Paul, das Flügelwesen

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Mistralgitter

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In diesem Fall hatte ich mich getäuscht. Das begann damit, dass ich das zartflügelige Wesen da vor mir auf dem Tisch gar nicht richtig einschätzen konnte. War es eine gemeine Stubenfliege oder eine Heuschrecke? Für eine Fliege sprach ihr Köperbau: grauschwarz mit irgendeinem undefinierbaren hellgrauen Muster. Man kennt das und schaut erst gar nicht richtig hin: schlanker Leib, darunter sechs gekrümmte Beine, auf dem Rücken zwei leicht abgespreizte Flügel. Von oben betrachtet bildet ihr Aussehen ein spitzwinkliges, lebendes Dreieck. Ich vermute mal, Fliegen sind 7 Millimeter lang.

Doch dieses Wesen war viel kleiner, vielleicht halb so lang. Die Proportionen stimmten mit denen einer Fliege überein. Nur die Flügel hatte es seitwärts an den Körper gelegt. Es sah dadurch sehr schlank aus. Die beiden Hinterbeine waren länger als die vier übrigen und abgewinkelt aufgestellt wie bei einer Heuschrecke. Wenn ich ganz still da saß, was ich im Übrigen selten tue, hörte ich auch ein feines Zirpen, wenn das Wesen nach Heuschreckenart seine Beine an den Flügeln rieb. Also war es doch keine Fliege, sondern eine Heuschrecke?

Egal. Ich nannte es Paul.
Paul und ich lebten nun schon eine ganze Weile mit einander. Es war gemütlich warm in meiner Wohnung auch im Winter, ich sorgte für genügend Nahrung und Wasser und war darauf bedacht, ihm keinen Schaden zuzufügen. Alle Stolpersteine räumte ich aus dem Weg, legte auf dem Fensterbrett in einem Blumenuntertopf einen kleinen Garten mit Kräutern an, darin sprang das kleine Krabbelwesen mit seinen Hinterbeinen geschickt umher, manchmal so ausgiebig, dass die feinen Kräuter ganz niedergetreten waren. Und ich lüftete regelmäßig. Ich spannte einen Seidenfaden zwischen den Fensterrahmen, auf dem es balancieren konnte, baute ein Röhrensystem aus Makkaroni-nudeln, damit es sich verstecken konnte. Ich ließ es auf den Saiten meiner Geige spazieren und sie leise zupfen. Es sollte für Paul ein Abenteuer sein, bei mir zu wohnen.

Eines Tages saß Paul auf der Fensterbank neben seinem Garten. Er sah viel mehr zusammengefaltet aus als sonst, und beim näheren Betrachten entdeckte ich, dass er an seinen Flügeln nagte. Das konnte nicht gut sein, dachte ich. Er kann ja keine Musik mehr machen und das Fliegen und Segeln in den Lüften bleibt ihm versagt.
„Paul, was ist los?“, fragte ich besorgt.
„Ich fühle mich unglücklich“, antwortete er. „Ich finde mich nicht hübsch genug. Und ich denke, ich bin unnütz.“
Was sollte ich antworten? Wie zeigt man einem Krabbelwesen wie Paul, was sein Leben wert ist?
„Für mich bist du der schönste und liebste Paul“, antwortete ich.
Er schaute mich zweifelnd an. Anscheinend genügte diese Antwort nicht. Deshalb redete ich schnell weiter, hob all seine Vorzüge hervor, lobte seine akrobatischen Kunstfertigkeiten und sagte, dass es mir Freude bereitete, wenn er musizierte.
Es dauerte einen ganzen Tag, bis er sein Tief überwandt. Eine lange Zeit für ein Flügelwesen wie Paul.

Seitdem achtete ich sorgfältig darauf, dass ich ihn rechtzeitig und immer mal wieder lobte, und dass ich mit seiner Versorgung mit Speisen und Leckerein und mit meiner Aufmerksamkeit nicht nachlässig wurde, damit er sah und hörte, dass er mir etwas bedeutete.

Er entwickelte sich prächtig. Die Spinnen im Raum scharten sich bewundernd um ihn und bauten ihm Netze, damit er bei seinen akrobatischen Übungen nicht zu Fall käme. Die Fliegen umtänzelten ihn und teilten mit ihm ihr Naschwerk. Mein Bernhardiner ließ es sich gefallen, wenn Paul auf seiner Nase herumstolzierte und die Ameisen bauten ihm einen Schlafplatz aus feinsten Ästchen und Laub. Paul hatte es gut.

Eines Tages kam Trude, meine Freundin zu Besuch. Sie hatte viel zu erzählen und Paul wurde neugierig. Er setzte sich auf ihre Schulter, um besser hören zu können. Ich erschrak und schrie unbedacht los: „Weg da, Paul!“ Trude hatte auch schon die Hand gehoben und schlug nach Paul, um ihn zu verjagen. Sie wunderte sich: „Mit wem redest du?“, fragte sie mich. Es war mir peinlich zu gestehen, dass ich mit einem Krabbeltier redete und so log ich: „Ach, mir fiel gerade das letzte Theaterstück ein, das ich sah. Da kam eine Stelle vor, wo eine Schauspielerin rief „Weg da, Paul“. Es war eine gefährliche Situation.“ Und um weitere Fragen abzuwenden, fragte ich schnell meine Freundin nach ihrem Vater.

Das war gut, denn meine Freundin begann ausführlich von allem zu erzählen, was ihr Vater nun machte, seitdem er allein war. Und welche Mühe sie mit ihm hatte. Immer öfter sei er unzufrieden und traurig, immer häufiger müsse sie seine Einkäufe erledigen, weil er zu schwach wurde. Und weil er menschenscheu wurde, musste sie ihm Gesellschaft leisten, seine Musik hören, seine Filme anschauen oder seine Bücher lesen. Er hatte sie ganz für sich in Anspruch genommen. Ein eigenes Leben sei fast nicht mehr möglich. Ich wunderte mich, dass meine Freundin das mit sich machen ließ, aber ich wusste ihr auch keinen Rat zu geben und hörte nur zu. Auch Paul hörte interessiert zu.

Als sie weg war, meinte Paul: „Pass bloß auf, dass du nicht einmal so wirst wie dieser Vater. Ich habe keine Lust, mich um dich zu kümmern.“ Das fand ich seltsam, schließlich war er ja nur ein Krabbeltier und niemals hatte ich daran gedacht, dass er im Alter einmal für mich sorgen müsste. Das war ja nun wirklich übertrieben. Aber der drohende Unterton verletzte mich. „Na, das werden wir ja sehen. Bis dahin ist noch gewaltig viel Zeit“, antwortete ich gereizt. Wie erwartet, kam es anders.

Eines Tages lag nämlich ausgerechnet Paul ermattet und mit ausgestreckten Beinen neben einer Blumenvase. Er atmete kaum noch. Vorsichtig kitzelte ich ihn im Nacken mit einer Daunenfeder, die ich aus meinem Winteranorak gezogen hatte. „Paul, was ist los?“, fragte ich besorgt. Er öffnete mühsam seine Augen und jammerte: „Mir ist so schlecht.“ Ich öffnete das Fenster und fächelte ihm frische Luft zu. „Wird es besser?“ „Nein“, krächzte er und fiel in eine tiefe Ohnmacht. Mir wurde ganz bang. Wie hilft man nur einem Krabbeltier? Ich hatte keine Ahnung. Da kam eine Ameise vorbei. Sie sah, dass mit Paul etwas nicht stimmte, und begann seine Füße mit Ameisensäure einzureiben. Es stank ganz säuerlich in meinem Wohnzimmer. „Weg hier!“ kommandierte eine fette Spinne, die wohl aus ihrem Netz oben in der Zimmerecke alles längst beobachtet hatte. „Er muss ins Krankenhaus.“ Sie hatte eine spinnenwebfeine Schleppe dabei, legte den bewusstlosen Paul hinein und vier Fliegen klebten sich die Enden der Schleppe an ihre Leiber, hoben sie zusammen mit Paul auf und flogen mit ihm aus dem Fenster. „Wo ist dieses Krankenhaus? Wo kann ich Paul besuchen?“, rief ich angstvoll hinterher. „Im Gebüsch bei den Bahnschienen, zweiter Ast rechts!“, riefen sie mir im Wegfliegen noch zu.

Gleich nach dem Frühstück ging ich zusammen mit meinem Bernhardiner los. An den Bahngleisen entlang gab es lange Heckenreihen. Wo aber war das Krankenhaus? So viel ich auch suchte, ich fand es nicht. Mein Bernhardiner lief lustlos neben mir her. „Kannst du mir suchen helfen?“, fragte ich ihn. Er schüttelte nur sein Fell und legte sich herausfordernd vor mir auf den staubigen Weg. Eigentlich war das das Zeichen für „Spiel mit mir“. Ich war aber traurig und hatte keine Lust. Ich wollte Paul finden. So blieb ihm nichts anderes übrig, als mit mir nach Hause zu trotten. Er legte sich beleidigt in seine Ecke und schloss die Augen. Als ich am Nachmittag seine Leine nahm, um ihn damit wieder hinaus zu locken, blinzelte er mich schläfrig an und rührte sich nicht. So ging ich die Strecke allein, diesmal in der entgegengesetzten Richtung, wieder ohne Erfolg. Zu Hause war es auffallend ruhig. Seltsamerweise blieb die Spinne weg und die Fliegen waren ebenfalls nicht mehr zu sehen. Es war alles rätselhaft.

Auch am nächsten und übernächsten Tag veränderte sich nichts: Paul, die Spinne, die Ameisen und die Fliegen blieben verschwunden. Ich säuberte die Wohnung, fegte die Spinnenetze weg, saugte die Krümel auf, warf das kleine Gärtlein in den Kompost, wischte die Ameisensäure vom Tisch und nahm traurig Abschied von meinen feingliedrigen Gesellschaftern. Eigentlich waren sie ja lästig gewesen, beruhigte ich mich.

Am vierten Tag entdeckte ich in einer Ecke meines Arbeitszimmers ein nur millimetergroßes Stückchen Papier. Ich wollte es gerade in den Papierkorb werfen, da sah ich, dass darauf in kleinsten Buchstaben etwas geschrieben stand. Ich musste eine Lupe nehmen, um es lesen zu können.
„Liebe Irene“, stand darauf. „Gräme dich nicht länger. Du wirst mich und die anderen nicht finden. Es musste so kommen. Das ist der Lauf der Welt. Aber ich habe dir etwas zurück gelassen. Jedes Mal, wenn du einen winzigen Fetzen Papier findest, wirst du darauf eine kleine Geschichte finden, die ich dir aufgeschrieben habe. Wirf es also nicht weg, sondern lies es! Manchmal wird es nur ein kleiner Gedanke sein, manchmal nur zwei Worte oder vier. Mach was daraus und du wirst viel Freude haben und Freunde gewinnen, die dir ebenbürtig sind. Und keine Krabbeltiere wie wir. Dann wirst du glücklich sein. Das wünsche ich dir. Danke für alles. Dein Paul.“

Was waren meine kläglichen Versuche, ihm Gutes zu tun im Vergleich zu dem, was er sich für mich ausgedacht hatte und nun als sein Vermächtnis vor mir lag?
Das war also Paul. Ich sagte ja schon: Ich hatte mich getäuscht.
 
Hallo Mistralgitter,

Der Titel deiner Gesichte hat mich neugierig gemacht und dein erster Satz hat mich dann richtig gepackt. Finde deine Geschichte sehr gelungen. Hab mich beim Lesen oft gefragt, bei was sich der Erzähler denn getäuscht hat und durfte bis zum Schluss gespannt sein.

Nur ganz am Anfang bei der Beschreibung des Tieres - da hab ich begonnen die Zeilen zu überfliegen. Vielleicht könnte man diesen Abschnitt kürzen. Du schreibst selber, dass es egal ist, was das Tier am Ende ist. Aber das ist wirklich nur ein minimaler Kritikpunkt.

Grüsse
müder Dichter
 

Mistralgitter

Mitglied
Hallo müder Dichter,

Danke für deinen Kommentar. Ja, du hast recht, dieser Anfangsteil sollte kürzer sein. Ich muss gestehen, dass es in meinem PC diese gekürzte Version schon gibt und ich aus Versehen blöderweise die "falsche" Version eingestellt habe. Also - wir sind uns einig!
Aber schön, dass dir die Geschichte sonst gefallen hat!
LG
Mistralgitter
 

Mistralgitter

Mitglied
In diesem Fall hatte ich mich getäuscht. Das begann damit, dass ich das zartflügelige Wesen da vor mir auf dem Tisch gar nicht richtig einschätzen konnte. War es eine gemeine Stubenfliege oder eine Heuschrecke?

Egal. Ich nannte es Paul.
Paul und ich lebten nun schon eine ganze Weile mit einander. Es war gemütlich warm in meiner Wohnung auch im Winter, ich sorgte für genügend Nahrung und Wasser und war darauf bedacht, ihm keinen Schaden zuzufügen. Alle Stolpersteine räumte ich aus dem Weg, legte auf dem Fensterbrett in einem Blumenuntertopf einen kleinen Garten mit Kräutern an, darin sprang das kleine Krabbelwesen mit seinen Hinterbeinen geschickt umher, manchmal so ausgiebig, dass die feinen Kräuter ganz niedergetreten waren. Und ich lüftete regelmäßig. Ich spannte einen Seidenfaden zwischen den Fensterrahmen, auf dem es balancieren konnte, baute ein Röhrensystem aus Makkaroni-nudeln, damit es sich verstecken konnte. Ich ließ es auf den Saiten meiner Geige spazieren und sie leise zupfen. Es sollte für Paul ein Abenteuer sein, bei mir zu wohnen.

Eines Tages saß Paul auf der Fensterbank neben seinem Garten. Er sah viel mehr zusammengefaltet aus als sonst, und beim näheren Betrachten entdeckte ich, dass er an seinen Flügeln nagte. Das konnte nicht gut sein, dachte ich. Er kann ja keine Musik mehr machen und das Fliegen und Segeln in den Lüften bleibt ihm versagt.
„Paul, was ist los?“, fragte ich besorgt.
„Ich fühle mich unglücklich“, antwortete er. „Ich finde mich nicht hübsch genug. Und ich denke, ich bin unnütz.“
Was sollte ich antworten? Wie zeigt man einem Krabbelwesen wie Paul, was sein Leben wert ist?
„Für mich bist du der schönste und liebste Paul“, antwortete ich.
Er schaute mich zweifelnd an. Anscheinend genügte diese Antwort nicht. Deshalb redete ich schnell weiter, hob all seine Vorzüge hervor, lobte seine akrobatischen Kunstfertigkeiten und sagte, dass es mir Freude bereitete, wenn er musizierte.
Es dauerte einen ganzen Tag, bis er sein Tief überwandt. Eine lange Zeit für ein Flügelwesen wie Paul.

Seitdem achtete ich sorgfältig darauf, dass ich ihn rechtzeitig und immer mal wieder lobte, und dass ich mit seiner Versorgung mit Speisen und Leckerein und mit meiner Aufmerksamkeit nicht nachlässig wurde, damit er sah und hörte, dass er mir etwas bedeutete.

Er entwickelte sich prächtig. Die Spinnen im Raum scharten sich bewundernd um ihn und bauten ihm Netze, damit er bei seinen akrobatischen Übungen nicht zu Fall käme. Die Fliegen umtänzelten ihn und teilten mit ihm ihr Naschwerk. Mein Bernhardiner ließ es sich gefallen, wenn Paul auf seiner Nase herumstolzierte und die Ameisen bauten ihm einen Schlafplatz aus feinsten Ästchen und Laub. Paul hatte es gut.

Eines Tages kam Trude, meine Freundin zu Besuch. Sie hatte viel zu erzählen und Paul wurde neugierig. Er setzte sich auf ihre Schulter, um besser hören zu können. Ich erschrak und schrie unbedacht los: „Weg da, Paul!“ Trude hatte auch schon die Hand gehoben und schlug nach Paul, um ihn zu verjagen. Sie wunderte sich: „Mit wem redest du?“, fragte sie mich. Es war mir peinlich zu gestehen, dass ich mit einem Krabbeltier redete und so log ich: „Ach, mir fiel gerade das letzte Theaterstück ein, das ich sah. Da kam eine Stelle vor, wo eine Schauspielerin rief „Weg da, Paul“. Es war eine gefährliche Situation.“ Und um weitere Fragen abzuwenden, fragte ich schnell meine Freundin nach ihrem Vater.

Das war gut, denn meine Freundin begann ausführlich von allem zu erzählen, was ihr Vater nun machte, seitdem er allein war. Und welche Mühe sie mit ihm hatte. Immer öfter sei er unzufrieden und traurig, immer häufiger müsse sie seine Einkäufe erledigen, weil er zu schwach wurde. Und weil er menschenscheu wurde, musste sie ihm Gesellschaft leisten, seine Musik hören, seine Filme anschauen oder seine Bücher lesen. Er hatte sie ganz für sich in Anspruch genommen. Ein eigenes Leben sei fast nicht mehr möglich. Ich wunderte mich, dass meine Freundin das mit sich machen ließ, aber ich wusste ihr auch keinen Rat zu geben und hörte nur zu. Auch Paul hörte interessiert zu.

Als sie weg war, meinte Paul: „Pass bloß auf, dass du nicht einmal so wirst wie dieser Vater. Ich habe keine Lust, mich um dich zu kümmern.“ Das fand ich seltsam, schließlich war er ja nur ein Krabbeltier und niemals hatte ich daran gedacht, dass er im Alter einmal für mich sorgen müsste. Das war ja nun wirklich übertrieben. Aber der drohende Unterton verletzte mich. „Na, das werden wir ja sehen. Bis dahin ist noch gewaltig viel Zeit“, antwortete ich gereizt. Wie erwartet, kam es anders.

Eines Tages lag nämlich ausgerechnet Paul ermattet und mit ausgestreckten Beinen neben einer Blumenvase. Er atmete kaum noch. Vorsichtig kitzelte ich ihn im Nacken mit einer Daunenfeder, die ich aus meinem Winteranorak gezogen hatte. „Paul, was ist los?“, fragte ich besorgt. Er öffnete mühsam seine Augen und jammerte: „Mir ist so schlecht.“ Ich öffnete das Fenster und fächelte ihm frische Luft zu. „Wird es besser?“ „Nein“, krächzte er und fiel in eine tiefe Ohnmacht. Mir wurde ganz bang. Wie hilft man nur einem Krabbeltier? Ich hatte keine Ahnung. Da kam eine Ameise vorbei. Sie sah, dass mit Paul etwas nicht stimmte, und begann seine Füße mit Ameisensäure einzureiben. Es stank ganz säuerlich in meinem Wohnzimmer. „Weg hier!“ kommandierte eine fette Spinne, die wohl aus ihrem Netz oben in der Zimmerecke alles längst beobachtet hatte. „Er muss ins Krankenhaus.“ Sie hatte eine spinnenwebfeine Schleppe dabei, legte den bewusstlosen Paul hinein und vier Fliegen klebten sich die Enden der Schleppe an ihre Leiber, hoben sie zusammen mit Paul auf und flogen mit ihm aus dem Fenster. „Wo ist dieses Krankenhaus? Wo kann ich Paul besuchen?“, rief ich angstvoll hinterher. „Im Gebüsch bei den Bahnschienen, zweiter Ast rechts!“, riefen sie mir im Wegfliegen noch zu.

Gleich nach dem Frühstück ging ich zusammen mit meinem Bernhardiner los. An den Bahngleisen entlang gab es lange Heckenreihen. Wo aber war das Krankenhaus? So viel ich auch suchte, ich fand es nicht. Mein Bernhardiner lief lustlos neben mir her. „Kannst du mir suchen helfen?“, fragte ich ihn. Er schüttelte nur sein Fell und legte sich herausfordernd vor mir auf den staubigen Weg. Eigentlich war das das Zeichen für „Spiel mit mir“. Ich war aber traurig und hatte keine Lust. Ich wollte Paul finden. So blieb ihm nichts anderes übrig, als mit mir nach Hause zu trotten. Er legte sich beleidigt in seine Ecke und schloss die Augen. Als ich am Nachmittag seine Leine nahm, um ihn damit wieder hinaus zu locken, blinzelte er mich schläfrig an und rührte sich nicht. So ging ich die Strecke allein, diesmal in der entgegengesetzten Richtung, wieder ohne Erfolg. Zu Hause war es auffallend ruhig. Seltsamerweise blieb die Spinne weg und die Fliegen waren ebenfalls nicht mehr zu sehen. Es war alles rätselhaft.

Auch am nächsten und übernächsten Tag veränderte sich nichts: Paul, die Spinne, die Ameisen und die Fliegen blieben verschwunden. Ich säuberte die Wohnung, fegte die Spinnenetze weg, saugte die Krümel auf, warf das kleine Gärtlein in den Kompost, wischte die Ameisensäure vom Tisch und nahm traurig Abschied von meinen feingliedrigen Gesellschaftern. Eigentlich waren sie ja lästig gewesen, beruhigte ich mich.

Am vierten Tag entdeckte ich in einer Ecke meines Arbeitszimmers ein nur millimetergroßes Stückchen Papier. Ich wollte es gerade in den Papierkorb werfen, da sah ich, dass darauf in kleinsten Buchstaben etwas geschrieben stand. Ich musste eine Lupe nehmen, um es lesen zu können.
„Liebe Irene“, stand darauf. „Gräme dich nicht länger. Du wirst mich und die anderen nicht finden. Es musste so kommen. Das ist der Lauf der Welt. Aber ich habe dir etwas zurück gelassen. Jedes Mal, wenn du einen winzigen Fetzen Papier findest, wirst du darauf eine kleine Geschichte finden, die ich dir aufgeschrieben habe. Wirf es also nicht weg, sondern lies es! Manchmal wird es nur ein kleiner Gedanke sein, manchmal nur zwei Worte oder vier. Mach was daraus und du wirst viel Freude haben und Freunde gewinnen, die dir ebenbürtig sind. Und keine Krabbeltiere wie wir. Dann wirst du glücklich sein. Das wünsche ich dir. Danke für alles. Dein Paul.“

Was waren meine kläglichen Versuche, ihm Gutes zu tun im Vergleich zu dem, was er sich für mich ausgedacht hatte und nun als sein Vermächtnis vor mir lag?
Das war also Paul. Ich sagte ja schon: Ich hatte mich getäuscht.
 

Sebahoma

Mitglied
Hallo Mistralgitter,

ich habe deine Geschichte gerne gelesen, auch wenn die Idee zunächst etwas seltsam klingt. Aber ich war gespannt, wie es weitergeht und der Mikrokosmos in diesem Zimmer bleibt interessant. Auch den Einstieg hast du gut gewählt.

Viele Grüße,
Sebahoma
 

Mistralgitter

Mitglied
Manchmal geht die Phantasie mit mir durch ... ;-) Ich freu mich natürlich über deine positive Rückmeldung - hab vielen Dank und viele Grüße
MG
 



 
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