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steyrer

Mitglied
Es war Projektwoche, aber Harald und Hugo saßen zu zweit im Klassenzimmer und schrieben Strafaufsätze. Zuvor hatte ihnen Klassenvorständin Grubermüller eine lange Ansprache gehalten und dann das Klassenzimmer verlassen. Das einzige Geräusch direkt danach war der gegen die Fensterscheiben prasselnde Regen. Harald nahm Heft und Füllfeder, setzte sich zu Hugo und schüttelte den Kopf: „Das ist ja alles voriges Jahrhundert.“
„Unser Thema doch auch, und die paar uralten Laptops brauchen sie für ein Projekt, hoffentlich explodieren sie nicht“.
Harald murmelte etwas Unverständliches, danach riss er eine Seite aus seinem Heft und warf sie in den Papierkorb. „Noch eine geht nicht, ich bin schon auf der letzten. Mensch, ist das mies und erst der Vortrag von der Grubermüller, der war mehr als nur brutal: ‚Schandmäuler‘ haben wir also – ein interessantes Wort ist das – und Gewalt wär ‚von Übel‘, ja wirklich genau so: ‚von Übel‘, trotzdem sollen uns unsere Eltern endlich durchdreschen, weil alles seine Grenzen hätte und ein Beispiel sollen wir uns nehmen an der Annabelle, keine Ahnung warum, die war als Einzige nicht dabei. Ja, haben wir wirklich so einen Blödsinn verbockt?“
Hugo antwortete nicht sofort. Die Luft war staubig und stickig und die vielen Stühle auf den Tischen erschienen ihm wie Gespenster. Er stand auf und öffnete ein Fenster: Ein Schwall eiskaltes Regenwasser schlug ihm entgegen, er blieb stehen und atmete tief ein. Erst nach einer halben Minute schloss er es wieder. „Wenn sie sehr empört ist, dann redet sie doch immer so und dumm oder gemein waren wir nicht – wir haben getan, was der Referent gesagt hat.“ Er setzte sich wieder, sah an die leere Tafel und zitierte aus dem Gedächtnis: „‚Kritisiert und hinterfragt, nervt und protestiert, seid Sand im Getriebe!‘“ Danach wandte er sich an Harald: „Du weißt ja: Niemand soll mehr Angst haben, nur weil er eine andere Meinung hat. Geklappt hat’s nicht, dafür hat mir dann leider der Himlitzer, dieser Skinhead, auf die Schulter gehauen und gemeint, dass ich es dieser ‚blöden, schwulen Sau‘ – so hat er ihn genannt – ganz prima reingesagt hätte. Ich soll weitermachen. Nachgefragt habe ich lieber nicht, von dem hab ich immer noch das blaue Auge, weil ich ihn einen Schlägertypen genannt habe.“
„Der Referent hätte uns am liebsten angezeigt“, murmelte Harald, „heilfroh sollen wir sein, dass wir noch minderjährig sind.“
„Und das ist noch nicht alles“. Hugo holte sein Smartphone aus dem Rucksack und hielt es Harald hin: „Weißt du, wie viele komische SMS ich heute schon bekommen habe? Der Speicher ist voll. Kein Wunder, die Sache ist in der Zeitung, der ‚Fakt‘, ganz groß und schau dir erst die Schlagzeile an: ‚Schüler leugnen Holocaust! Sind das noch Menschen?‘“
„Bei mir ist es dasselbe. Diese Zeitungsmenschen gehören aufgeklatscht.“
Hugo drehte seine Füllfeder in der Hand und betrachtete das Fakt-Logo auf der Kappe – die Zeitung sponserte die Schulutensilien und die Projektwoche. In den nächsten Minuten war nur das kratzende Geräusch der Federn zu hören, dann begann Harald wieder: „Warum schreiben die einen solchen Shit? Wir haben doch nichts geleugnet, sondern nur kritisch nachgefragt, was das hier eigentlich alles soll und ob das, was er vom Lager erzählt hat, nicht vielleicht doch nur ein Fake ist.“
„Ja, genau, das ganze Programm, damit wir und die anderen endlich bessere Menschen werden. Das glaub ich ja, aber wenn ich das mit dem Besserwerden einem Normalen erzähle, dann schaut mich der an, als ob ich nicht ganz dicht wäre. Komisch, nicht? Mein Vater hat gemeint: ‚Macht nichts, das wächst sich aus‘. Ich wollte also ausprobieren, ob der Referent das wirklich ernst meint. Und jetzt? Ist am Ende alles Theater?“
„Ich check’s auch nicht.“ Harald stützte die Ellenbogen auf den Tisch und drückte die Fingerspitzen gegen Stirn und Schläfen. Er saß so eine kurze Weile, dann fügte sich für ihn alles wie von selbst zusammen: „Natürlich! Die Anderen! Er hat alle Anderen gemeint, bei denen müssen wir dieser Sand sein und hinterfragen, kritisieren, nerven und protestieren aber doch nicht bei ihm. Wir dürfen nur auf die Richtigen losgehen, auf die mit einer anderen Meinung.“
Hugo sah ihn zuerst fassungslos und dann erstaunt an, sagte eine Weile nichts und danach: „Da könntest du recht haben.“
Ein Sonnenstrahl brach durch die Wolkendecke, spiegelte sich in einem Fenster gegenüber und tauchte das Klassenzimmer in goldenes Licht. Beide lachten befreit auf.
„Dann müssen uns diese Tipps doch egal sein“, begann Hugo wieder und die Stühle erschienen ihm plötzlich wie Möbel und nicht mehr wie Gespenster, „ich fass es nicht. Solche Mühe habe ich mir gegeben, ehrlich, sogar meine Füllfeder ist abgebrochen und jetzt kommt mir alles wie ein Käse vor“.
„Ich habe nur den Text aus den Flyern umformuliert – zum Glück“, Harald wies auf ein paar Zettel, die vor ihm lagen, „und jetzt chill ich ein bisschen.“ Er lehnte sich zurück und surfte mit seinem Smartphone im Internet, aber nach einer Weile rempelte er Hugo an: „Dafür brauchen sie die Laptops: zum Bloggen! Die Annabelle schämt sich so und entschuldigt sich im Namen der ganzen Klasse.“
„Wieso? Die war doch gar nicht dabei?“
„Ja, als Einzige, weil ihr schlecht war, aber sie hat trotzdem einen Strafaufsatz geschrieben, nicht am Computer, sondern mit der Füllfeder, mit Fakten aus der Fakt und alle haben unterschrieben, auch der Himlitzer“, er vergrößerte das Foto des Aufsatzes, „und jetzt schau dir an, wie die Grubermüller kommentiert: ‚Bravo, dies macht sehr viel Mut! Weiter so‘. Er krümmte sich vor Lachen und schlug mit den Fäusten auf die Tischplatte: „Das macht ja wirklich sehr viel Mut.“
Hugo lachte mit und der Klang ihrer Stimmen vermischte sich mit dem Glockenschlag einer Turmuhr. Er sah auf sein Smartphone: „Es ist fast vier, wir müssen die Aufsätze abgeben, aber weißt du, was ich grad für eine Idee hab? Ich sag künftig allen, die so drauf sind wie der Referent und die Grubermüller, ganz spontan irgendwas Liebes, Nettes, Schönes, das hilft ihnen ja vielleicht?“
Harald stand auf und setzte sich wieder an seinen Tisch: „Das probierst du aber bitte alleine aus“.
In diesem Augenblick rasselte die Schulklingel und von draußen näherten sich rasche Schritte.
„Na klar doch, und jetzt pass auf!“
 

rothsten

Mitglied
Hallo steyrer,

kurzes Feedback von mir:
Eigentlich keine schlechte Atmosphäre, die Du schaffst. Mir wirds dann zu politisch, aber das ist eine Geschmacksfrage.

Was ich zu kritteln hätte, wäre der Ton der Beiden. Es sind Teenager der heutigen Zeit (Smartphones). Sprechen die wirklich so abgeklärt? Also, wenn ich denen so zuhöre, dann bin ich oft froh, wenn wieder Ruhe herrscht. Deien Prots reden, als läsen sie seit 30 Jahren täglich mehrere Zeitungen.

lg

PS:
Lass die Fensterszene weg. Warum lässt er sich eine halbe Minute eiskalt vollregnen? Das ergibt für mich keinen Sinn.
 

steyrer

Mitglied
Hallo rothsten,

erstmal danke für dein Feedback, aber nun zur Sache:

Ja, die Sprache (und das Verhalten) bereiten in solchen Fällen immer Probleme. Aber bevor ich näher darauf eingehe, bräuchte ich ein paar Beispiele, wo es besonders arg hakt, bzw. unglaubwürdig ist.

Und die Politik ... eigentlich wollte ich Religion nehmen, aber die ist heute nicht mehr dominant genug. Irgendeine unsichtbare Wand gibts aber immer, an der sich ein Unerfahrener die Nase blutig stoßen kann.

Lass die Fensterszene weg. Warum lässt er sich eine halbe Minute eiskalt vollregnen? Das ergibt für mich keinen Sinn.
Weil es zu „drückend“ wird, alternativ könnte er sich ohrfeigen, oder den Kopf gegen die Wand hauen, aber dann käme keine Frischluft rein. Natürlich: abkürzen könnte ich die Szene.

PS: Wieso blendest du deinen Kommentar eigentlich aus? Ich frage nur, weil mir jetzt auch nichts anderes übrig bleibt.


Schöne Grüße
steyrer
 

steyrer

Mitglied
Es war Projektwoche, aber Harald und Hugo saßen zu zweit im Klassenzimmer und schrieben Strafaufsätze. Zuvor hatte ihnen Klassenvorständin Grubermüller eine lange Ansprache gehalten und dann das Klassenzimmer verlassen. Das einzige Geräusch danach war der gegen die Fensterscheiben prasselnde Regen. Harald nahm Heft und Füllfeder, setzte sich zu Hugo und schüttelte den Kopf: „Das ist doch voriges Jahrhundert.“
„Unser Thema auch, und die paar uralten Laptops brauchen sie für ein Projekt, hoffentlich explodieren sie nicht“.
Harald murmelte etwas Unverständliches, danach riss er eine Seite aus seinem Heft und warf sie in den Papierkorb. „Noch eine geht nicht, ich bin schon auf der letzten. Mensch, ist das mies und erst der Vortrag von der Grubermüller, der war mehr als nur brutal: ‚Schandmäuler‘ haben wir also – ein interessantes Wort ist das – und Gewalt wär ‚von Übel‘, ja wirklich genau so: ‚von Übel‘, trotzdem sollen uns unsere Eltern endlich durchdreschen, weil alles seine Grenzen hätte und ein Beispiel sollen wir uns nehmen an der Annabelle, keine Ahnung warum, die war als Einzige nicht dabei. Ja, haben wir wirklich so einen Blödsinn verbockt?“
Hugo antwortete nicht sofort. Die Luft war staubig und stickig und die vielen Stühle auf den Tischen erschienen ihm wie Gespenster. „Wenn sie sehr empört ist, dann redet sie doch immer so und dumm oder gemein waren wir nicht – wir haben getan, was der Referent gesagt hat.“ Er sah an die leere Tafel und zitierte aus dem Gedächtnis: „‚Kritisiert und hinterfragt, nervt und protestiert, seid Sand im Getriebe!‘“ Danach wandte er sich wieder an Harald: „Du weißt ja: Niemand soll mehr Angst haben, nur weil er eine andere Meinung hat. Geklappt hat’s nicht, dafür hat mir dann leider der Himlitzer, dieser Skinhead, auf die Schulter gehauen und gemeint, dass ich es dieser ‚blöden, schwulen Sau‘ ganz prima reingesagt hätte. Nachgefragt habe ich nicht, von dem hab ich immer noch das blaue Auge, weil ich ihn einen Schlägertypen genannt habe.“
„Der Referent hätte uns am liebsten angezeigt“, murmelte Harald, „heilfroh sollen wir sein, dass wir noch minderjährig sind.“
„Und das ist noch nicht alles“. Hugo holte sein Smartphone aus dem Rucksack und hielt es Harald hin: „Weißt du, wie viele komische SMS ich heute schon bekommen habe? Der Speicher ist voll. Kein Wunder, die Sache ist in der Zeitung, der ‚Fakt‘, ganz groß und schau dir erst die Schlagzeile an: ‚Schüler leugnen Holocaust! Sind das noch Menschen?‘“
„Bei mir ist es dasselbe. Diese Zeitungsmenschen gehören aufgeklatscht.“
Hugo drehte seine Füllfeder in der Hand und betrachtete das Fakt-Logo auf der Kappe – die Zeitung sponserte die Schulutensilien und die Projektwoche. In den nächsten Minuten war nur das kratzende Geräusch der Federn zu hören, dann begann Harald wieder: „Warum schreiben die einen solchen Shit? Wir haben doch nichts geleugnet, sondern nur kritisch nachgefragt, was das hier eigentlich alles soll und ob das, was er vom Lager erzählt hat, nicht vielleicht doch nur ein Fake ist.“
„Ja, genau, das ganze Programm, damit wir und die anderen endlich bessere Menschen werden. Das glaub ich ja, aber wenn ich das mit dem Besserwerden einem Normalen erzähle, dann schaut mich der an, als ob ich nicht ganz dicht wäre. Komisch, nicht? Ich wollte also ausprobieren, ob der Referent das wirklich ernst meint. Und jetzt? Ist am Ende alles Theater?“
„Ich check’s auch nicht.“ Harald stützte die Ellenbogen auf den Tisch und drückte die Fingerspitzen gegen Stirn und Schläfen. Er saß so eine kurze Weile, dann fügte sich alles wie von selbst zusammen: „Die Anderen! Er hat alle Anderen gemeint, bei denen müssen wir dieser Sand sein und hinterfragen, kritisieren, nerven und protestieren, aber doch nicht bei ihm. Wir dürfen nur auf die Richtigen losgehen, auf die mit einer anderen Meinung.“
Hugo sah ihn zuerst fassungslos und dann erstaunt an, sagte eine Weile nichts und danach: „Da könntest du recht haben.“
Ein Sonnenstrahl brach durch die Wolkendecke, spiegelte sich in einem Fenster gegenüber und tauchte das Klassenzimmer in goldenes Licht. Beide lachten befreit auf.
„Dann müssen uns diese Tipps doch egal sein“, begann Hugo wieder und die Stühle erschienen ihm plötzlich wie Möbel und nicht mehr wie Gespenster, „ich fass es nicht. Solche Mühe habe ich mir gegeben, ehrlich, sogar meine Füllfeder ist abgebrochen und jetzt kommt mir alles wie ein Käse vor“.
„Ich habe nur den Text aus den Flyern umformuliert – zum Glück“, Harald wies auf ein paar Zettel, die vor ihm lagen, „und jetzt chill ich ein bisschen.“ Er lehnte sich zurück und surfte mit seinem Smartphone im Internet, aber nach einer Weile rempelte er Hugo an: „Dafür brauchen sie die Laptops: zum Bloggen! Die Annabelle schämt sich so und entschuldigt sich im Namen der ganzen Klasse.“
„Wieso? Die war doch gar nicht dabei?“
„Ja, als Einzige, weil ihr schlecht war, aber sie hat trotzdem einen Strafaufsatz geschrieben, nicht am Computer, sondern mit der Füllfeder, und alle haben unterschrieben, auch der Himlitzer“, er vergrößerte das Foto des Aufsatzes, „und jetzt schau dir an, wie die Grubermüller kommentiert: ‚Bravo, dies macht viel Mut! Weiter so‘. Er krümmte sich vor Lachen und schlug mit den Fäusten auf die Tischplatte: „Das macht ja wirklich viel Mut.“
Hugo lachte mit und der Klang ihrer Stimmen vermischte sich mit dem Glockenschlag einer Turmuhr. Er sah auf sein Smartphone: „Es ist fast vier, wir müssen die Aufsätze abgeben, aber weißt du, was ich grad für eine Idee hab? Ich sag künftig allen, die so drauf sind wie der Referent und die Grubermüller, ganz spontan irgendwas Liebes, Nettes, Schönes, das hilft ihnen ja vielleicht?“
Harald stand auf und setzte sich wieder an seinen Tisch: „Das probierst du aber bitte alleine aus.“
In diesem Augenblick rasselte die Schulklingel und von draußen näherten sich rasche Schritte.
„Na klar doch, und jetzt pass auf!“
 



 
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