Paketpost 1986

3,50 Stern(e) 2 Bewertungen

Helmut S.

Mitglied
Ich inhalierte genussvoll den Geruch nach Pappkartons, einem Hauch von Diesel, etwas Staub. Es war laut. 6:30 Uhr, das frühe Sommersonnenlicht fiel bereits durch die Deckenfenster in die hohe Rutschenhalle. Die Bänder unter der Decke der Halle liefen bereits geräuschvoll. Die Pakete fuhren auf ihren Förderbändern durch den Hallenhimmel wie auf einer Modelleisenbahn. Die Weichen, die sie auf den richtigen Weg schickten, klackten laut. Dazu gaben sich die Lüftungsanlagen einige Mühe, lautstark für angeblich bessere Luft zu sorgen. Meiner Meinung nach völlig überflüssig, ich liebte diese Luft. Es war warm, aber nicht heiß, es war hell, es war sauber, es war trocken. Die Zusteller begaben sich, von den verschiedenen Eingängen der Halle kommend, zu ihren jeweiligen "Schüsseln" oder zum Zuschreibbüro. Einige ziemlich eilig, frühe Vögel, seit Jahren an die Morgenstunden gewohnt. Andere, überwiegend Schüler und Studenten, die wie ich als Sommeraushilfe beschäftigt waren, schlurften eher langsam und verschlafen über das graue Linoleum. Männer mittleren Alters, mit preisgünstigen, praktischen Sommerhaarschnitten begegneten langhaarigen Jugendlichen mit Turnschuhen. Gestandene Frauen trugen Dutt. Junge Frauen, die mit ondulierten Lockenfrisuren in Rottönen lockten oder aber lange blonde oder schwarze Haare offen trugen, was in diesem Umfeld schon eine Provokation war. Gemeinsam war diesen verschiedensten Menschen, die in der Paketposthalle wandelten, dass sie einen Arbeitsmantel trugen. Einen graublauen Kittel, der den Größeren etwa bis zum Oberschenkel, den nicht ganz so groß Gewachsen übers Knie ging. Die Frauen ließen die sieben Knöpfe meist offen, sodass, wenn sie schneller gingen, die beiden Schöße des Staubmantels von ihnen weg und hinter ihnen her wehten und ihre eng anliegenden Jeans oder ihre akkuraten blauen Röcke sehen ließen. Die Männer hatten die Knöpfe überwiegend geschlossen und trugen den Kittel etwas förmlicher, quasi als Arbeitersacco. Ausnahme natürlich die studentischen Aushilfskräfte, auch sie ließen die lange Jacke offen flattern. Nicht wenige Männer jeden Alters trugen im Sommer zum Arbeitsmantel kurze Hosen. So kurze Hosen, dass sie unter dem Arbeitsmantel nicht zu sehen waren und diesen zum graublauen Postmini machten. Zusammen mit bequemen Schuhen und groben oder auch weißen Socken oder sogar Kniestrümpfen wirkte dieser Dress bei einigen recht keck. Die Beine haarig und braungebrannt, muskulös vielleicht vom Fußball und vom Treppensteigen mit den Paketen, fühlten die Männer sich fit und attraktiv. Man merkte es ihnen an, sie grüßten Kollegen und vor allem Kolleginnen mit erhobener, etwas zu lauter Stimme und vorgereckten, mit hochgezogenen Augenbrauen kurz nach vorne gestoßenem Kinn. Das Lächeln war dabei sparsam, ein bisschen spöttisch, eher herausfordernd. In dem „Servus“ oder „Gudmorgn“ schwang ein motziges, letztlich aber ungefährliches „wuisst wos?“, ein „pass fei auf“ mit.

Über dem Herzen hatte der Arbeitsmantel eine Brusttasche, in die genau das Zustellbuch passte. Wie ein Einstecktüchlein ragte es einen Streifen breit hervor. Das Zustellbuch, das war ein schwarz- anthrazit melierter Pappendeckel, der in der Mitte gefaltet war. Von einem flexiblen Gummiband, dem, aus dem auch Haargummis hergestellt werden, wurde in dieser Mitte ein Heftchen Größe DIN A6, also Taschenkalendergröße eingeklemmt. In dieses Büchlein, das natürlich aus Altpapier hergestellt war und deshalb nicht ganz blütenweiß, sondern gräulich war, wurden die Paketsendungen eingetragen. In diesem Büchlein mussten die Kunden auch den Empfang der Pakete mit ihrer Unterschrift quittieren. An der Vorderseite, in Hüfthöhe, hatte der Staubmantel zwei große Taschen, in die in erster Linie die Hände der jugendlichen Aushilfskräfte passten. Die älteren hatten Geldbeutel darin stecken, manche auch ein Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug. Dafür wurde die linke dieser beiden bequemen Taschen auch von mir meist genutzt, ein Päckchen Rothändle oder aber, noch besser, „Salem ohne“ fand sich darin. Salem ohne war eine Marke, die es ausser in den Tabakgeschäften am Hauptbahnhof nur noch in dem Zigarettenautomat in der Kantine des Paketpostamtes gab. Mein Opa hatte Salem ohne geraucht. Das grüne Päckchen mit einer „6“ und den mir als Kind unverständlichen Worten „Heller Virgin“ auf der Vorderseite, voll gepackt mit den kompakten, dick gedrehten Zigaretten ohne Filter war mir eine wohlige Erinnerung. Er gab mir oft zwei Mark in die Hand und schickte mich zu Jeischik, dem Edekaladen zwei Häuserblocks weiter von seiner Wohnung in der Klugstraße.

„Holst eine Salem ohne, Bua“. Sagte der Opa.

In dem Moment, in dem ich dieses bekannte, zufriedene Kindertage symbolisierende grüne Päckchen im Automatenschacht im Gang zur Kantine des Paketpostamtes sah, liebte ich dieses Amt des Behagens noch mehr und ich beschloss: in der Zeit, in der ich als Paketzusteller arbeitete, würde ich Salem ohne rauchen. Wenn der Salem ohne Schacht leer war, nahm ich eben Rothändle. Die waren ähnlich stark, und hatten ebenfalls keinen Filter. Jedenfalls marschierten, stapften, schlurften, schlenderten, eilten diese gleichen Staubmäntel mit den verschiedenen Männern und Frauen darin im Paketpostamt hin und her. Sie alle mussten morgens als Erstes zur Zuschreibstelle, einem Glaskasten, in dem weitere Postbedienstete mit Kitteln saßen. Durch kleine Schalterfenster gaben sie einem am Morgen einen kleinen Stapel mit Paketkarten, dem Zustellbuch, und wenn man welche brauchte, weil sie einem ausgegangen waren, Benachrichtigungskarten sowie einem Quittungsblock, den man zum Quittieren der Zustellgebühr benötigte. Manchmal gab es noch eine oder mehrere Wertpaketkarten, das war aber selten und nervig. Die Wertpakete selbst kamen nicht durch das Bandsystem die Rutsche herunter in die Zustellschüssel gerutscht sondern wurden einzeln gegen Quittung vom Zuschreiber ausgehändigt. Sie waren lästig wichtig. So ein Wertpaket konnte die Lässigkeit eines Zustelltages schwer beeinträchtigen. Es hieß, man müsse den Wert selbst ersetzen, wenn es verloren ging oder man es falsch zustellte. Das heißt, es einer nicht empfangsberechtigten Person aushändigte. Der Wert war auf der Wertpaketkarte angegeben. Es waren meist mehrere hundert Mark. Gruselig. Ebenfalls extra Karten hatten Einschreibepakete oder Päckchen, die per Einschreiben versandt worden waren. Auch diese Sendungen wurden einem separat überreicht. Die Zusteller der Innenstadtbezirke bekamen einige davon. Dann gab es noch die Nachnahmesendungen. Für diese mussten die Empfänger sowohl die Zustellgebühr, 2,20 Mark, bezahlen, als auch einen Betrag, der der Kaufpreis für den Inhalt des Paketes war. Sobald dieser beim Paketzusteller beglichen war, konnte die Sendung ausgehändigt werden. Nachnahmen hatten ebenfalls eigene Karten und wurden dem Zusteller persönlich ausgehändigt – man nannte das „zugeschrieben“. Am Abend wurden einem die Karten mit den nötigen Vermerken und Unterschriften dann wieder „abgeschrieben“ und man war wieder ein freier Mensch. Um den je nach Zustellbezirk verschieden hohen Stapel dieser Sondersendungen zu seinem Zustellplatz, der Schüssel mit dem Tor zur Rampe davor, zu transportieren, hatte man eine postgelbe, ziemlich abgenutzte, eiernde oder auch eine recht neue, weich bereifte Sackkarre.

Ganz offensichtlich gab es in dem Paketpostamt eine kleine Anzahl von diesen Sackkarren weniger, als Zustellbezirke. Das bedeutete, wenn man nicht sehr gut auf seine Sackkarre aufpasste, war sie eines schönen Tages verschwunden. Dann machte man sich auf den Weg durch das Paketpostamt und suchte sich seinerseits eine nicht gesicherte Sackkarre. Denn ohne Sackkarre in den Bezirk hinaus zu fahren, das war Quatsch. Man konnte ja nicht alle Pakete auf dem Arm schleppen. Es gab zwei Mentalitäten von Sackkarrenbesitzern: die einen, denen die ständige Fluktuation wenig ausmachte, die Sackkarren so ähnlich ansahen, wie Kugelschreiber oder Bic Feuerzeuge. Mal hatte man keine, mal hatte man zwei, auf jeden Fall stand ihnen gefühlt immer irgendwo eine zur Verfügung. Und es gab die anderen, die ihre Sackkarre peinlich sicherten, mit einem Fahrradschloss an der Paketschüssel zum Beispiel. Oder sie sperrten sie jede unbeobachtete Minute im Zustellfahrzeug ein. Ich gehörte so lange zur ersten Fraktion, bis mir eine fast neue, wunderschön gelbglänzende Sackkarre „zufiel“. Auf diese passte ich dann bis zum Ende meiner Aushilfssaison auf.

Am Fensterchen der Zuschreibers nannte man seinen Bezirk. Meiner war der Bezirk 265. Ich hatte ihn diesen Sommer zum dritten mal. Im ersten Jahr, als ich bei der Paketpost anfing, fuhr ich mit dem Stammzusteller, beim 265er hieß er Michl, eine Woche lang gemeinsam in diesen seinen Bezirk. Er zeigte mir, wie man die Pakete in dem gelben Zustellauto, einem kastenförmigen Lieferwagen Modell Mercedes 407, am besten stapelte und verkeilte, sodass sie nicht in jeder Kurve durcheinanderflogen und man sie nochmals sortieren musste. Er erzählte mir die Besonderheiten der Hausnummerierung, erklärte mir wie mit Wertpaketen, Einschreiben, mit Päckchen und mit Katalogen zu verfahren war. Der Stammzusteller war daran interessiert, dass für die Zeit seines Sommerurlaubs ein Aushilfszusteller seinen Bezirk bediente, dem er vertraute. Denn erstens hatte er sich einen Ruf aufgebaut als zuverlässiger Zusteller, was zu mehr Trinkgeldfluss führte. Außerdem war es den Stammzustellern wichtig, dass die Hilfszusteller nicht zu schnell arbeiteten. Wenn das der Fall war, wurden nämlich manchmal Bezirkseinteiler stutzig. Es konnte dann der Eindruck entstehen, dass der Bezirk eventuell zu klein geraten war, das heißt um eine oder mehrere Straßen erweitert werden konnte. Was dann bedeutet hätte, dass der Stammzusteller in der Zeit nach der Sommerflaute, wenn das Paketgeschäft wieder anzog, und Quelle, Ottoversand, Bauer und alle anderen großen Versandhäuser ihre Katalogwellen starteten und in der Folge jede Menge Versandhauspakete zuzustellen waren, dass gerade dann der Bezirk zu groß war und der Stammzusteller viel mehr Zeit brauchte um ihn zu bearbeiten. Zu große Bezirke konnten dann zwar theoretisch geteilt werden, aber das dauerte und passierte dann oft doch nicht. Darauf war keiner scharf. Deshalb wurde den Aushilfszustellern von den Stammzustellern unter anderem eingebläut, bloß nicht zu schnell wieder zurück ins Paketpostamt zu fahren. Was dazu führte, dass an bestimmten geeigneten Stellen im Stadtgebiet ab und zu gelbe Paketpostautos standen, in denen der Fahrer nicht zu sehen war, und die sich eine halbe bis 1 Stunde nicht bewegten. Der Fahrer lag dann entweder hinten im fensterlosen Paketraum oder aber auf einer Wiese in der Nähe des geparkten Paketpostautos und hielt ein Mittagsschläfchen. Denn vor zwei, halb drei Uhr sollte man sich im Paketpostamt nicht wieder blicken lassen.

Ich bekam an diesem Tag nur zwei Einschreibepakete, keine Wertpakete, keine Nachnahmen, ein Glück, der Tag war gerettet. Mit meinem Zustellbuch in die Brusttasche des Staubmantels gesteckt schlenderte ich gemessenen Schrittes zur Zustellschüssel des Bezirks 265. Der erste Blick am Morgen in diese Wunderschale der Pakete war immer ein ganz spannender. War die Schüssel nur bodenbedeckt voll, hatte man einen angenehmen Tag vor sich, stapelten sich die Pakete, und waren einige schon über den Rand gepurzelt, konnte es nachmittags schon länger dauern. Unschön war es, wenn der Paketstau bis weit die Rutschenspirale hoch reichte oder aber einer der Nachtarbeiter bereits die Schüssel teilweise leeren hatte müssen und den ersten Schwung Pakete neben derselben aufgestapelt hatte. Dann konnte man damit rechnen, dass man im Bezirk draußen „absoff“, wie das genannt wurde, war man vor lauter Sendungen weder ein noch aussah. Die Zustellschüssel war alles im allem etwa 4 m lang, und 1 m 50 breit. Die Schüssel und die spiralförmige Rutsche, auf der die Pakete von dem Förderbandsystem unter der Decke herab rutschten, war weiß und aus einem sehr angenehmen, glatten hartweichen Kunststoffmaterial, auf dem die Pakete sehr gut gleiten konnten. Ähnlich, wie die Kinder in den Spiralen der Wasserrutschen im Alpamare. (Vorausgesetzt sie hatten Badehosen aus dem richtigen Material an, die groß genug waren, dass sie nicht auf der nackten Haut rutschten, was bekanntlich ziemlich schmerzhaft bremsen konnte.) Ich fand diese Paketschüssel einen ganz und gar angenehmen Gegenstand. Wie ein großes, freundliches Tier, das einem großzügig die Pakete und Päckchen zur Entnahme anbot. Die glatte, helle Oberfläche fühlte sich fantastisch an, fast wie die Haut eines Delphins. Oder so, wie ich mir die Haut eines Delphins vorstellte. Mein Schulfreund Norbert, der ebenfalls jahrelang in den Semesterferien bei der Paketpost jobbte, hatte diese Schüssel bereits als Bett benutzt. Er war bei einem abendlichen Kneipenbummel irgendwo in der Stadt versackt, fand kein öffentliches Verkehrsmittel mehr nach Hause und begab sich kurzerhand ins Paketpostamt, wo er sich in seine Zustellschüssel legte. Die warme Luft und die beständigen Geräusche der Paketförderanlagen bescherten ihm einen dermaßen wohligen Schlaf, dass er nicht einmal durch die herab rutschenden Pakete gestört wurde, die sich an seinen Seiten und Füßen anstellten und aufstauten, so als wäre er einfach das erste Paket, das in dieser Nacht hier aufgelaufen war.

Soweit ging meine Liebe zur Paketschüssel nicht, dennoch war sie mir an diesem Morgen schon wieder sehr sympathisch wegen der übersichtlichen Anzahl von Paketen und Päckchen, die ich darin liegen sah. Es befand sich ein Riesenpaket darunter, vielleicht ein Schuhregal im Stück, das ich als erstes einmal heraushob zur Seite stellte. Ich schob die große Schiebetür auf, die zur Rampe hinaus führte. Vor der Rampe stand der zu diesem Bezirk gehörende 407er. Ich sperrte die rückwärtigen Flügeltüren auf, klappte sie ganz zur Seite und begann die Pakete in den Wagen zu räumen. Der Bezirk 265 hatte, wie die meisten Bezirke, alles in allem etwa 20 Straßen, wobei sich die meisten Pakete auf die 3-4 größeren konzentrierten. Das Paketauto hatte keinerlei Regale oder sonstige Unterteilungen. D. h. man stapelte die Pakete am besten straßenweise. Dabei war es wichtig, dass keine Lücken entstanden, sondern dass die Pakete alle mehr oder weniger irgendwie ineinander verstaut, verschränkt und verschachtelt waren, dass die Umfallwahrscheinlichkeit auf der Fahrt in den Bezirk am geringsten war. Dass kein Stapel umfiel passierte selten, die Frage war: wie groß war das Ausmaß des Durcheinanders, wenn man im Bezirk ankam.

Ganz fein war, dass das Zustellauto nach vorne zum Fahrersitz hin offen war. Ein Beifahresitz war in der Regel zwar in manchen vorhanden aber nach vorne weggeklappt. Das heißt man konnte von seinem Fahrersitz aufstehen, sich nach hinten drehen, zwischen der Ladung umhersteigen und schließlich an der Schiebetür auf der Beifahrerseite aussteigen. Alles in einem Raum, alles beieinander, wie ein ganz famoses Packerlwohnmobil für die Zusteller.

Die Sendungen passten im August immer ganz locker in das Auto. Das Problem war eher, dass zu viel freie Fläche blieb, um die Sendungen gut zu verstauen. In der Vorweihnachtszeit, so erzählten die Stammzusteller, reichte der Platz oft nicht. Dann musste man nach einem voll mit Paketen gepackten und nach Stunden abgearbeiteten Auto zurück ins Paketpostamt fahren und ein zweites Mal laden. Das blühte den Aushilfszustellern im Sommer nicht.

Sobald alle Pakete aus der Schüssel im Auto verstaut waren, verkeilte ich noch die zwei Stapel „Stösserstraße“ und „Wintersteinstraße“ gegeneinander mit der Sackkarre, schloss die Türen des Lieferwagens noch einmal und machte mich auf den Weg zur Kantine. Man sollte nicht vor 8:30 Uhr bei den Kunden klingeln, also nicht vor 8:00 Uhr das Paketpostamt verlassen. Es war 7:35 Uhr, es blieb mir also noch fast eine halbe Stunde für ein gemütliches Frühstück. Also wieder zurück durch die Schüsselhalle vorbei am Zuschreibbüro durch das Hauptgebäude, über den Ladehof auf dem die gelben Laster für das Münchner Umland an den Rampen standen, vorbei an dem Zigarettenautomaten, der Salem ohne enthielt, zur Kantine. Der Gastraum der Kantine war riesig und ebenfalls laut. Hier hörte man zwar nicht die Geräusche der Paketförderanlagen aber dafür die Gespräche der munter frühstückenden Zusteller. Es gab Tische, an denen Gruppen saßen, die jeden Morgen in der gleichen Zusammensetzung zur selben Uhrzeit an diesen Tischen saßen. Nicht wenige hatten ein Weißbier vor sich stehen, bei zwei Gruppen, die aus fidelen Damen bestanden, stand sogar eine Flasche Sekt auf dem Frühstückstisch. Irgendeine hatte wohl immer Geburtstag. Die meisten tranken aber doch eine Tasse Kaffee, so wie ich und aßen irgendein belegtes Brötchen. An den Weißbiertischen wurde die halbe Stunde bis zum Hinausfahren in den Zustellbezirk bereits für eine schnelle Runde Schafkopf genutzt. Es war eine unvergleichliche Atmosphäre. Kartenspielen, Biertrinken, diskutieren, schnattern, anstoßen, Tassengeklimper. Und dennoch war es völlig anders als etwa abends in einer Wirtschaft. Den Leuten saß der bevorstehende Arbeitstag natürlich schwer im Nacken. Noch ließ er sich eine halbe Stunde überlisten, auf Abstand halten. Die Stimmung war nicht entspannt, eher aufgeregt, teils fröhlich, teils gereizt: Pack ma’s.

Es gab zwei grundverschiedene Arten, wie man den 407 fuhr. Die erste Fahrweise war die morgens aus dem Paketpostamt durch die Stadt zum Zustellbezirk. In meinem Fall dauerte das etwa 20 Minuten, es war August, Ferienzeit, der Autoverkehr in München war deutlich luftiger als zum Beispiel im September oder Oktober. Die Morgenfahrweise bedeutete, dass man die Kupplung streichelsanft kommen ließ, dass man beim Schalten mit dem fast dem einen Meter langen, schwarzen Schalthebel, der in einer Gummimanschette im Fahrzeugboden steckte, versuchte keinerlei Ruck entstehen zu lassen. Dass man ganz langsam Geschwindigkeit aufnahm um den groben Lieferwagen gegebenenfalls auch ganz sanft wieder ausrollen lassen und herunter bremsen zu können. Die Kurven wurden in geringstmöglicher Geschwindigkeit genommen, Spurwechseln nur wenn unbedingt nötig vorgenommen, und überholt wurde überhaupt nicht. Das Ganze mit dem Ziel, die Paketstapel im Gepäckraum möglichst geordnet zum Bezirk zu bekommen. Im Verlauf des Zustelltages konnte man dann immer ein kleines bisschen freier in seiner Fahrweise werden, wenn die ersten Paketstapel bereits abgebaut waren und man die Sendungen ordnen konnte und man ganz generell schon einen Überblick hatte, wie viele ungefähr noch zuzustellen waren wie viel schon geschafft war. Auf dem Rückweg dann verwandelten sich die 407er in untermotorisierte, hochtourig gefahrene Renncontainer, die qietschend und röhrend Richtung Paketpostamt stoben.

Man brauchte für das Postauto einen eigenen Führerschein, den Postführerschein. Dazu absolvierte man einmal, bevor man das erste Mal bei der Deutschen Bundespost ein Fahrzeug fuhr, eine Fahrstunde und eine theoretische Prüfung in der Postfahrschule, einem urgemütlichen Aussenposten der Bundespost in einem aufgelassenen Kasernengelände im Hinterhof. Die Post musste ihre Fahrer eigens prüfen, weil ihre Fahrzeuge nicht versichert waren. Die Post bezahlte im Falle eines verschuldeten Unfalls selbst.

Ich hielt in der Grohmannstraße an. Seitlich an der Einfahrt zu einigen Parkplätzen war gerade genug Platz, den Postmerzedes abzustellen. Es fand sich immer irgendwo ein Plätzchen, das Auto so abzustellen, dass nicht irgendeinen Fahrweg blockiert war. Es sah von außen bullig aus, offensichtlich war es im Rahmen der Dimensionen der Stadtplanung doch nur ein kleines Hindernis. Halteverboten, Feuerwehrzufahrten oder ähnlichem Schnickschnack durfte man natürlich keine Beachtung schenken, sonst klappte das nicht.

Ich nahm ein längliches Paket von Reno heraus. Irina Rankovitsch, Grohmannstraße 5. Ich sprang aus dem Postauto durch die erwähnte Seitentür, die sich mit dem senkrecht stehenden Handgriff relativ schwer aufschieben ließ. Von außen schubste ich sie wieder zu. Schnellen Schrittes, aber nie uncool rennend, legte ich den Weg bis zur Hausnummer 5 zurück. Ich klingelte. Ich fing an, stumm zu zählen. Bei zwölf summte der elektrische Türöffner. Ich drückte die Haustür mit der Schulter auf, auf den zweiten Ruck hin gab sie nach. Frau Rankovic wohnte im zweiten Stock. Ich nahm je zwei Stufen auf einmal, der offene Mantel schlenkerte gegen das Geländer. Im zweiten Stock hatte Frau Rankovic die Wohnungstür einen Spalt geöffnet und lugte heraus. Am Postmantel und einem Paket erkannte sie sofort die relative Ungefährlichkeit des Klinglers und öffnete die Tür.

Sie hauchte ein besorgtes „ach ja“ hervor.

Es fiel ihr in diesem Moment ein, dass sie vor einigen Tagen angesichts des glänzenden Renoschuhkataloges schwach geworden war und ein paar Pumps, Sandalen oder gar Stiefeletten geordert hatte. Nun kamen diese Traumschuhe in der Realität an, gebracht vom arbeitsmanteltragenden Postler. Nun wurden sie berechnet, mussten bezahlt werden, und es musste sich erst noch herausstellen, ob sie wirklich so schön waren wie in dem Glanzkatalog. Ich stellte das Paket zunächst auf den Boden vor der Haustür und nahm mit der rechten Hand das Zustellbuch mit dem Kugelschreiber aus der Brusttasche auf der linken Seite. Ich blätterte das Zustellbuch auf, das erste Paket am heutigen Tag. Rankovic schrieb ich in die Spalte, drehte das Büchlein herum und hielt es Frau Rankovic zusammen mit dem Kugelschreiber hin. Sie unterschrieb, den Blick immer noch besorgt auf das Paket gerichtet.

„Das macht dann 2,20 DM“ sagte ich, während ich aus der seitlichen Staubmanteltasche bereits den kleinen Quittungsblock fischte und darauf 2,20 schrieb sowie meine Unterschrift.

Frau Rankovic drehte sich mit einem weiteren „ ach so“ in ihrer Wohnungstür um, und verließ den Türbereich. In ihrer Küche hörte ich sie in Schubladen oder Schachteln gruscheln. Mit 2,50 DM in der Hand kam sie zurück.

„Stimmt so“ sagte sie und übergab mir das Geld.

Ich nahm die drei Münzen mit der rechten Hand entgegen, sagte „oh, vielen Dank!“ und ließ sie in die Staubmanteltasche rutschen. Ich hob das Paket vom Boden auf, und gab es ihr zusammen mit der Quittung für die 2,20 DM.

Sie nahm das Paket entgegen, sagte „danke, auf Wiedersehen“.

Sie sah dabei die ganze Zeit trüb auf das sorgenbehaftete Paket, auf den Adressaufkleber mit ihrem Namen. Die kognitive Dissonanz hatte sie in den Schwitzkasten genommen. Langsam schloss sie die Tür. Ich war schon wieder auf dem Weg die Treppe hinunter, die Haustür hinaus zurück zum gelben Postkaufsorgenzustellauto. Die seitliche Schiebetür auf, Hineinspringen, Fahrersitz erklimmen, Schlüssel rein stecken - weiter gehts.

Die Zustellgebühr für ein Paket betrug 2,20 DM, das bedeutete, dass man sehr oft dreißig Pfennige, manchmal 80 Pfennige Trinkgeld bekam. Bei zwei Paketen, 4,40 DM Zustellgebühr, war das Trinkgeld meist sechzig Pfennige und so fort. Das galt jedenfalls für Bezirke wie den 265er. Hasenbergl. Eins der Viertel in München, die keinen guten Ruf hatten. Es gab hier überwiegend Sozialwohnungsbauten, sehr viele ehemalige Gastarbeiter und ihre Nachkommen, und in der Wintersteinstraße eine zahlreiche Bevölkerung von Sinti und Roma. Diese Gegenden waren in Bezug auf Trinkgeld Goldgruben. Es war ganz offensichtlich ein Naturgesetz: je weniger Geld die Leute selbst besaßen, desto freigebiger waren sie. Oder desto besser konnten sie sich vorstellen, wie bedeutsam, wie erfreulich dreißig Pfennig Trinkgeld für Einen waren, der ähnlich überschaubar verdiente, wie sie selbst. Im Bezirk 265 kam selbst in der ruhigen Sommerzeit jeden Tag etwa ein Betrag von 20 DM zusammen. Das hieß, alles was ich nach der Arbeit abends oder am Wochenende ausgab, konnte ich immer von dem Trinkgeld bestreiten. Der Lohn, der am Monatsende ausbezahlt wurde, musste dafür überhaupt nicht angetastet werden. Das war einer der fantastischen Vorteile dieses Studentenjobs. Allerdings gab es auch zu Stadtbezirke, bei denen nahezu überhaupt kein Trinkgeld anfiel. Ich hatte einmal einen Einserbezirk zu bedienen. So hießen die Bezirke mit den Nummern 100-199. Sie befanden sich in der Innenstadt. Dieser Bezirk umfasste hauptsächlich die Residenzstraße, gegenüber des Nationaltheaters. Dort befanden sich feine Geschäfte wie der weltbekannte Schneider Dietel oder das Maßschuhgeschäft Eduard Meyer und andere edle Boutiquen und Parfümerien. In den Obergeschossen Anwaltskanzleien, Zahnarztpraxen und Notariate. In diesem Bezirk gab niemand Trinkgeld. In einer der Boutiquen war es einer der Verkäuferin unangenehm, sich von mir die 0,30 DM Restgeld auf 2,50 DM herausgeben lassen zu müssen.

Sie sagte, sie könne es mir nicht passend geben, denn „braunes Geld haben wir hier nicht“.

Die Frage, was sie mit den drei Zehnerln Rest Geld, die ja ganz offensichtlich braunes Geld waren, machen würde, diese Frage blieb für immer offen im marmornen Ladenportal stehen. Gerechterweise sollte ich anmerken, dass Bedienstete in Betrieben, sei es ein Notariat, sei es eine Boutique, natürlich nicht immer frei darin sind, einem Zusteller Trinkgeld zu geben. Im Ergebnis ist für Paketzusteller klar: je ärmer die Kunden, desto höher das Trinkgeld und umgekehrt.

Ich kam in die Wintersteinstraße. Ein wildes, auf eigentümliche Weise eher ländliches Gebiet. Hier war die Außenanlage spärlich. Die Wege und Parkplätze gingen ineinander über und waren grob geteert. Daran schlossen sich Wiesen an, die von Trampelpfaden durchzogen waren und in denen nebst Kinderspielzeug auch diverse Mülltüten, Bierkästen von Augustiner, leere Kinderwägen und andere Dinge herumstanden und lagen. Hinter der Wintersteinstraße endete die Stadt. Es kam ein lichtes Wäldchen aus hochgewachsenen, alten Föhren. Durch diese hohen, nur weit oben grünen Bäume, die in dieser Gegend eigentlich sehr selten waren, schien die Sonne auf die 40 Jahre alten, ungepflegten, schmucklosen Sozialwohnungsblocks. Die Haustüren standen hier offen soweit sie vorhanden waren. Die Schlösser waren meist kaputt, die Briefkästen chaotisch beschriftet und beklebt, zum Teil aufgebrochen zum Teil noch intakt. In den Treppenhäusern stank es nach Müll, nach Rauch, manchmal noch Schlimmerem. Zwischen den Blocks spielte eine kleine Gruppe von vielleicht 6-7 Kindern, die in den Ferien natürlich nicht weggefahren waren. Als sie den Paketzusteller erspähten, erklang ein fröhliches „Paket,Paket!“ Sie liefen mir entgegen und begleiteten mich lachend und spöttelnd zum Treppenhaus der Frau Waltl, Wintersteinstraße 56. Hier brauchte ich nicht zu klingen, Frau Waltl war immer zu Hause. Neben der Haustüre kündigte ein Plakat ein Konzert des „Titi Winterstein Quartett“ an. So wunderbare Namen hatten die Sinti. Romani Rose hieß ihr langjähriger Sprecher. Pure Poesie. Ich hatte drei Pakete und ein Päckchen für Frau Waltl. Ich lief zum zweiten Stock hinauf, wo ihre Wohnungstüre angelehnt war. Aus ihrer Wohnung roch es noch intensiver als im Treppenhaus. Sie hatte wohl gerade schon das Gemüse für ihr Mittagessen auf dem Herd stehen.

Ich klopfte und sagte laut „guten Morgen!“

Von innen erscholl ein „komm schon.“

Frau Waltl erschien in ihrer Wohnungstür.

Wie jedes mal, wenn Frau Waltl Post bekam, also mehrmals in der Woche, musste ich auf ihren Bauch starren. Frau Waltl war vielleicht 55 Jahre, trug eine geblümte Hausfrauenschürze, hatte prallgefüllte Wasserbeine in karierten Herrenpantoffeln stecken und eben diesen kuriosen Bauch. Er war nicht wirklich dick sondern spitz. Wie wenn ein Ball oder besser eine Gurke ihre Schürze über ihrer Körpermitte aufspannen würde, wie ein Zelt. Adipositas war das nicht. Schwanger konnte sie auch nicht sein. Also blieb als Erklärung nur ein Gewächs, unfreundlich lateinisch ein Tumor also, welcher Art auch immer. Frau Waltl schien es nicht zu stören. Ich fragte mich, ob sie nächsten Sommer wohl noch da sein würde. Ich hoffte es, nicht allein wegen des Trinkgeldes, ehrlich. Obwohl: 3 Pakete, 6,60: 3,40 Mark Trinkgeld gab diese unförmige Katalogstammkundin.

Ich verabschiedete mich fröhlich (insgeheim etwas besorgt) und eilte am Titi Winterstein Quartett und den „Paket, Paket“ Kindern vorbei, zurück zum Postauto.

Gegen Mittag hielt ich bei einem Metzger und holte mir eine Leberkässemmel mit mittelscharfem Senf. Die aß ich zurückgelehnt auf dem Fahrersitz und blätterte in einem der Kataloge, die heute noch zugestellt werden mussten. Ein „Otto“, denn die waren nicht verschweißt und hatten die besten Dessous-Seiten.

Nachdem gegen 14:00 alle Sendungen abgegeben waren oder zumindest mit „ben“ beschriftet wieder im Wagen lagen (die Empfänger waren nicht da gewesen und hatten eine „Ben“-achrichtigungskarte in den Briefkasten bekommen) düste ich zurück ins Postamt.

Nun noch das Geld zählen und mit der Summe der Eintragungen im Zustellbuch und der Nachnahmebeträge vergleichen, das verbleibende Trinkgeld endgültig einsacken (18,40 Mark heute) und noch einmal zum Zuschreiber. Das Geld wurde in kleinen Pyramiden, unten immer 4 Münzen und eine in der Mitte darauf auf ein kleines Plastiktablett angerichtet. Fünf Zehnerl waren Fünfzig Pfennig, vier solche Pyramiden also 2 Mark und so fort. Die gleichartigen Münzpyramiden kamen jeweils in eine Reihe. So konnte der Kassenmann auf wenige Blicke die richtige Summe erfassen. Er tippte mit seinem Kugelschreiber auf die Pyramiden und zählte laut: Fuchzge, oans, fuchzge zwoa, und weiter bei den Fünfzigerln: zwoafuchzge, fünfe… und so weiter. Verzählen war unmöglich, am Ende nahm er das Geld, das Zustellbuch und die Paketkarten entgegen und fertig.

Raus aus dem Amt, zum Penny, eine Palette Dortmunder Hansa Pils , ein Glas Essiggurken, eine ganze Salami und eine Tüte Billigsemmeln gekauft. Das Auto geholt (es war ein kleiner hellblauer Fiat 127) und damit nach Baierbrunn gedüst zur Isarkiesbank, wo die anderen schon warteten. Splitternackt in der Sonne liegend, mit einer Dose Bier in der Hand überlegte ich, ob ich nicht einfach bei der Post bleiben sollte.
 



 
Oben Unten