Panik im Paradies

ziner

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Prolog Herreinspaziert, Herreinspaziert. Hier erleben Sie, was Sie nie zu vermuten gewagt hätten. Abgründe, Untiefen und Verwegenheiten. Besuchen Sie intellektuelles Brachland, schlingern Sie über geistige Hoppelpisten. Nehmen Sie teil am verwirreden Spiel. Kommen Sie mit zu den drei großen K's eines verworrenen Lebens. Lassen Sie sich führen durch die Rinnsteine der Klarheit. Reißen Sie sich den Arsch auf den schrundigen Fassaden der Konsequenz und riskieren Sie einen Blick durch die blinden Fenster der Komik. Treten Sie ein und erleben Sie die grausige Reise zu den drei höchsten - nie bestiegenen - Gipfeln eines Daseins. Reiserücktrittsversicherungsbescheinigungen werden nicht anerkannt. Auslandskrankenscheine haben keinen Sinn. Vorsicht bitte am Wahnsteig, der Zug ist abgefahren. Ihr Zuchtführer wünscht Ihnen einen angenehmen Reise. 1 Ein matschiger, nasser Dezember-Abend. Die Luft ist feuchtkalt, die Atemwege zugehustet mit Inversionswetterlage und den guten Vorsätzen für das kommende Jahr. Die Menschheit ist unbehauster den je und blickt schreckensstarr auf das, was sie nicht versteht - sich selbst. Man fordert Lösungen für Probleme, die ohne die Forderungen nach ihrer Beseitigung nicht bestehen würden. Ist doch die Forderung nach der Lösung eine Problems, die Vorausetzung dafür es als solches zu erkennen. Wird vielleicht durch das Entstehen vom Problembewußtsein dieses erst erschaffen. Das Problem nämlich. Was essen wir zuerst, die Henne, oder das Ei? So kreist der Mensch unbeirrt um sich selbst, und die kleinliche Gewißheit, daß es nichts wichtigeres gibt, als den eigenen Mikrokosmos, daß nichts entscheidender diese Welt zusammenhält, als die Sorge ums eigene Fortbestehen! Das ist des Pudels Kern! Die Angst vor Verlust, vor der eigenen Bedeutungslosigkeit. Das Streben, Unwägbarkeiten zu vermeiden, Überschaubarkeit herzustellen. Um nicht in die Verlegenheit zu kommen, denken zu müssen. Nackt und allein, steht dieser Mensch vor seinen Zweifeln, dreht sich um sich selbst, mißt seinen Horizont in Zentimetern und weiß nicht wohin. Doch es gibt einen Ort, einen Hort der Gerechten, der selbstreferentiellen Sozialparanoiker, der Gemeinschafts-Romantiker, Zyniker und Stoiker. Hier bin ich. Mensch! Hier kann ich's sein. Die kleine Insel der Glückseligkeit, das Purgatorium der letzten verbliebenen Komunikations-Neurotiker. Hier gibt es sie noch, die Selbstäußerer, die ihr Sein an die Wände dieser Welt hängen, zur gefälligen Betrachtung. Die Galerie "Zum Last Order". Die Moral-Exhibitionisten, die - mal eben zwischen zwei Bier - die Probleme der Welt erklären und lösen. Verkrachte Halbintellektuelle die mit ihrem aktiven Wortschatz prahlen, und nicht merken, daß ihnen keiner folgen kann. Handfeste Brachial-Verbaliker, die in der festen Überzeugung leben - mißachtet und unverstanden wie sie sind - der Menschheit die Segnungen Ihres Weltbildes nicht vorenthalten zu dürfen. Zeitmaschine, Timetunnel. Naive Weißsocken-Träger, die - noch immer im Glauben, es käme auch auf sie an - verzweifelnd versuchen ihr kleines Licht zum leuchten zu bringen. Kurz, die ganze Zoologie der Spezies Mensch ist hier vertreten, und man läßt einander leben. Hier zählt, was heute gesagt wird morgen nicht mehr so viel. Hier wo immer alles neu und ungedacht ist, ist jeder nur das was er erzählt. Hier ißt jeder nur das, was er zahlt. Die kleine Kneipe in unserer Straße. Unsere kleine Farm. Heile Welt eben. Ein rustikales Refugium. In barocker Ausschweifung dekoriert, mit Errungenschaften aller Flohmärkte dieser Welt. Da hängen handgedengelte Blechpreziosen neben Ablichtungen gründerzeitlicher Patriarchen; komplettiert ausgestopftes Federvieh die Fauna der Eiche mit den Plastikblättern in der Raummitte. An den Wänden reichern alte Emaille-Schilder das Ambiente an, immer wieder zart kontrastiert durch allegorische Schinken aus dem tausendjährigen Reich. Vervollständigt durch Kuriositäten eines kürzlich untergegangenen Arbeiter- und Bauernstaates. Etwa handgemalte Schilder mit putzigen Bitten, wie: "Man bittet diesen Raum so verlassen, wie man ihn vorzufinden wünscht. Wie denn? Nüchtern? Ein wahrer Erlebnispark eben. Die Beschallung, seitens der Geschäftsführung ist ein Attentat auf den guten Geschmack, es sei denn, man hat nichts gegen Willy Nelson oder Udo Jürgens. Andernfalls empfiehlt es sich einfach so zu tun, als hätte man es nicht bemerkt. Für Stammgäste gibt es noch die Möglichkeit, durch anhaltendes Maulen und Meckern, die Lautstärke auf ein gesprächskompatibles Niveau zu senken. Und wenn der Meister in der Küche werkelt, bekommt dieses gastronomische Disneyland noch einen weiteren Aspekt. Einen Abend in dieser optischen, akustischen und olfaktorischen Suppenküche, und man kann seine Klamotten getrost dem Sondermüll überantworten. In diesem kleinen Paradies passiert also eines Abends unglaubliches. Nichtahnend, was auf ihn zukommt beginnt unser Held - das Tagwerk als Muß betrachtend - sich bereits um die Mittagszeit auf seine Flucht zu freuen. Freut sich darauf, die Kleinlichkeiten des Tages, die einige Flecken auf meinem dicken Fell, hinterlassen haben, mit einem kühlen Bier abzuwaschen. Ich stelle mir vor, wie es vor mir steht. Ich merke wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft und verbringe den Tag in Vorfreude auf den Augenblick an dem meine Lippen den cremefarbenen, samtigen Schaum berühren. Der erste Schluck würde - wie immer - so tief und lang sein, daß ihm die halbe Füllung des Glases zum Opfer fällt. Der erste Schluck ist immer der beste. Der tiefe Atemzug vor dem Ansetzen, das Heben des Glases und das fast sinnliche Versenken der Lippen in diesen einzigartigen Schaum. Meine Arth Guinness-Gedächtnis-Minute. Ein vollmundiges Bier, das den Mund nicht zu voll nimmt, das hält was es verspricht. Ein schwarz-samtenes Lächeln, das deine Seele umfängt und bleibt. Ein würziger Geschmack, der nicht - durch zuviel Kohlensäure - die Papillen meuchelt. Nicht eines von diesen Zucker Couleur-kolorierten Mädchen-Bieren, die einem am nächsten Morgen den Glauben an die Wiedergeburt plausibel erscheinen lassen. Schon fühlte ich die Genugtuung, die tiefe Befriedigung die sich ausbreitet. Spürte das feinnervige Klirren das die Sinne schärft wie ein Wetzstahl. Die nächsten Schlucke sind dann bedächtiger dafür aber häufiger. Solange, bis der Schwimmer im Kopf den Aus-Knopf erreicht haben würde. Halbbesoffen ist rausgeschmissenes Geld. Diesen überaus beruhigenden Gedanken im Kopf, hangelte ich mich von Stunde zu Stunde. Als die Zeit dann endlich reif war, mein Durst sich ins unmenschliche zu steigern versprach - machte ich mich auf, um mich in diesem Biotop der Unentwegten meinem Armaggedon entgegenzutrinken. Meinem kleinen Fiakso und dem großen Inferno für die grauen Denkhelferchen, die sich schluckweise verabschieden. Die "Kleine Kneipe in unserer Straße" oder "Der Club", wie ich ihn nenne, weil "Stammkneipe" für mich zu sehr nach beigefarbenen Herren-Freizeithemden, Korn und Bier-Leutseeligkeit und geistigem Tiefflug klingt. Und weil im Namen "Der Club" etwas von jener elitären Exklusivität liegt, die ich gerne habe. Der "Club" also, liegt nur einen Steinwurf von meinem Hauptquartier entfernt. Das hat Vorteile. Besonders nach dem zehnten Guinness. Ganz Stammgast, öffne ich mit langgeübter Hand die Tür zur Vorhölle. Die anderen Verbannten sind schon da und grüßen mit routinierter Leichtigkeit, fordern mich auf mich zu setzen. "Schön", denke ich und will mich schon freuen über die Berechenbarkeit, die Vertrautheit und das zu erwartende Ergebnis dieses Ausflugs. Doch halt. Was ist das? Eines von diesen Dingen ist nicht wie die anderen. "Irgendwas ist passiert!". Ein neues Ölbild, schnell aufgehängt zwischen zwei Bieren, ein Schichtwechsel, eine Rundumsanierung? Ist vielleicht schon eine neue Woche angebrochen. Zuviele Fragen, zuwenig Antworten. Also, nichts anmerken lassen, Irritation verdrängen und so tun als sein man Herr der Lage. Erst einmal hinsetzen. Umständlich, um Zeit und Überblick zu gewinnen, ziehe ich meine Jacke aus. Drappiere das Stück Stoff auf der Stuhllehne wo es partout nicht bleiben will. Und so gelingt mir eine Slapstick-Nummer mit herunterfallender Jacke und Kampf mit widerborstigem Stuhl. Aber es nützt nichts. Die Verwirrung bleibt und droht in handfester Desorientierung zu eskalieren. Ergeben setzte ich mich, blieb zunächst still, und überlegte angestrengt was es sein könnte, ging im Geiste die Möglichkeiten durch. "Hat Ralf sich den Bart abgenommen, fehlt Jürgen ein Ohr? Nein. Hat Joana eine neue Frisur oder Claudia den zehnten Ring in der Nase? Auch nicht." Also blickte ich mich weiter um und plötzlich ging der Knopf auf. Rechts neben mir ... Heiliger Schluckspecht! Grundgütiger Erzengel der Selbstbetäuber, großer Gott der Auto-Anästhesisten dieser Welt; there was a new kid in town! Ein neues Gesicht im Saloon. "Das ich das noch erleben darf", schießt es mir mit tränenfeuchter Rührung durch den verwirrten Geist. Wo doch dieses kleine Universum sonst nur von Fixsternen vierter oder fünfter Ordnung - sogenannten blauen Zwergen - bevölkert zu sein schien. Wo war das Raumschiff gelandet, hatte diesen Besuch an Land gesetzt. Wer hatte in den unendlichen Weiten des Alls wann, wem, und wieso vom Manna dieses Paralelluniversums berichtet? Wer war der Navigator, der den Weg in diese intellektuelle Einöde gefunden hatte. Fragen über Fragen. Aber, was du heut nicht weißt, kannst du auch morgen rauskriegen: In diesem Sinne: A man's got to what a man's got to do. Schnell den Hut gerichtet und den Gürtel ein Loch enger gezogen. Bauch rein, Brust raus, Kopf hoch! Haltung. Eingentlich war ich seit Jahren darauf eingestellt irgendwann, mit den übrigen Unverzagten - wenn Haar und Bart eisgrau geworden waren - ohne großes Aufsehen und allzuviel Federlesens eines Abends stillschweigend auf die Straße gekehrt zu werden. Oder, wenn das nicht passierte, in einem Unteroffiziersklub mein geistiges Gnadenbrot zu verzehren. Oder noch Schlimmeres: In einem Astra Pott zu versauern! Und dann das! Ein neues Gesicht. Mit einem Schlag war mein Interesse erwacht. "Jetzt nur nicht hektisch werden," dachte ich, "du hast in diesem Laden sowie das Erbrecht auf die neuen Kollegen." Welch seltsame Blüten die Einbildung doch treiben kann. Da saß eine junge Frau, die ich zuvor schon einmal zu sehen geglaubt hatte - vielleicht in einem anderen Leben - und trank Bier! Eines von der Art, das einem Schwierigkeiten bereiten kann, genießt man es zu reichlich. Ganz in schwarz. Für das eine kann sie wohl nur bedingt, und für das übrige muß man ihr vielleicht dankbar sein. "Erst mal was Schlaues denken, dann sagen und dann mal sehen", schießt es mir durch den Kopf. "Hi, mein Name ist Gabriel und ich steh' mit den Heiligen dieser Welt auf Du und Du, aber mit Eurer Herrlichkeit habe ich noch nicht das Vergügen haben dürfen. Wollen wir zusammen das Paradies neu erfinden?" Na ja. Jedenfalls ist das die Schilderung, die in die Geschichte eingehen wird. Sozusagen die amtliche Version, die offizielle Sprachregelung des Politbüros. Basta. Das bedeutet, daß diese Geschichte in Zukunft so erzählt werden wird. Wenn die Alten dereinst mit den Jungen am Feuer sitzen, und ihre tattrigen Geschichten zum Besten geben. In Wirklichkeit gelang mir nur ein zittriges "Hallo". Und das auch erst nachdem sie Claas aufgefordert hatte uns doch jetzt gefälligst einmal vorzustellen "Tina, Gabriel; Gabriel, Tina." Erledigt. Claas wandte sich wieder seinem unterbrochen Gespräch zu. Tina! Ein Name wie ein Heiligenschein. Ein Klang wie Silberglocken. Sie ist der Zwilling (oder heißt es die Zwilling?) von Heins Noch-Gattin. Das hatte mich irritiert. "Was machen Hein und Astrid zusammen im Club, wo ist der Kleine? Was machen Hein, Astrid und Claas gemeinsam im Club?" Hein und Astrid waren zwar noch verheiratet und hatten einen Sohn, doch ging Astrid schon seit über zwei Jahren mit Claas ins Bett. Hein - der eigentlich Patrick heißt, dessen Name aber irgendwann dem Lied über Jan und Hein und Claas und Pit zum Opfer gefallen war. Die vier sollten zusammen auf Kaperfahrt gehen weil sie Bärte haben, ein Zusammenhang den ich nie verstanden habe. Wir hatten einen Jan und einen Claas, fehlten nur noch Hein und Pit. Blieben Patrick und Gabriel, die sich anpassen mußten um der Geschichte die letzte Rundung zu geben. So wurde aus Patrick Hein und aus Gabriel Pit. Ein Verlust den wir im Dienste der guten Sache und der Vollständigkeit halber ertrugen. Une nome de bierre. Seitdem geistern wir als die fantastischen vier, als Jan und Hein und Claas und Pit durch die Weltgeschichte. Jan und Hein und Claas und Pit. Eine in Jahren gewachsene und auf Hopfen und Malz gereifte Kneipen-Männer-Freundschaft. Keine von diesen Tresen-Cliquen die sich an der Tränke bildet und sich vor der Tür in schulterklopfendes Wohlgefallen auflöst. Eine Freundschaft wie ein Baumkuchen. Schicht für Schicht sorgfältig aufgebaut. Eine molekulare Verbindung in der die einzelnen Atome untereinander in Verbindung stehen. Jedes mit jedem. Alle mit allen. So daß die Verbindung nicht zerfällt, wenn ein Atom fehlt. Und diese Jungs waren meine Freunde, saßen mit einer der schönsten Frauen an einem Tisch, die je diese blaue Kugel bevölkert haben. Besser noch: sie kannten sich, waren einander vertraut. Und ich würde sie auch kennenlernen, vom Glanz dieser Herrlichkeit kosten dürfen. Würde mein rostiges Dasein durch ein Wort von ihr aufpolieren und veredeln können. Wahnsinn. Ich war ziemlich aus den Häuschen. Mir begann sich der Kopf zu drehen. Mein Herz stand in Flammen, wenn sie mich ansah, mit tiefem, dunklen Blick. Aus ihrem wunderschönen Mund kam ein Lachen, das wie das Britzeln von Champagner in meine Seele perlte. Ich gab ihr Feuer und verbündete mich mit ihr. Scharwenzelte um sie herum und versuchte mich in ein günstiges Licht zu setzen. War wild entschlossen sie nicht eher gehenzulassen als bis klar war, wann ich sie wiedersehen würde. Der Abend ging unweigerlich zuende. Sie brach auf und ich war - umgeben von Freunden - allein. Ich fühlte mich anschließend, als sei ich unter einen Bus geraten und war nur noch in der Lage wirres Zeugs zu denken. Wie etwa: Das Leben ist voller Überraschungen. Besonders wenn man auf Schnellstraßen wandert. Oder wenn man in Gedanken an Kleingartenidylle, mit einem Stein im Kopf über Glashäuser redet. Ferngesteuert wankte ich daraufhin dem heimischen Stall entgegen. Und das war gut so, denn das erwartete Ergebnis des Abends war eingetreten. Ich hatte mächtig einen sitzen. Aber den Heimweg finde ich im Schlaf und mit auf den Rücken gebundenen Händen. Raus aus der Tür. Achtung! drei Stufen runter. Hier ist Vorsicht geboten, zumal im Winter. Stehenbleiben. 90-Grad-Drehung nach rechts. 5 Schritte geradeaus. Die Ampel mit Signalton für Blinde und besoffene Schlafwandler wie mich. Ein langer Pfeifton. Grün. Mit zehn bis zwölf mehr oder weniger geraden Schritten die Straße überqueren. Stehenbleiben. 90-Grad-Drehung nach links. 1.5 Minuten geradeaus. Dann erneute 90-Grad-Drehung nach rechts. Den halben Berg hinauf. Nach zehn Schritten: Home Sweet Home. So einfach ist das. Der nächste Tag würde für den nötigen An- und Abstand sorgen, um das Erlebte zu verdauen. Das seelische Sodbrennen beseitigen.

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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