"Perspektive"

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sufnus

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Hey Scal,

bei jedem Text gibt es ja eisbergmäßig die Spitze des Gesagten, die aus dem Meer des Ungesagten herausragt. Ah... das Bild ist noch ungenau in Bezug auf das Ungesagte. Was ich mit Letzterem meine, ist das, was zwar nicht direkt zur Sprache gebracht wird, aber im Gesagten auf ungesagte Weise zumindest als ein Potenzial mitschwingt.

Ich meine damit aber jetzt auch keinen direkten Subtext.
Also bei einer Aussage wie: "Ich kann mir schon vorstellen, dass jemand mit Deinem geistigen Horizont auf diesen... bemerkenswerten... Text sehr stolz ist", schwingt natürlich als direkter Subtext eine schwer zu überhörende Beleidigung und ein vernichtendes Urteil über den Text mit, auch wenn dies nicht explizit gesagt wird. Das meine ich mit Ungesagtem aber gerade nicht.

Was ich meine ist, dass man als Leser einem Text einen Kontext und/oder Voraussetzungen überstülpt und dadurch den Text an beiden Enden in eine mögliche "Geschichte" (die nicht narrativer Natur sein muss) verlängert. Sehr schön wird diese Kontext-Herstellung in der Krimikurzgeschichte "Ein Fußmarsch von neun Meilen" von Harry Kemelman illustriert. Nebenbei gesagt ein wirklicher Klassiker des Genres und für Freunde von Armchair-Detective-Stories sehr lesensempfehlenswert (derzeit sogar google-findbar ;) ).

Ich finde bei diesem Text ergibt die Ratio von Gesagtem zu Ungesagten einen besonders kleinen Wert (das klingt jetzt wie eine negative Kritik, dabei ist es Erfreunis), was daran liegt, dass hier so wenig Gesagtes genügt, um so viel Ungesagtes kontextualisierbar zu machen. Das gefällt mir ausgesprochen gut.

Übrigens komme ich persönlich (daher wohl auch mein obiges Krimibeispiel) hier zu einem Kontext der etwas unheimlicheren Art: Statt Perspektive lese ich Perspektiv, den alten Ausdruck für ein Fernrohr und in mir entsteht das Bild eines Stalkers, der dem lyrischen Du durchs Fenster nachspioniert. Bestimmt nicht Deine Intention, Scal, aber der Text bietet sehr viele Anknüpfungsmöglichkeiten an. Das ist ziemlich nice. :)

LG!

S.

P.S.:
Und wie findet man denn die Ratio von Originaltext zu Besprechungssermon? Bin ich nicht ein alter Laberkopp? :p
 

Scal

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Hallo Sufnus,

es ist, ja, bewunderunswürdig, wie Du ein "Möglichkeitsraum-Architektürchen" - wie beispielsweise hier - zu umspülen und zu umspielen vermagst; dabei öffnest Du oft Türen, die neue perspektivistische Ausblicke "zuraumen". Danke! (wollte eigentlich noch weiter ausholen, aber bin z.Zt. unterwegs).

Eigentlich hätte ich die drei Zeilen samt Titel wohl besser ins Tagebuch eintragen sollen, da sie sich tatsächlich aus einem realen, gestrigen Momentum ergaben. Ich erblickte in ihrem Zimmer auf "ihrem" Bett ein Buch mit dem Titel "Perspektive, leicht gemacht". Das "leicht gemacht" ergab schließlich den Anlass dafür, fragende Fühler auszustrecken.
Lesende werden dies auf je eigene Weise auch tun: ins "Frühlingliche" hinein oder "Herbstliche" oder ins "aktuell Sehentliche" - wie auch immer.

Lieben Gruß
Scal
 



 
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