Paul und Gerda - Nachtwache

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Paul und Gerda - Nachtwache

Freitagnacht in der grünen Siedlung, Hausnummer 83 rechtes Hochparterre, nach vorne raus im Schlafzimmer. Hier wohnen Gerda und Paul. Im graublauen Dämmerlicht der Nachttischlampe liegt Gerda in ihrem Bett. Auf dem Tisch rechts neben dem Kopfende stehen ein Glas Wasser, Medikamentenschachteln, ein Pillendosierer und eine Vase mit einer Rose neben einem Bilderrahmen.

Zwischen Bett und Fenster sitzt Paul in einem Ohrensessel, die Beine auf einem Hocker abgelegt, eine Wolldecke bis zur Nase hochgezogen. Er döst, während sie leise vor sich hin schnauft. Das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos schiebt sich durch die Lamellen der Fensterläden. Für einen Moment fließen Schattenstreifen die Wand hinter Gerdas Kopf herunter.

Das Bettzeug raschelt.

„Paul?“

Ihre heisere, trockene Stimme holt ihn aus seinen Gedanken. Sein Herz stolpert für einen winzigen Moment.

„Paule! Hörst du mich? Ich habe ihn wieder.“

Paul blinzelt, lächelt, schiebt seine Hände unter der warmen Decke hervor und sucht im Dämmerlicht ihre Hand. Zärtlich legt er sie zwischen seine. Erst dann sagt er: „Gerda, mein Täubchen, was hast du denn? “

„Na, ich hänge wieder da oben an dem Dings. Du weißt schon, zwischen irgendwo und nirgendwo.“

„Dann sag denen da oben mal, du willst noch nicht.“

„Ach Paul, ich kann nicht mehr. Ich häng fest an meinem Band, dem Faden. Es ist nur noch ein Fädchen. Wenn der reißt, bin ich weg. Paule, ich glaub, es ist so weit.“ Gerda gibt sich längst keiner Illusion mehr hin, Widerstand war sinnlos geworden.

„Nein Gerda, nicht heute Nacht.“

Neben sich hört er ihr kraftloses „Ich kann nicht mehr.“

„Doch Gerda. Du musst nur feste wollen.“

„Paule, du hast die Kinder.“

„Ich brauch dich. Die Kinder haben ihr eigenes Leben. Bitte Gerda, bleib für mich.“

„Ich will nicht mehr. Verstehst du das?“

Für einen Moment hält er den Atem an, zögert und sagt „Warum können wir nicht zusammen gehen?“ Er hört das Geraschel ihrer Decke.

„Paul, das darfst du nicht sagen! Du musst bleiben.“

„Ja, ich weiß“, seine Stimme klingt belegt. „Gerda, bitte entschuldige, lass uns morgen weiter reden“.

„Ach Paule, wir zwei hatten ein so schönes Leben, weißt du noch unsere goldene Hochzeit. Was für ein Fest! Du sahst so gut aus und alle waren da. Wann war das nochmal? Ja, ich weiß, dir war‘s ein bisschen zu trubelig, aber …“, wenn sie früher so in Fahrt kam, konnte sie die ganze Nacht durchplaudern.



Während Paul Gerdas vertraute Stimme hört, die immer leiser wird und dann verebbt, schaut er zum Nachttisch hinüber. Das Foto von Gerda und ihm. Beide blicken strahlend in die Kamera. Paul denkt an die Feier in ihrer kleinen Pfarrkirche vor drei Jahren. Gerda hätte die Erneuerung des Trauversprechens gerne im Dom zelebriert, doch er hatte energisch dagegengehalten. Es war ihm zu heilig er mochte es ein bisschen bescheidener. Damals ging es ihr noch gut. Die Krallen der Krankheit hatten sie erst später so richtig gepackt.

Er kann seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Gut, dass es so dunkel ist im Zimmer. Ja, er liebt sie immer noch. Er hat keine Zweifel. Sie sind nun schon so lange zusammen. Ein Leben ohne Gerda – wie soll das gehen? Mit einer Hand wischt er sich seine Wangen trocken und schluckt. “Gerda, mein Täubchen, es ist schon spät. Versuch zu schlafen.“

„Ich kann nicht.“

„Doch, mach die Augen zu und streng dich nur tüchtig an. Dann wird’s schon gehen.“

Ein paar Augenblicke später hört er ihr leises Schnaufen. Er rutscht tiefer in seinen Sessel und horcht in sich hinein.

Sie ist noch da, auch wenn sie immer öfter an ihrem Faden hängt. Sie ist noch da, das allein zählt. Das gibt ihm Kraft. Ja, auch das ist Glück. Es reicht für die Nacht und vielleicht noch ein oder zwei Stunden in den Tag hinein. Erst dann kommt der schlimmste Moment. Paul schüttelt den Kopf, um der hochkriechenden Angst Einhalt zu gebieten. Er hält noch immer ihre schmale Hand. Der Ehering ist viel zu groß geworden. Er dreht den Ring und versucht vorsichtig, die Spitze seines kleinen Fingers mit hineinzuschieben. Ein ganz winziges Stückchen geht es.

„Gerda, ich halt dich fest, ganz fest“, sagt er kaum hörbar in die Dunkelheit hinein.

Müde in seine Decke gekuschelt hört er ein Auto vorbeifahren und verfolgt die Schattenstreifen an der Wand.

Er hat aufgehört, die Nächte und die Autos zu zählen, denn er sitzt gerne hier und hütet die kostbaren Momente mit Gerda. Dafür lohnt sich die Unbequemlichkeit des Sessels. Endlich schließt auch Paul seine Augen und lässt sich in den Schlaf gleiten. Gerda gibt wie immer den Rhythmus vor. Nach einer kurzen Weile begleitet Paul ihr Schnaufen mit seinem gleichmäßigen Schnarchen. Bis in die hellen Morgenstunden erfüllt dieses fein aufeinander eingespielte Duett das Zimmer und belebt die Nacht. So wie immer.
 



 
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