Bernd Patczowsky
Mitglied
Als wir den Vorplatz des Gare de l'Est betraten, regnete es in Strömen. Wir waren in Paris. Und wir wussten es ja bereits vorher, dass es regnen würde. Einen Tag im Voraus lügt der Wetterbericht nur selten. Meine Frau und ich schauten uns an und lachten: „Bei Regen ist Paris am schönsten!“
Es war erst wenige Tage her, dass wir zum zweiten Mal Woody Allen‘s Film „Midnight in Paris“ gesehen hatten und uns diesen letzten Satz des Film unlöschbar eingeprägten. Wir wussten zu diesem Zeitpunkt bereits um den Wetterbericht und dieser Satz war unser Trost, unsere Hoffnung und unsere Zuversicht zugleich. Im Laufe des Tages würde unser Free-Tour-Guide ihn bestätigen. Allerdings mit einer ganz eigenen Begründung. Doch dazu später.
Wir verließen den Gare de l'Est, tauchten in die dunklen Schächte der Pariser Metro und betraten 20 Minuten später unser Hotel.
Montmartre
Eine Free-Tour ist überall empfehlenswert. Free heißt dabei tatsächlich erst einmal kostenlos - allerdings bittet der Guide am Ende um eine freiwillige Gabe und da dies auf den entsprechenden Internetseiten auch deutlich angekündigt wird, geben alle Teilnehmenden nach ihren Möglichkeiten.
Ob Milano, Barcelona, Plovdiv, Sofia oder Bukarest, es ist immer ein Erlebnis. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es sich bei den Guides nicht um professionelle Führer handelt, sondern um Einheimische oder schon lange in der Stadt Lebende, die die schönsten Ecken der Bezirke aus eigenem Erleben gut kennen und großenteils auch einen kritischen Blick auf die politische Situation der Stadt und des Landes werfen.
Jean führte uns durch „sein“ Montmartre: die engen und nicht so sehr von Touristen überlaufenen Straßen, kleinen Cafés, die Windmühlen und vieles mehr. Er brachte uns die geschichtlichen Hintergründe nahe und - wie kann es anders sein auf dem Montmartre - ließ uns am Leben von van Gogh, Toulouse-Lautrec, Hemingway, Dalida und anderen lebhaft teilhaben.
Auf den fortdauernden Regen angesprochen, stimmte er mir zu: Yes, that‘s true, Paris is most beautiful in the rain. Und er schilderte die Hitze, die im Sommer oft über der Stadt liegt und unter der die Bewohner leiden. Dann verblasse die Schönheit unter dem Dunst von Abgasen und dem eingeschränkten Blick, der nur noch von Schatten zu Schatten springt, um wenigstens ein wenig Erleichterung zu finden. Wenn es dann regne, blühe die Stadt auf. Menschen kämen aus ihren Wohnungen, die Cafés füllten sich und Musik sei überall zu hören, oftmals von Stimmengewirr übertönt. Ja, Paris würde erst bei Regen so richtig schön!
Place de la Concorde
Und dann standen wir da: Von einem der Ausgänge des Jardin des Tuileries sahen wir auf den größten Platz von Paris, die Place de La Concorde. Nein - schön ist er nicht anzusehen: Autos, Busse, viele Menschen. Er macht einen geschäftigen Eindruck, zu geschäftig - aber das mag auch an der Tageszeit liegen. Sich vorzustellen, dass dieser Platz etwas Schönes verberge, das es noch zu entdecken gelte, fällt schwer.
Unweigerlich drängt sich das Wissen um die Vergangenheit auf: 1345 Menschen verloren in der Zeit der Französischen Revolution hier ihr Leben. Hingerichtet mit der Guillotine: Ludwig XVI., Marie Antoinette, Danton, Robespierre und so viele andere. Würde der schwarze Asphalt nicht den gesamten Platz bedecken, man müsste heute noch das Blut sehen, das geflossen ist. Angewidert wenden wir uns ab. Auch bei Regen ist es hier nicht schön.
Monsieur LeVent
Nein, er hieß nicht LeVent, der Bettler an der Ecke Rue Caulaincourt/Rue Forest unweit des Moulin Rouge. Aber der Wind blies durch den Boulevard und die Blätter, die Ende Oktober von ihren Bäumen losgelassen wurden, wirbelten durch die Luft. Sie tanzten eine Weile im Kreis, dann wurden sie mit dem nächsten Windstoß in die Höhe gewirbelt und in Sekundenschnelle fanden sie sich 20 m weiter wieder, wo das Spiel von Neuem begann.
In diesem doch eher etwas unwirtlichen Wetter lernte ich ihn kennen und gab ihm den Namen. Monsieur LeVent saß auf einer dicken Decke an eine Hauswand gelehnt, mit einer anderen Decke hatte er seine Beine umschlungen, um sie zu wärmen. Rechts neben ihm stand sein in die Jahre gekommener Rucksack und links von ihm eine Flasche mit Wasser sowie eine kleine Tüte aus einer nahe gelegenen Bäckerei. Monsieur LeVent war einer von vielen Bettlern. Von viel zu vielen! Und wenn du an jeder Ecke jemanden sitzen siehst oder in der Metro angesprochen wirst, so stumpfst du ab. Das Kleingeld in der Hosentasche ist schnell verbraucht und das war es dann. Von nun an schaust du nur noch weg, wenn wieder eine meist erbärmlich aussehende Kreatur in der Kälte sitzt. Besser nicht hinschauen. Sich besser nicht immer wieder mit diesem Elend konfrontieren! Daran gewöhnst du dich schnell. So kannst du deinen Weg fortsetzen und Paris genießen. Nur am Abend oder im Cafe, beim Checken der neuesten Nachrichten auf deinem Smartphone wird dir übel: Plant doch der Vorstand der Bahn seine Gehälter zu erhöhen. In Zukunft 585.000 EUR im Jahr an Gehalt …
Die Gedanken von Monsieur LeVent, wenn er diese Meldung liest, sind mir nicht bekannt. Alles was ich von ihm kenne, ist sein einnehmendes Lachen, das er jedem Passanten schenkte. Ich konnte nicht widerstehen: Jedes Mal wenn ich an ihm vorüberging - und ich ging oft an ihm vorbei, da der Weg von unserem Hotel auf die Höhen des Montmartre unweigerlich an ihm vorbeiführte - öffnete ich mein Portemonnaie und gab ihm 1,50 Euro. Und jedes Mal schaute er mich an und sein Lachen war noch herzlicher. Und jedes Mal bedankte er sich mit einem „Thank you my friend!“.
Am letzten Tag verließen wir um 12.10 Uhr das Hotel und wieder führte uns unser Weg an Monsieur LeVent vorbei. Und es war schon fast zur Gewohnheit geworden: Ich griff in meine Tasche und gab ihm 1,50 Euro. Unser mitgeführtes Gepäck ließ keinen Zweifel daran, dass wir abreisten. „Have a good trip! Goodbye!“ sagte er. Ich nahm noch sein lachendes Gesicht wahr, dann drehte ich mich um und setzte meinen Weg fort.
Vielleicht waren wir 100 Meter gegangen, als ich nachdenklich wurde. „Warum haben wir ihm nicht … vielleicht …“ - „… 5 oder 10 Euro gegeben?“, beendete meine Frau meinen Satz. „Es hätte uns nicht weh getan. Wir würden es nicht mal merken.“ „Das hätten wir tun sollen“, stimmte ich ihr zu. „Sollen wir ...“ - „… zurückgehen? Ach nein, jetzt nicht mehr.“ Wir blieben nicht stehen. Schnellen Schrittes eilten wir zur Metro und mit ihr zum Gare de L'Est.
Monsieur LeVent ging mir nicht aus dem Kopf. Noch heute denke ich an ihn. Der Wind weht ihm ins Gesicht und er lacht die Menschen an.
Abschied
Wir erreichten den Gare de l'Est 45 Minuten vor Abfahrt unseres Zuges. Pünktlich sollte er sein, der EC 1276 von Paris nach Frankfurt. Tout Va Bien, so nannte sich die Bar auf der anderen Straßenseite des Bahnhofplatzes. Genug Zeit, noch einen letzten Cafe zu trinken. In Paris muss man sich schon etwas genauer ausdrücken. Während es in anderen Landesteilen reicht, „un café, s'il vous plaît“ zu bestellen, scheint es hier sinnvoll, nach einem Espresso zu verlangen. So nippten wir an unseren Tassen, tranken hin und wieder einen Schluck des mitgereichten Wassers und ließen die letzten Tage vor unserem inneren Auge an uns vorüberziehen. Montmartre, Belleville, das Quartier Latin, St. Germain und natürlich all der Prunk: von Sacre Coeur bis zum Pantheon. „Weißt du noch ...?“ „ Und am schönsten war doch … - Nein, nicht Belleville!“ „Wenn wir noch einmal hierher kommen, dann ….“ Und ein paar Minuten später sprachen wir wieder über Monsieur LeVent. Wir hätten wenigstens einmal ein paar Worte mit ihm reden können!
Es war Zeit zu gehen: bezahlen, die Stühle rücken, das Gepäck schultern und die Straße, die uns vom Bahnhofsvorplatz trennte, überqueren. Als wir die Mitte des Platzes erreicht hatten, fing es an zu regnen. Wir schauten uns an und lachten: „Bei Regen ist Paris am schönsten!“
Es war erst wenige Tage her, dass wir zum zweiten Mal Woody Allen‘s Film „Midnight in Paris“ gesehen hatten und uns diesen letzten Satz des Film unlöschbar eingeprägten. Wir wussten zu diesem Zeitpunkt bereits um den Wetterbericht und dieser Satz war unser Trost, unsere Hoffnung und unsere Zuversicht zugleich. Im Laufe des Tages würde unser Free-Tour-Guide ihn bestätigen. Allerdings mit einer ganz eigenen Begründung. Doch dazu später.
Wir verließen den Gare de l'Est, tauchten in die dunklen Schächte der Pariser Metro und betraten 20 Minuten später unser Hotel.
Montmartre
Eine Free-Tour ist überall empfehlenswert. Free heißt dabei tatsächlich erst einmal kostenlos - allerdings bittet der Guide am Ende um eine freiwillige Gabe und da dies auf den entsprechenden Internetseiten auch deutlich angekündigt wird, geben alle Teilnehmenden nach ihren Möglichkeiten.
Ob Milano, Barcelona, Plovdiv, Sofia oder Bukarest, es ist immer ein Erlebnis. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es sich bei den Guides nicht um professionelle Führer handelt, sondern um Einheimische oder schon lange in der Stadt Lebende, die die schönsten Ecken der Bezirke aus eigenem Erleben gut kennen und großenteils auch einen kritischen Blick auf die politische Situation der Stadt und des Landes werfen.
Jean führte uns durch „sein“ Montmartre: die engen und nicht so sehr von Touristen überlaufenen Straßen, kleinen Cafés, die Windmühlen und vieles mehr. Er brachte uns die geschichtlichen Hintergründe nahe und - wie kann es anders sein auf dem Montmartre - ließ uns am Leben von van Gogh, Toulouse-Lautrec, Hemingway, Dalida und anderen lebhaft teilhaben.
Auf den fortdauernden Regen angesprochen, stimmte er mir zu: Yes, that‘s true, Paris is most beautiful in the rain. Und er schilderte die Hitze, die im Sommer oft über der Stadt liegt und unter der die Bewohner leiden. Dann verblasse die Schönheit unter dem Dunst von Abgasen und dem eingeschränkten Blick, der nur noch von Schatten zu Schatten springt, um wenigstens ein wenig Erleichterung zu finden. Wenn es dann regne, blühe die Stadt auf. Menschen kämen aus ihren Wohnungen, die Cafés füllten sich und Musik sei überall zu hören, oftmals von Stimmengewirr übertönt. Ja, Paris würde erst bei Regen so richtig schön!
Place de la Concorde
Und dann standen wir da: Von einem der Ausgänge des Jardin des Tuileries sahen wir auf den größten Platz von Paris, die Place de La Concorde. Nein - schön ist er nicht anzusehen: Autos, Busse, viele Menschen. Er macht einen geschäftigen Eindruck, zu geschäftig - aber das mag auch an der Tageszeit liegen. Sich vorzustellen, dass dieser Platz etwas Schönes verberge, das es noch zu entdecken gelte, fällt schwer.
Unweigerlich drängt sich das Wissen um die Vergangenheit auf: 1345 Menschen verloren in der Zeit der Französischen Revolution hier ihr Leben. Hingerichtet mit der Guillotine: Ludwig XVI., Marie Antoinette, Danton, Robespierre und so viele andere. Würde der schwarze Asphalt nicht den gesamten Platz bedecken, man müsste heute noch das Blut sehen, das geflossen ist. Angewidert wenden wir uns ab. Auch bei Regen ist es hier nicht schön.
Monsieur LeVent
Nein, er hieß nicht LeVent, der Bettler an der Ecke Rue Caulaincourt/Rue Forest unweit des Moulin Rouge. Aber der Wind blies durch den Boulevard und die Blätter, die Ende Oktober von ihren Bäumen losgelassen wurden, wirbelten durch die Luft. Sie tanzten eine Weile im Kreis, dann wurden sie mit dem nächsten Windstoß in die Höhe gewirbelt und in Sekundenschnelle fanden sie sich 20 m weiter wieder, wo das Spiel von Neuem begann.
In diesem doch eher etwas unwirtlichen Wetter lernte ich ihn kennen und gab ihm den Namen. Monsieur LeVent saß auf einer dicken Decke an eine Hauswand gelehnt, mit einer anderen Decke hatte er seine Beine umschlungen, um sie zu wärmen. Rechts neben ihm stand sein in die Jahre gekommener Rucksack und links von ihm eine Flasche mit Wasser sowie eine kleine Tüte aus einer nahe gelegenen Bäckerei. Monsieur LeVent war einer von vielen Bettlern. Von viel zu vielen! Und wenn du an jeder Ecke jemanden sitzen siehst oder in der Metro angesprochen wirst, so stumpfst du ab. Das Kleingeld in der Hosentasche ist schnell verbraucht und das war es dann. Von nun an schaust du nur noch weg, wenn wieder eine meist erbärmlich aussehende Kreatur in der Kälte sitzt. Besser nicht hinschauen. Sich besser nicht immer wieder mit diesem Elend konfrontieren! Daran gewöhnst du dich schnell. So kannst du deinen Weg fortsetzen und Paris genießen. Nur am Abend oder im Cafe, beim Checken der neuesten Nachrichten auf deinem Smartphone wird dir übel: Plant doch der Vorstand der Bahn seine Gehälter zu erhöhen. In Zukunft 585.000 EUR im Jahr an Gehalt …
Die Gedanken von Monsieur LeVent, wenn er diese Meldung liest, sind mir nicht bekannt. Alles was ich von ihm kenne, ist sein einnehmendes Lachen, das er jedem Passanten schenkte. Ich konnte nicht widerstehen: Jedes Mal wenn ich an ihm vorüberging - und ich ging oft an ihm vorbei, da der Weg von unserem Hotel auf die Höhen des Montmartre unweigerlich an ihm vorbeiführte - öffnete ich mein Portemonnaie und gab ihm 1,50 Euro. Und jedes Mal schaute er mich an und sein Lachen war noch herzlicher. Und jedes Mal bedankte er sich mit einem „Thank you my friend!“.
Am letzten Tag verließen wir um 12.10 Uhr das Hotel und wieder führte uns unser Weg an Monsieur LeVent vorbei. Und es war schon fast zur Gewohnheit geworden: Ich griff in meine Tasche und gab ihm 1,50 Euro. Unser mitgeführtes Gepäck ließ keinen Zweifel daran, dass wir abreisten. „Have a good trip! Goodbye!“ sagte er. Ich nahm noch sein lachendes Gesicht wahr, dann drehte ich mich um und setzte meinen Weg fort.
Vielleicht waren wir 100 Meter gegangen, als ich nachdenklich wurde. „Warum haben wir ihm nicht … vielleicht …“ - „… 5 oder 10 Euro gegeben?“, beendete meine Frau meinen Satz. „Es hätte uns nicht weh getan. Wir würden es nicht mal merken.“ „Das hätten wir tun sollen“, stimmte ich ihr zu. „Sollen wir ...“ - „… zurückgehen? Ach nein, jetzt nicht mehr.“ Wir blieben nicht stehen. Schnellen Schrittes eilten wir zur Metro und mit ihr zum Gare de L'Est.
Monsieur LeVent ging mir nicht aus dem Kopf. Noch heute denke ich an ihn. Der Wind weht ihm ins Gesicht und er lacht die Menschen an.
Abschied
Wir erreichten den Gare de l'Est 45 Minuten vor Abfahrt unseres Zuges. Pünktlich sollte er sein, der EC 1276 von Paris nach Frankfurt. Tout Va Bien, so nannte sich die Bar auf der anderen Straßenseite des Bahnhofplatzes. Genug Zeit, noch einen letzten Cafe zu trinken. In Paris muss man sich schon etwas genauer ausdrücken. Während es in anderen Landesteilen reicht, „un café, s'il vous plaît“ zu bestellen, scheint es hier sinnvoll, nach einem Espresso zu verlangen. So nippten wir an unseren Tassen, tranken hin und wieder einen Schluck des mitgereichten Wassers und ließen die letzten Tage vor unserem inneren Auge an uns vorüberziehen. Montmartre, Belleville, das Quartier Latin, St. Germain und natürlich all der Prunk: von Sacre Coeur bis zum Pantheon. „Weißt du noch ...?“ „ Und am schönsten war doch … - Nein, nicht Belleville!“ „Wenn wir noch einmal hierher kommen, dann ….“ Und ein paar Minuten später sprachen wir wieder über Monsieur LeVent. Wir hätten wenigstens einmal ein paar Worte mit ihm reden können!
Es war Zeit zu gehen: bezahlen, die Stühle rücken, das Gepäck schultern und die Straße, die uns vom Bahnhofsvorplatz trennte, überqueren. Als wir die Mitte des Platzes erreicht hatten, fing es an zu regnen. Wir schauten uns an und lachten: „Bei Regen ist Paris am schönsten!“
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