Pasch 6

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Pasch 6

Ein dumpfer Schlag und der Junge fiel zu Boden. Am Gehstock tropfte Blut und dem Mann wurde eiskalt bewusst, was er da getan hatte. Jetzt gab es kein zurück mehr, das wurde ihm schmerzlich bewusst. Er hatte seine reine Seele mit Schande befleckt, nachdem er jahrzehntelang seine Kindheitssünden mühevoll beglichen hatte. Nun war alles umsonst. Zitternd drehte er sich um und stapfte davon, so schnell er es in seinem hohen Alter noch konnte.
Doch etwas ließ ihn innehalten. Zögernd blieb er stehen und blickte zurück. Rote Flecken sprenkelten die Straße, Spuren, die der blutige Gehstock in seiner Hand hinterlassen hatte. Der Junge lag noch immer auf dem Bürgersteig. Hob sich sein Brustkorb noch rhythmisch? Oder bildete er sich das ein? War sein Kopf in einem extremen Winkel eingedreht oder war diese Haltung normal im Liegen? Vielleicht könnte er ihm helfen.
Doch düstere Gedanken bewölkten den alten Mann und er begann zu zittern. Dieses Trauma könnte ihm noch sein Leben kosten. Warum brachte er es dann nicht ganz zu Ende? Viel zu oft hatte er nur halbe Sachen gemacht in seinem Leben. Das wäre jetzt ein für alle Mal vorbei. Mit seinem plötzlichen Sinneswandel wuchs die Wut in ihm wieder heran und er griff in seine Hosentasche. Zitternd zog er eine Klinge hervor, hob sie in die Höhe und stapfte eilig mit wackligen Schritten auf den Jungen zu.

Die Sonne tauchte das saftige Gras in ein warmes Licht und aus den Baumkronen schallte Vogelgezwitscher über den ganzen Park. In der Ferne läuteten die Glocken der St.-Nikolaus-Kirche aus dem Zentrum der westböhmischen Stadt.
Die altbekannten Geräusche aus Pilsen drangen wie Musik in Rostis Ohren. Dieser war stolz über sein Gehör. Während andere in seinem Alter zwischen jedem zweiten Satz ein “Was hat er gesagt?” krächzten, bekam er noch alles mit.
Zwischen die friedlichen Laute mischte sich ein neuer störender Klang. Es war ein Zischen, das Geräusch einer Sprühflasche. Rosti wusste sofort, woher es kam. Wie ein Nebel breitete es sich über die Parkanlage aus und brachte so manche Vögel zum Schweigen. Dabei war es nicht einmal sonderlich laut. Dennoch versteckte sich da etwas in diesem Ton, etwas das Rosti frösteln ließ. Ekelhaft. Dem Geräusch folgte ein öliger Gestank, der schwer in der Luft lag. Miserabel.
Ich muss dem ein Ende setzen, dachte der alte Mann. Je schneller, desto besser.
In seiner Hosentasche fühlte er sein altes Jagdmesser. Das letzte Mal, dass er es eingesetzt hatte, war über 70 Jahre her. Seit dem trug er es immer bei sich und er war bereit, es jederzeit ein zweites Mal Fleisch spalten zu lassen.
Stöhnend reckte er sich und öffnete die Augen. Die Holzlatten der Parkbank stachen ihm ins Gesäß. Langsam griff er nach seinem Gehstock und stand mühselig auf. Seine linke Hand war während seines Mittagsschlafs zur Faust geballt, nun schmerzten seine Finger. Er öffnete sie und brachte zwei Würfel zum Vorschein, die er auf dem steinernen Park-Spieltisch vor sich fallen ließ. Pasch 6 - Augenzahl 12. Den ‘Sieg’ in seinem Würfelspiel hätte er mal wieder knapp verfehlt, aber in diesem Moment war ihm das völlig egal. Er musste diesem Geräusch ein Ende bereiten.
Rostislaw Novà?ek – oder “Rosti”, wie ihn alle nannten – liebte den Homolka-Park im Süden von Pilsen. Besonders im Sommer, wenn die alten Bäume große Schatten im Licht der Mittagssonne warfen und die Abgase der Autos filterten, fühlte er sich wohl. Hier hatte er sich häufig mit seinen Freunden getroffen und über die Schlacht um Hrabyne und den Prager Frühling diskutiert. Dabei hatten sie jedes Mal Craps Shooting - oder wie sie es nannten - “hovno” gespielt, immer mit zwei Würfeln. Doch im Verlauf der letzten Jahre waren einer nach dem anderen verstorben und Rosti vereinsamte. Seine Kinder waren in die Hauptstadt gezogen, sein Enkelsohn studierte nun in Deutschland.
Während Rosti langsam auf das Geräusch zu stapfte, betrachtete er besorgt den Park. Die Idylle war in den letzten zwei Jahren mehr und mehr verkommen. Statt glücklichen Rentnern und Familien hockten nur noch wenige Jugendliche auf den Bänken, ihre Gesichter verhüllt in Kapuzen, ihre Köpfe ständig geneigt. Wie Zombies streiften sie durch den Park oder saßen mit gekreuzten Beinen auf den Parkbänken, ohne etwas von ihrer Umwelt mitzubekommen. Ihre Gemüter waren vertieft in ihre Smartphones, an denen sie ununterbrochen herumfummelten und keiner von ihnen reagierte auf einen Gruß.
Kopfschüttelnd und vor sich hin raunend stapfte Rosti auf die Sprühgeräusche zu. Immer intensiver wurden sie und der Gestank nach Lack säumte die Landschaft. Der alte Mann schnaubte und fühlte den Ärger in sich brodeln. Er ließ seine zitternde Hand in die Hosentasche greifen und legte sie um sein Jagdmesser. Beunruhigt stellte er fest, dass ihn das Zischen immer näher an sein eigenes Haus lockte.
Gleichzeitig ärgerte er sich weiter über den Zustand des Parks.
Immer mehr Müll lag auf dem Boden verstreut und verdrängte die schönen Bechermalven von den Wiesen. Die Stadt begann viele Bäume unnötig zurückschneiden zu lassen und ihre prachtvollen Kronen bis auf wenige Stümpfe brutal zu verstümmeln. Einige wurden komplett gefällt und ersetzt durch Kies-Wüsten und trüb-graue Steinlandlandschaften. Jedes Mal schmerzte es Rosti im Herzen, wenn er die schweren Fahrzeuge der Gartenbaubetriebe beobachtete, wie sie tiefe Gräben in die Wiese walzten und schwere Äste zu Boden regnen ließen. Das schrille Heulen von Motorsägen verdrängte die natürliche Geräuschkulisse, die der alte Mann so liebte.
Rosti bog um eine Ecke und erreichte den Rand des Homolka-Parks an der kleinen Marienstatue. Die schwach befahrene Úhlvaska-Straße vor ihm trennte die Parkanlage von seinem geliebten Haus. Von seinem Wohnzimmerfenster hatte er die Statue gern betrachtet, zu deren Füßen er jeden Sonntag eine Grabkerze in Gedenken an seine Frau brachte.
Heute allerdings stimmte etwas nicht mit ihr. Rosti hörte das Zischen der Sprühdose direkt hinter ihr hervorkommen. Bei dem Gestank, der hier wehte, musste er würgen.
“Wer ist da?”
Hustend stapfte er zur Statue. Die Kerze an ihren Füßen war umgekippt und längst erloschen.
“Hallo?”
Schnaufend umrundete er die Madonna, bis er die Rückseite erreichte. Was er da erblickte ließ ihn erstarren. Seine Befürchtungen hatten sich bewahrheitet.
Ein Junge stand hinter der Statue, eingemummt in Halstuch und Kapuze. Rosti schätzte ihn auf höchsten vierzehn Jahre, seiner Größe nach zu beurteilen. In seiner Hand hielt er eine Sprühdose, aus der er mit schwarzer Lackfarbe verschnörkelte Letter an den Rücken der Marienstatue sprühte. F - C - K - ?SSD.
Was die ersten drei Buchstaben bedeuten sollten, konnte Rosti nicht verstehen, aber es musste ein Ausruf gegen die Politik der Regierung sein. Miserabel. Immer mehr dieser Schriftzüge verunstalteten die Stadt und jetzt wurden auch noch Madonnen besprüht. Respektlos.
“Du wagst es!”
Der Junge drehte sich um und zuckte zusammen.
“Am helllichten Tage!”
Die Wut in Rosti überströmte ihn wie eine Welle. Seine Unterlippe zuckte unkontrolliert und seine Adern schwollen an.
“Du kleiner Bengel!”
Der alte Mann verkrampfte seine Hand um das Jagdmesser in seiner Tasche.
“Und dann auch noch auf eine Marienstatue! Meine Marienstatue!”
Der Junge entspannte sich und fing an zu lachen. Er zog das Halstuch ab und legte sein Gesicht frei.
“Du solltest dich mal selber sehen. Du bist doch der alte verkorkste Novà?ek, že jo?”
Rosti atmete tief durch und ließ die Hand von dem Jagdmesser ab. Er sollte sich nicht so aufregen, sonst bekommt er noch einen Schlaganfall, dachte er sich. Diese Jugendlichen werden immer respektloser.
“Zisch ab, alter Mann, du hast doch nicht mal ein Smartphone, um die Polizei zu rufen.”
Er warf die Sprühdose ins Gras und ging um die Statue herum. Rosti umrundete sie von der anderen Seite und Schnitt dem Jungen den Weg ab.
Dieser blieb gelassen und deutete auf die Vorderseite der Madonna.
“Gefällt’s dir? Mein Werk.”
Rosti schnappte nach Luft. In seiner Wut hatte er nicht bemerkt, dass auch die Vorderseite der Marienstatue verschandelt war.
“Du kleiner Mistkerl!”
Er hob den Gehstock und schmetterte ihn auf den Schädel des Jungen. Dieser stolperte einige Schritte zurück und hielt die Hand an den Hinterkopf. Zwischen seinen Fingern rann
Blut durch.
“Autsch! Du spinnst wohl! Mein Vater ist Anwalt, ich werde dich verklagen!”
Rosti schwang wieder seinen Stock und Schlug auf den Jungen ein, bevor dieser davonlaufen konnte. Er krümmte sich und fiel zu Boden. Der Alte schlug immer weiter auf ihn ein, aus seinem Wut-verzerrten Gesicht tropfte Speichel.
“Du wirst meiner Maria nichts antun. Es ist meine Maria! Sie schützt die Seele meiner Frau!”
Seine brüchige Stimme schwoll zu einem Kreischen an. Das Blut spritzte auf die Straße und befleckte den Boden rot.
Schließlich hielt Rosti schwer atmend inne. Sein Herz raste. Er blickte auf den Jungen herunter, der Blut-umströmt auf den Bürgersteig lag. Zitternd ging er ein paar Schritte zurück. Wie konnte er nur so ein Monster sein?
Nach einem langen Zögern stapfte er eilig davon, doch auf halbem Weg blieb er stehen, drehte sich um und kehrte mit gezücktem Jagdmesser um. All seine Schuldgefühle und der Schock über seine Tat wurden von einer neuen Wut-Welle überrollt, als der Alte mit dem Messer auf den Jungen einstach. Er hatte ihm den Rest gegeben. Der zerfetzte Körper des Jungen hing leblos über den Bordstein.
Schnaufend ließ Rosti von ihm ab und beugte sich wieder nach hinten. Mit aufgerissenen Augen suchte er die Straße und die Fenster nach möglichen Augenzeugen ab. Doch überall waren die Gardinen vorgeschoben und die Gegend menschenleer. Rosti brach in Tränen aus, als er sich abermals von dem Jungen entfernte und nach Hause eilte. Er hatte nicht nur das Leben des Jungen beendet, sondern auch noch ein eigenes verdorben. Wäre er doch nicht umgekehrt, nachdem er den Jungen mit dem Stock zu Boden geschlagen hatte. Wäre er doch auf der Bank sitzen geblieben und hätte das Geräusch ignoriert. Wäre er doch in seinem Haus geblieben.

Die Dämmerung tauchte die Úhlvaska-Straße blutrot. Rosti hockte an seinem Wohnzimmerfenster und schaute zur gegenüberliegenden Straßenseite. Die Gardine war nur ein Spalt weit geöffnet. Durch den milchweißen Stoff drangen gedämpfte Stimmen und die Lichter von draußen erzeugten blaue Farbflecken im Raum. Am Fuße der schwarz beschmierten Marienstatue lag der Junge in einer Blutlache. Die alte Frau Dvo?ák aus der Nachbarschaft hatte ihn entdeckt und schnell den Notartzt gerufen. Nun hielt sie ihren Hund krampfhaft davon ab, die Blutlache aufzulecken. Während dessen wuselten die Sanitäter um die Leiche des Jungen, nur um den Tod durch Gewalt festzustellen. Bald würde die Polizei ankommen und den Tatort absichern. Rosti wischte sich zitternd die Tränen ab. Wie sollte er aus diesem Schlamassel wieder herauskommen?
Im Flur standen seine Koffer bereit, die er zuvor in Windeseile gepackt hatte. Er musste seine liebe Frau wohl verlassen. Noch einmal blickte er zur Madonnenstatue herüber. Sie hatte ihm all die Jahre immer das Gefühl gegeben hatte, dass seine Frau in sicheren Händen wahr und nur auf ihn wartete. Doch jetzt, wo das Blut dieses Jungen an seinen Händen klebte, würde er sie wohl nie mehr wiedersehen. Er würde eine Flucht vielleicht doch nicht verkraften.
In seiner Verzweiflung griff Rosti in die Schrankschublade neben sich und holte eine Pistole heraus. Wie auch das Jagdmesser stammte auch diese aus der Kriegszeit. Er lud sie und führte sie langsam an seine Schläfe. Seine Hand zitterte. Er musterte das Familienporträt auf der Fensterbank. Sie sahen alle so glücklich aus.
Damals war seine Welt noch heile. Damals wohnten sie noch alle zusammen. Damals war seine Frau noch am Leben.
Er schaute auf das Gesicht seines Enkelsohns. Wie alt mochte Miroslav mittlerweile sein? 18? 19? Kopfschüttelnd ließ er seine Hand sinken und legte die Pistole auf die Fensterbank. Ratlos blickte er von Pistole zu Porträt hin und her. Flüchten oder erlösen? Der Herrgott würde beides nicht gutheißen.
Da fiel Rosti ein Würfelpaar auf, dass auf dem Fensterbrett hinter dem Porträt versteckt lag.
Vielleicht würde ihm der Herr den Weg weisen?
Er dachte an “hovno”, das Würfelspiel. Augenzahl 11 hieße “Natural” – im Spiel hätte er gewonnen, damit würde er sich für die Flucht entscheiden. 12 – das hieße “Crap”, also verloren und er würde sich das Leben nehmen. Er würde jede Würfelrunde wie die erste Runde im Spiel behandeln.
“Welche der Zahlen wird zuerst fallen?”
Durch das Fenster beobachtete Rosti, wie sich immer mehr Schaulustige um die Leiche sammelten und wild durcheinander tuschelten. Polizisten sperrten die Marienstatue weiträumig ab, während Kriminaltechniker und Forensiker in ihren Reinraumanzügen den Tatort absuchten. Die Grabkerze lag noch immer umgekippt zu Madonnas Füßen.
Zitternd nahm der Alte die Würfel in die Hand, schloss die Augen und ließ sie auf das Fensterbrett fallen. Sein Herz raste. Er öffnete ein Auge und atmete erleichtert auf: 3 – 5.
Für einen Moment zögerte er. Rosti, wusste, dass er auf Dauer nicht damit klar kam, wenn er dieses “Würfelspiel” hier abbrach.
Er nahm eine Hand vors Gesicht und würfelte mit der anderen. Mit pochendem Herzen öffnete er die Finger einen Spalt breit und lugte auf das Fensterbrett: 2 - 3.
Der Alte merkte langsam, dass ihm eine Flucht doch lieber wäre. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und würfelte ein drittes Mal. Diesmal schaute er nicht weg, sondern starrte geschockt auf die Augenzahl: Pasch 6.
Ein grässlicher Knall schallte durch Úhlvaska und ließ die Tauben panisch aufflattern.

Rosti rieb sich die Augen und stöhnte. Die hölzerne Parkbank verursachte ihm Schmerzen am Steißbein. Verwirrt schaute er sich um. Was war passiert?
Die Abendsonne legte sich über den Homolka-Park. Vor sich sah er ein Würfelpaar auf dem Spieltisch liegen. Hatte er geträumt?
Mit pochendem Herzen griff er in die Hosentasche und holte sein Jagdmesser hervor. Erleichtert wischte er über die silberne Klinge. Sauber.
Als er es das letzte Mal benutzt hatte, war er noch ein Kind, überlegte er. Es war am Ende der zweiten Weltkriegs gewesen, in Prag. Die Russen besetzten die Stadt und vergriffen sich an Frauen und Mädchen. Damals hatte er vergeblich versucht seine Schwester vor einer Vergewaltigung zu retten. Der Soldat hatte sie im Anschluss erschossen, als er mitbekommen hatte, wie Rosti versuchte sie zu retten. Dieser hatte darauf in blinder Wut hemmungslos auf den russischen Soldaten eingestochen, mit genau diesem Messer. Das Trauma über seine Mordtat hatte erst nach Jahrzehnten verdaut, immer mit dem Gedanken, seine Schwester gerächt zu haben.
Gedankenverloren steckte der alte Mann das Messer zurück und stand auf. Sein schmerzender Rücken knackste, als er sich reckte und auf die Würfel hinabschaute. Pasch 6. In “hovno” hätte er jetzt verloren. Gebeugt und auf den Stock gestützt stapfte er langsam davon, bis er zwischen den Sträuchern am Rand des Parks verschwand.
Dabei merkte er nicht die Spur aus Blutflecken, die sein Gehstock hinterließ. Er sah auch nicht die winzige Blutlache, die sich um das Würfelpaar gesammelt hatte und spürte nicht den Autoschlüssel, der in seiner anderen Hosentasche bereitlag.
Erst wenn er den Park verlassen hat, würde er merken, dass sein Auto am Parkeingang bereitstand, seine gepackten Koffer im Kofferraum bereitlagen und das Navigationssystem bereits eingestellt war auf Wiesbaden-Naurod, der Adresse seines Enkels.
 



 
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