Perspektivwechsel

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lietzensee

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Perspektivwechsel

Als er aus der Universität nach Hause kam, war es schon fast dunkel. Er schloss die Tür auf und ging durch den Innenhof. Sein Kopf schmerzte vor mathematischen Problemen. Hinter den Mülltonnen blieb er stehen und sah sich um. Etwas stimmte hier nicht. Er ging einen Schritt zurück. „Hallo“, rief er und lauschte. Doch niemand antwortete. Nur weit über ihm lärmten Radios. Er ging noch einen Schritt zurück, um die Form in der anbrechenden Dunkelheit besser erkennen zu können. Es blieb kein Zweifel, mitten auf dem Hof stand ein Karton. Er schätzte ihn vierzig Zentimeter hoch und hundertsechzig Zentimeter lang. Für einen Moment überlegte er, ob dieser Karton etwas Gefährliches enthalten könnte. Aber etwas Gefährliches konnte doch niemand einfach auf dem Hof abstellen. Andererseits, auch einen Pappkarton sollte niemand einfach auf dem Hof abstellen. Vorsichtig trat er mit der Schuhspitze gegen die Pappe. Der Karton war leer. Er hasste nicht entsorgten Müll und hätte vor Wut fast geschrien. Aber einen Schrei im Hof brachte er natürlich nicht über die Lippen. Er griff den Karton, zog ihn zur Altpapiertonne und steckte ihn aufrecht hinein. Er tat das, was man mit leeren Verpackungen tun musste. Befriedigt schloss er den Deckel. Aber ganz ließ die Tonne sich nicht mehr schließen. Der blaue Deckel stand etwas offen. Er drückte. Es blieb ein Spalt. Ein irritierender Spalt. Ein Spalt zwischen blauer Tonne und blauem Deckel, der sich einfach nicht schließen ließ. Er presste die Fingernägel in seine Handflächen. Dann zog er den Karton wieder heraus.
In seiner Wohnung betrachtete er diesen Karton zum ersten Mal im vollen Licht. Der Karton stand auf dem Wohnzimmerteppich und er ging um ihn herum. In die Tonne würde er passen, wenn man ihn mit einer Schere zerschnitt. Dabei musste man natürlich sauber arbeiten. Immer an den Pfalzen entlang schneiden und die so entstandenen Rechtecke halbieren, bis sie in die Tonne fürs Altpapier passten. Er blieb stehen. Aber den Karton aufzuschneiden, brachte er nun nicht mehr übers Herz. Er betrachtete die geraden Kanten, die klare geometrische Form. Es war angenehm, dass dieser Karton nicht durch Aufkleber oder Werbung verunstaltet war. Nur an seiner Schmalseite trug er ein schwarzes Piktogramm. Das zeigte drei gekrümmte Pfeile. Der erste Pfeil begann links unten waagerecht, knickte dann ab und zeigte nach rechts oben. Der zweite Pfeil führte diese Richtung zuerst fort, knickte ab, und zeigte nach rechts unten. Der dritte Pfeil führte die Richtung fort, knickte ab und zeigte nach links auf den Beginn des ersten Pfeils. Alle drei zusammen bildeten ein gleichseitiges Dreieck.
Nun hatte er also einen Karton. Daraus ergab sich ein Problem. Einen Karton besaß man, um etwas hineinzulegen. Er griff den Staubsauger aus dem Regal und legte ihn vorsichtig in den Karton. Das passte. Zum Sauger gehörten die Austauschbürsten, die er vorsichtig in die freien Ecken schob. Auch das passte. Aber als er noch die Verlängerung des Saugrohres obenauf legte, ragte diese über den Rand des Kartons. Er holte alles wieder hinaus, legte das Rohr schräg in den Karton, daneben die Bürsten und darauf den Staubsauger. Aber so bildete sich in der Flanke des Kartons eine Beule. Der Anblick schmerzte. Hastig verwahrte er Sauger und Zubehör wieder im Schrank und lief durch die drei Zimmer seiner Wohnung. Da gab es viele Dinge, zu viele Dinge. Manche waren zu groß für den Karton. Manche waren zu klein für den Karton. Manche hatten unregelmäßige Formen, die den klaren Kanten des Kartons Hohn gesprochen hätten. Zurück im Wohnzimmer lief er auf und ab. Er ahnte nun die Agonie, die ihn befallen würde, sobald etwas in den Karton legte. Selbst wenn es gut hineinpasste, bald würde er Sachen finden, die vielleicht noch besser passten. Endloses Ausprobieren der endlosen Kombinationen, sein Schritt beschleunigte sich. Er würde nie zufrieden sein. Einen Karton zu haben, war etwas Schreckliches. In gewisser Weise vergrößerte er die Unordnung in der Welt.
Oder musste er die Sache aus einer anderen Perspektive betrachten? Er stoppte und blickte auf den Karton vor ihm. Vielleicht gab es eine Lösung. Sein Herz schlug schneller. Immer nur ein paar Sachen ordentlich in einen Karton zu legen, half nichts. Sowas musste man grundsätzlicher angehen. Er lachte kurz, denn die Kollegen in Cambridge hätten das wohl als Out of the box thinking bezeichnet. Aber seine Gedanken zielen auf das genaue Gegenteil.
Er machte zwei hohe Schritte, bückte sich und zog die Deckel des Kartons über sich zu. Die Luft um ihn schmeckte nach warmem Papier. Das war nicht unangenehm. Er schob seine Glieder in eine symmetrische Passform und schloss erlöst die Augen. Er definierte außen jetzt neu und auf der Welt gab es nur noch ihn. Der ganze, unordentliche Rest war sauber innen im Karton verpackt.
 

Matula

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Lustig ! Das Problem ist nur, dass der "ganze unordentliche Rest" auf der Oberfläche gespeichert wird, die damit stärker als das Volumen wächst. Der Karton ist nämlich ein Schwarzes Loch !

Schöne Grüße,
Matula
 

GerRey

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Hallo lietzensee!

Ich nutze hier die Gelegenheit, einmal was Nützliches in punkto Alt-Papiertonne zu sagen: Kartons sollte man zuvor zusammenklappen, damit die Tonne platzsparend befüllt werden kann: Ich jumpe mal kurz von oben drauf, um den Karton zu plätten, bevor ich ihn einwerfe.

Für einen kurzen Moment fühlte ich mich an Samuel Beckett erinnert. Die Figuren - der "Er" und der Karton - scheinen Inhaltslos (abgesehen von den unverdauten mathematischen Problemen), sodass man schon im zweiten Drittel des Textes auf den Gedanken kommt, dass es nur die Lösung geben kann: Entweder kommt der Karton in ihn - oder umgekehrt.

Die Szenerie ist gut. Wenn man dem Mann einen Namen und ein Profil gibt, wird daraus Literatur - aber die Geschichte verliert ihre Abstraktheit, was ein Teil ihres Reizes ist.

Ich habe sie mit Interesse gelesen - besonders gut finde ich sie aber nicht.

freundlichst

GerRey
 

lietzensee

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Vielen Dank für eure Rückmeldungen und Bewertungen!

Über das schwarze Loch könnte der Protagonist mit seinen Physiker Kollegen streiten.

Wenn man dem Mann einen Namen und ein Profil gibt, wird daraus Literatur
Hallo GerRey, an welche Art von Profilierung denkst du hier? Mehr Backstory für den Protagonisten? Mehr Charakterisierung bei Aussehen, Bewegungen usw?
Namen nutze ich meist nur, um eine Figur von der anderen zu unterscheiden und hier gibt es ja nur einen Protagonisten. Ich glaub ehrlich gesagt auch nicht, dass Literatur mit Namen steht oder fällt.

Viele Grüße
lietzensee
 

GerRey

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Hallo lietzensee!


In der Regel möchte man schon gerne wissen, wer das ist, der hier handelt. Ist es der Professor Hummel, kommt durch den Namen allein schon etwas mehr Witz hinein. Aber dadurch verändert sich die Geschichte. Es ist ja die Frage, wie weit mag man gehen? Wenn der Professor Hummel jetzt auch noch ein seltsamer Kauz ist, wird der Kampf mit der Schachtel zu einem ganz anderen Überlebenskampf. Bleibt "Er" unpersönlich, dann solltest Du auch Cambridge und die Mathematik-Probleme streichen, die ja in eine bestimmte Richtung weisen.

Die Prämisse ist; Da ist eine Schachtel, in die gehört etwas hinein. Er ist unzufrieden mit den Dingen, die ihm zur Verfügung stehen. Für ihn entwickelt sich das Problem mit dem Karton zu den mathematischen Problemen hinzu. Aber warum hüpft er am Ende selbst hinein? Weil ihn der Kopf schmerzt? Ich möchte wissen, was ihn dazu veranlasst.

freundlichst

GerRey
 
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lietzensee

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Hallo Gerey,
vielen Dank für deine Rückmeldung.

Es ist ja die Frage, wie weit mag man gehen?
Stimmt, das ist eine wichtige Stilfrage. Man kann einen Charakter mit mehr oder weniger Strichen zeichnen. Ich halte mich dabei meist zurück. Ich arbeite lieber mit Andeutungen, als mit zu vielen Deails. Bzw versuche ich nur wenige, gezielte Details zu setzen. Erzählökonomie ist mir sehr wichtig.

Bleibt "Er" unpersönlich, dann solltest Du auch Cambridge und die Mathematik-Probleme streichen, die ja in eine bestimmte Richtung weisen.
Hier haben wir wohl einen unterschiedlichen Geschmack. In eine bestimmte Richtung zu weisen, ist für mich gerade die richtige Menge an Hintergrund. Aber es freut mich, dass du auf diese zwei Stellen gestoßen bist.

Ist es der Professor Hummel, kommt durch den Namen allein schon etwas mehr Witz hinein.
Nimm es mir nicht übel, aber das wäre nicht mein Humor. Der Protagonist ist auch weniger als Kauz gedacht, eher als überspannt und mental instabil. Ich werde ihn aber trotzdem nicht Spannkiefer nennen.

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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