Pfeiler der Erinnerung

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GerRey

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Die Erinnerung an meine Schulzeit ist nur noch fragmentarisch vorhanden und kaum mehr zusammensetzbar, ohne etwas völlig anderes daraus zu machen. Und dennoch ist es erstaunlich, mit welcher Deutlichkeit Einzelheiten in diesen Ruinen stehen geblieben sind. Die vier kräftigsten Burschen unserer Klasse mussten für den Musikunterricht das schwere Harmonium aus der Schulaula ins Klassenzimmer heranschaffen. Keinem von uns vieren behagte dieser Dienst, weshalb wir uns so viel Zeit wie möglich ließen und uns darüber amüsierten, dass die Lehrerin damit weniger Zeit haben würde, in die Tasten zu schlagen und mit ihrer lächerlichen Inbrunst und in ihrer lauten und sich überschlagenden Gesangsstimme uns zu einem Liedgut zu zwingen, zu dem wir keinerlei Bezug mehr hatten. Es gab jüngere Musiklehrer, die dort mit ihren Schülern zeitgemäßere Stücke einstudierten.
Der “Mucki” z.B. Er war modern, und hatte schwarze, schulterlange Haare, trug immer eine dunkle Sonnenbrille und nur Jeans, oft auch karierte Holzfällerhemden. Sein Gang auf hochhackigen Schuhabsätzen war lässig und federnd, und er verwendete statt einem Harmonium eine Gitarre und ließ seine Schüler “Blowing In The Wind” von Bob Dylan singen. Aber er spielte ja auch damals Gitarre in einer Rockband. Dass er sich ebenfalls für unsere junge Englischlehrerin interessierte, die mit wippendem Minirock über die Gänge des Schulhauses stöckelte, sodass ihre eigene, ganz besondere Melodie in uns nachzuklingen begann, störte ein wenig den Glanz seines Ansehens unter uns Burschen.
Aber der “Mucki” war und blieb trotzdem ein Idol - welches unsere Klasse leider nicht hatte. Wir durften lediglich das Harmonium für die ältliche Lehrerinnenmatrone (mit ihrem breiten Stockerlarsch unter dem weißen Arbeitskittel) heranschleppen und damit das peinigende Singen aus ihrem grellrot und dick angemalten Lippenstiftmund ein wenig verzögern, bevor es dann mit der Nummer eins der Volkslied-Hitliste “Unterm Dach juchhe” bis ins Mark von uns gequälten Hinterbänklern hinein wirklich losging.
Mich wundert, dass dieser Pfeiler aus dem Rahmen meiner Schulgeschichte noch immer so mächtig und erinnerbar hervorragt, sodass ich mich jetzt frage, ob die anderen drei, die mit mir das unhandliche Harmonium getragen haben und von denen ich kaum mehr einen Namen weiß, dies auch so lange in ihrer Erinnerung behalten haben. Schließlich hatte diese nach der Schulzeit keine Bedeutung mehr - oder vielleicht doch? Eine, die wir bereits vergessen haben, die abgetaucht ist und von Grund her diesen Pfeiler nach oben treibt, um uns auf etwas anderes in diesem Zusammenhang aufmerksam zu machen?
Wer weiß …?
An die Beine der Englischlehrerin kann ich mich jedenfalls besser erinnern als an den Sperling, der da seine Jungen “unterm Dach juchhe” hatte.
 
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aliceg

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Hallo, GeRey,

schon lange nichts mehr von dir gelesen, und jetzt einen Schwank aus deinem Schulleben!
Vergnüglich, was einem die Erinnerung so in die Gedankenwelt spült!

lg aliceg

PS noch ein kleiner Tipp: zur besseren Lesbarkeit bitte mehr Absätze!
 

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Mich wundert das gar nicht so sehr, lieber GeRey.

Immerhin sind damals Welten aufeinandergeprallt und das in einem Setting, wo man als Schüler am kürzeren Hebel sitzt und nicht viel tun kann außer das Erdulden zu lernen.

Auch die Erkenntnis, dass es solche und solche gibt unter den Lehrkräften, will erst mal verarbeitet werden. Da klafft an der einen Stelle eine Kluft, wie sie größer nicht sein könnte, und an der anderen fühlt man sich gar nicht so weit voneinander entfernt oder tritt vielleicht sogar schon in Konkurrenz.
Und - auch, wenn es niemand gerne thematisiert und zugibt - das Bewältigen-Müssen von extremer Fremdscham ist stressiger, als man es vielleicht vermuten möchte....doch zugleich ist diese Lehrerin ihrer Überzeugung gefolgt und das unbeirrt. Das kann auch - egal jetzt wie lächerlich - etwas Respekteinflößendes haben - ob man das nun wahrhaben will oder nicht. Ein eigenartiger Empfindungs- und Erfahrungsmix also, der sich da bildet. So etwas bleibt schon allein deshalb - wenn auch unbewusst und unverarbeitet - in Erinnerung, weil es eben irgendwie sperrig ist. VomWahrnehmungs- und Empfindungsstatus des heranreifenden Jünglings, der gerade erst dabei ist, sein ganz persönliches Frauenbild für sich zu formen, rede ich erst gar nicht... :cool:

Trotzdem - ich wage mich mal weit vor und behaupte: die Inbrunst und Unbeirrbarkeit, die hier von einer auch noch wenig attraktiven (also quasi weit abseits jeglicher Möglichkeit irgendwie zu punkten) weiblichen Lehrperson vorgelebt wurde, ist das, was diesen Pfeiler so fest im Boden verankert. Denn die hat sie vorgelebt. Und um die könnte man sie durchaus auch beneiden, wie ich meine...

Anschaulich, unterhaltsam und nachvollziehbar geschildert.
Ich bin mir allerdings sicher, dass der "Mucki" außer Sonnenbrille und Jeans auch noch etwas am Oberkörper trug (auch, wenn es im Text so formuliert ist, als wäre er oben ohne rumgelaufen ;) ).

Sehr gerne gelesen (und falls sich der leise Verdacht auftut, hier hätte eine weibliche Lehrkraft kommentiert, kann ich nur sagen: stimmt). :cool::D

LG,
fee
 

GerRey

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@ aliceg

@ fee_reloaded

Ich danke herzlichst fürs Lesen und die Ratschläge, die ich gerne zur besseren Lesbarkeit und Darstellung aufgegriffen habe. Da ich mich nicht besonders zu Blöcken, die sich hier gerne formieren, hinzugezogen fühle, halte ich hin und wieder auch längere Abstinenz. Aber es ist schön, in Erinnerung zu sein.

Dass beide meinen Namen (der ja nur ein erfundener ist) verfälscht haben, kratzt keineswegs an den Hüllen meiner Eitelkeit, und es wäre mir sicherlich auch nicht aufgefallen.

Auch möchte ich sagen, dass diese Lehrerin sehr wohl respekteinflößend war. Schließlich hatten wir sie auch in Mathematik, Physik und Chemie - Fächer, die durchaus schweißtreibend für mich waren. Und manchmal - bei Unachtsamkeit oder Blödeleien unsererseits - machte sie ihrem Nachnamen (Zorn) auch alle Ehre. Ich würde sogar sagen, dass eine gewisse Achtung aus dem Umstand gegeben war, weil die Frau Fachlehrerin Zorn - eine hochgewachsene energische Person - am Ende ihrer Karriere stand, was für uns kaum Identifizierungspotential bot. Mit dem "Mucki" wollte jeder in einer Band spielen ... von der Englischlehrerin will ich gar nicht reden.

Gruß
GerRey
 

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...
Auch möchte ich sagen, dass diese Lehrerin sehr wohl respekteinflößend war. Schließlich hatten wir sie auch in Mathematik, Physik und Chemie - Fächer, die durchaus schweißtreibend für mich waren. Und manchmal - bei Unachtsamkeit oder Blödeleien unsererseits - machte sie ihrem Nachnamen (Zorn) auch alle Ehre. Ich würde sogar sagen, dass eine gewisse Achtung aus dem Umstand gegeben war, weil die Frau Fachlehrerin Zorn - eine hochgewachsene energische Person - am Ende ihrer Karriere stand, was für uns kaum Identifizierungspotential bot. ...
Ah, ja, lieber GerRey,

das erklärt so Einiges. Ich hatte auch noch (und das in den späten 70ern!) ein solch "lebendes Fossil" in Chemie und eins in Geschichte (beide männlich in meinen Fall). Letzter kam noch mit Rohrstaberl in die Klasse (auch, wenn er es nur noch zum Zeigen an der Tafel benützte...was aber so gut wie nie geschah).

Das weiße Mäntelchen war mir auch schon beim Lesen aufgefallen - das ist für MusiklehrerInnen doch nicht so typisch. Aber bei den Stressfächern Chemie, Physik und Mathematik (auch meine unheilige Dreifaltigkeit zu Schülerzeiten) ist die Kombination mit Musik dann auch wieder erstaunlich. Da war dann wohl auch dieser Kontrast mit etwas, das auffällt und sich eingräbt in die Erinnerung.

Die Erfahrung, wie man als ältere weibliche Lehrperson wahrgenommen wird, ist mir leider selbst (aus gesundheitlichen Gründen) verwehrt geblieben, ich hatte allerdings einige Kolleginnen, die ich mir durchaus als Vorbild gewählt hätte. Sie alle zeichnete aus, dass sie immer noch für ihre SchülerInnen "greifbar" waren und nicht vergessen hatten, wie es war, als sie selbst Schülerinnen waren... ;)

Ich kann mir die Frau Fachlehrerin Zorn gut vorstellen. Gerade Naturwissenschaftlerinnen sind - auch (oder vielleicht vor allem) in der Wahrnehmung anderer Frauen - eine ganz eigene Sorte Mensch. Definitiv respekteinflößend. Ich glaube, weil sie so auffallend gradeheraus und unbeirrbar sind. Aber zugleich sind sie irgendwie auch oft ein wenig "fern" und schwer zugänglich, habe ich festgestellt. (Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel).

Auf jeden Fall finde ich deine Fragestellung nach dem Grund für das so lange nachwirkende Bestehen dieses Pfeilers nach wie vor sehr spannend. Und gut geschrieben sowieso. Nochmals gerne gelesen!

LG,
fee
 

GerRey

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Liebe fee,

recht herzlichen Dank!

Ich wüsste tatsächlich nicht zu sagen, ob ich zu diesem Zeitpunkt (Anfang der 70er) die Haare bereits über die Schultern wachsen hatte lassen, ob noch meine Eltern für mein Outfit verantwortlich zeichneten oder ob dieses schon meine eigene Handschrift trug. Es war zwar irgendwann da - aber ich denke, der Gedankenpfeiler hat eine frühere Entstehungsgeschichte und hat mit der seinerzeitigen neuen Lässigkeit, die sich aus der damaligen Rockmusik (Deep Purple, Jethro Tull, Led Zeppelin, Black Sabbath ...usw.) erwuchs, nichts zu tun. Er scheint eine Vorstufe zu sein, die vielleicht mehr Aufmerksamkeit erfordert?

Mucki war also das Vorbild und der scharfe Schnitt von der Tradition in die Moderne.

Beim Lesen deiner Zeilen fiel mir auf, dass du die Kombination von Mathematik, Chemie, Physik und Musik erstaunlich findest. Ich musste dabei an "Das Glasperlenspiel" von Hermann Hesse denken. Ist die Mathematik nicht eine Disziplin, mit der sich die Musik vergleichen lässt? Die eine besteht aus Zahlen, die andere aus Noten - und beide führen in die Unendlichkeit.

In Deutsch, Geschichte und Geographie hatte ich einen sehr beleibten Lehrer, dessen Attribut ein kerkerähnliches Schlüsselbund war. Mit diesem pflegte er schon auch mal herumzuschießen, wenn er mangelnde Aufmerksamkeit gewahrte. Er warf die Schlüssel zwar nicht nach Schülern - aber wenn die vor einem auf die Bank knallten, wusste man auch, was oder wer gemeint war. Er hatte einen orangefarbenen VW-Käfer, den er an der Wand vor dem Schuleingang parkte. Man traf sich damals vor dem Eingang und ging kurz vor Unterrichtbeginn in die Klassenzimmer. So bekamen wir mit, wie der schwergewichtige Lehrer aus seinem "Buckel" stieg und dieser dann erleichtert aus den zusammengedrückten Stoßdämpfern kam - als würde er einen Freudensprung machen. Jahre später (ich war längst aus der Schule) hatte ich dann zwei-, dreimal Alpträume, in denen ich von einem orangefarbenen VW-Käfer verfolgt wurde. Dabei lag einiger Glanz auf den Noten, die ich von diesem Lehrer bekommen hatte (er ließ auch einige Aufsätze von mir in anderen Klassen vorlesen).

Mit Verwunderung habe ich festgestellt, dass ich wohl den verbesserten Text nicht gespeichert hatte ... Hoffe das jetzt bleibend nachgeholt zu haben!

Gruß
GerRey
 

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Mitglied
Beim Lesen deiner Zeilen fiel mir auf, dass du die Kombination von Mathematik, Chemie, Physik und Musik erstaunlich findest. Ich musste dabei an "Das Glasperlenspiel" von Hermann Hesse denken. Ist die Mathematik nicht eine Disziplin, mit der sich die Musik vergleichen lässt? Die eine besteht aus Zahlen, die andere aus Noten - und beide führen in die Unendlichkeit.

Schön gesagt und da stimme ich dir auch zu, lieber GerRey.

Die Kombination ihrer Fächer erklärt auch die Liedwahl und den Zugang der Frau Zorn zur Musik, wie ich finde. Eben eher von der numerischen und streng auf Tradition fußenden Seite her als von der gefühlvollen. Ich denke da auch an meinen Mann, der Mathematiker ist und Musik ganz anders wahrnimmt als ich zum Beispiel. So richtig habe ich das erst in unseren Tanzkursen erkannt, wie sehr er da versucht Ordnungen herauszuhören (die ihn dann aber eher irritierten, weil er zu viele davon findet), während ich der Musik eher mit dem Gefühl und quasi "ganzheitlicher" folge.

Insofern ist die Kombination wohl tatsächlich weniger erstaunlich (auch mein Mann hat schon immer gerne Musik gehört) als ich zunächst dachte.

Ach ja....unsere LehrerInnen und die mit ihnen verbundenen Erinnerungen...wie lebendig und zahlreich diese in uns noch nach Jahrzehnten wirken, sagt doch Einiges darüber aus, wie gewichtig dieser Lebensabschnitt für uns aus Sicht der Prägung ist und wie sehr Schule Teil hat an unserer Menschwerdung. Auch, wenn das Meiste wohl eher "unkontrolliert am Rande" der Lehrstoffvermittlung passiert. ;)

Liebe Grüße,
fee
 



 
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