für eine Schrottauflage geben mussten, die unter dem Druck der Maschinen, zersägt ihr Leben gegeben hatten. Allzu oft malte er sich aus, was man anstelle eines Buches daraus hätte machen können, Tische Stühle oder Stelzen für Kinder. Das wären ein paar Möglichkeiten gewesen. Stelzen ja, die würde er sich selbst wünschen, um ein wenig Distanz zu haben zu den auf der Erde herumliegenden schlechten Büchern, die bedruckt, in mühevoller Arbeit, mit Druckerschwärze durchtränkt von der Welt in Wort und Tat zerrissen worden wären. Welche sinnlose Mühe hatte er sich dann gemacht?

«Nein, nicht berühmt», log Martin.
«Druckerschwärze macht man aus Ruß und Öl, wusstest du -äh sie, wussten sie das?», Bernhard war ein wenig stolz auf diese Frage, denn als Kind hatte ihm sein Großvater, der in einer Druckerei arbeitete, dieses Wissen weitergegeben und es war irgendwie in Bernhards Kopf hängen geblieben.
«Ja, das weiß ich», murmelte Martin und schmunzelte.

Dann war für einen Moment der beiden wie eine Ewigkeit vorkam Stille im Raum, Bernhard stand immer noch beeindruckt aber wie ein Fremdkörper im Zimmer und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
«Ich muss los», sagte er und schlich in Richtung Korridor. «Wenn das Buch fertig ist, will ick och´n Exemplar haben.» Eine Antwort wartete er nicht ab. Auf dem Weg zur Wohnungstür fiel sein Blick in die ziemlich unordentliche Küche von Martin. Auf der Arbeitsplatte stand ein Messerblock. Bernhard lief ein kalter Schauer über den Rücken und fasste sich automatisch an den Hinterkopf. Kaum hörbar schloss sich Martins Wohnungstür, als er endlich ging. Nicht einmal seine Schritte im Treppenhaus konnte man hören. Martin war allein. Die ganze Begegnung hatte eine halbe Stunde gedauert.

Punkt acht Uhr stand Sägebrecht vor der Tür, klingelte und holte das Manuskript ab. Ein paar Monate später lag das Buch in den Läden und wurde ein Bestseller. Inzwischen waren Martin und Bernhard so was wie Freunde geworden. Sein Nachbar hatte ihn überredet sich endlich einen Computer zu kaufen und brachte ihm sogar bei, wie man ihn bedient. In der Öffentlichkeit prahlte er damit einen berühmten Mann zum Freund zu haben und hatte vorn in seinem Überlandbus einen kleinen Schrein aufgebaut, in dessen Zentrum, der Roman «Gabriela» von Martin V. lag. Jedem Fahrgast, der zu ihm in den Bus stieg und sein Ticket löste, machte er auf das Buch aufmerksam und zeigte die Widmung herum die ihm Martin dort hineingeschrieben hatte. Er selbst hatte es wohl schon fünf Mal gelesen. Im Internet fand er durch einen Zufall ein Gedicht und musste an Martin denken. Er druckte es aus und schob es eines Morgens still und leise unter der Tür von Martin hindurch, es hatte diesen Inhalt:


paenitentia

Wenn alles anders käme als gedacht,
würd unterschlagen werden jedes Blatt, zerfetzt!
Denk an das Holz, das aufgab unter Sägen,
Schlägen und im Regen, faulend sich
nach dem Verbuchen sehnte,
das tot dem Walde wich,
und unterlag dem Druck.
Hätt man nur Stelzen draus gemacht statt dessen
um sie wie Brückenpfeiler,
allem Hohn zum Trotz,
in Ruß und Öl zu baden.



LG an Jacko, Mäuschen und Herbert natürlich!!! :)
 

Mäuschen

Mitglied
And the winner is... :D

Schöne Geschichte, auch wenn mir dieser Martin etwas suspekt ist. Einerseits stinkreich, phanasievoll, guter Erzähler. Andererseits lässt er sich zusammenschlagen, geht nie unter Menschen, ist überheblich, sogar arrogant in Situationen, in denen er sich seinem Gegenüber überlegen fühlt.

Dann ist das Rätsel ja jetzt gelöst. Fast traurig ^^

Trotzdem stimme ich mit Martin nicht ganz überein. Man schreibt nicht nur für andere, das wäre ja furchtbar. Klar, dass man enttäuscht, nein, sogar am Boden zerstört ist, wenn andere das nicht lesen oder für schlecht befinden, an dem man jahrelang gesessen und seine ganze Zeit dafür verwendet hat. Aber dennoch schreibt man ja auch für sich selbst, sonst wäre Schreiben für mich an sich sinnlos.
Schreiben ist für mich wie Lesen - Man weiß nie, was auf der nächsten Seite passieren wird, wenn es nicht da steht ^^


Euch grüßt alle zum wahrscheinlich letzten Mal hier herzlichst,
Schreibmaus
 

HerbertH

Mitglied
wow, die Geschichte in der Geschichte ist gut, die Geschichte ist gut, das Gedicht ist gut, da stimmt jeder Millimeter Text!

An den Kommentaren arbeiten wir noch.

Ich hab jetzt übrigens auch einen PC :)
 
Danke Mäuschen, danke Herbert.
Tja, Mäuschen, jeder schreibt für irgendwas. Der eine für sich selbst, der andere für seine Geliebte (ich hatte gerade versehentlich "Geleibte" geschrieben) und ein großer Teil schreibt für alle. So ist das nun mal. Ich selbst schreibe nur für andere. Verrückt oder?

Herbert! Ich gratuliere herzlichst zu deinem PC! Ich hatte auch mal sowas. :)

LG
der
Spätschreiber
 



 
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