Pflasterspektakel (2025)

5,00 Stern(e) 3 Bewertungen
Ist grad Pflasterspektakel bei uns in Linz.
Aus aller Welt kommen Straßenkünstler zusammen und die Innenstadt verwandelt sich in eine bunte Bühne.
Eine schöne Idee - sie will nur nicht mehr recht zünden.
Dass diese Welt ein großes freundliches Dorf ist, wo sich die Erdlinge gegenseitig einladen und besuchen und mit ihren jeweiligen Besonderheiten gegenseitig bereichern, erfreuen, inspirieren… man kann fast nicht mehr so tun als ob.
Als ob alles in Ordnung wäre.
Als ob sich alles schon gut und richtig entwickeln wird.

„Aus Argentinien“ lese ich auf dem Schild einer Artistengruppe und ich denke an das südamerikanische Land unter der harten Knute dieses wahnsinnig-brutalen Kapitalisten, der sich für seine gesellschaftsfeindlichen Pläne sogar mit der Kettensäge versinnbildlichen lässt.
Solche Leute fuhrwerken grad nicht nur in Argentinien.
„Soziales kürzen“ und „Reiche schonen/anhimmeln/mit Leistungsträgern verwechseln“, dieses Programm fährt man ja überall schon; mal mit, mal ohne Kettensäge.
Ein Wunder, dass die Stadt überhaupt noch das Geld fürs Pflasterspektakel zusammenkratzen kann; ein Wunder, dass Argentinien neben kapitalistischem Extremismus noch was anderes in die Welt entsendet.

Apropos:
Während der Darbietung eines Akrobaten fährt plötzlich ein wahnsinnig teures Auto auf den Tummelplatz ein. Das ist ungewöhnlich, der Innenstadtbereich ist für den Verkehr eigentlich gesperrt an diesem Tag.
Der Wagen ist so protzig, dass er sogar mir auffällt. Der Fahrer hat die volle Aufmerksamkeit des Publikums sofort. Ein Raunen geht durch die Menge, der Akrobat ist vorerst abgeschrieben. Der Luxus-Typ wendet dann auch aufreizend langsam, lässt den Motor aufheulen, bleibt demonstrativ direkt vor den Versammelten stehen. Lässig lässt er den Arm aus dem Fenster hängen, markante Sonnenbrillen verdunkeln seine Augen, er grinst.
„Oh!“ und „Ah!“ macht die Menge und hat nur noch Augen für die mattlackierte Luxuskarosse.
Der Akrobat reagiert freilich blitzschnell und baut den ungebetenen Statisten kurzerhand in sein Programm ein. Er läuft rüber zu dem Gefährt und bedeutet ihm mit ausladenden Bewegungen, es solle sich gefälligst vom Acker machen und ihm nicht die Show stehlen, die Leute lachen.
Ein bisschen grinst der Fahrer noch, dann zieht er wieder ab – unter Applaus. Wobei nicht ganz klar ist, wem dieser nun gegolten hat.

Zwischen den auftretenden Künstlern sieht man auch andere Straßenmenschen.
Obdachlose wollen ihre Straßenzeitung verkaufen oder bitten auf dilettantisch beschriebenen Pappschildern um Geld.
Ältere Männer ziehen mit großen Müllsäcken umher und durchforsten die Mistkübel nach Pfandflaschen.
Man lässt sie gewähren, aber ich bemerke den irritierten Blick einer jungen Frau, während der Alte neben ihr im Müll fischt.

Der Mann, der der auf seinem Fahrrad Protestplakate gegen das Gemetzel in Gaza und Informationen zum Thema befestigt hat, ist auch da.
Er hat seine Schautafeln um die neuesten Meldungen erweitert, etwa, dass der israelische Holocaustforscher Omer Bartov zum Schluss gekommen ist, „dass Israel einen Genozid gegen das palästinensische Volk begeht".
Der Gaza-Mann ist wie ein Mahnmal im bunten Treiben, leider braucht es das in diesen Tagen.

Ein Künstler aus Israel soll ebenfalls beim Pflasterspektakel auftreten.
Zumindest, wenn es nach dem ausgedruckten Programm geht. Dort steht was von Ungarn und Israel als Herkunftsland bei einem der Artisten; im Internet hat sich die Information seltsamerweise auf „Ungarn“ verkürzt.
Extra suche ich nach diesem Künstler. Ich will wissen, was nun auf dem Schild steht, das die Künstler während der Darbietungen für gewöhnlich neben sich aufstellen, um die Zuschauer über das Herkunftsland zu informieren.
Eine Antwort finde ich nicht. Das besagte Schild wurde abseits auf dem Boden liegend platziert, und zwar so, dass man das angegebene Land nicht erkennt, während der Israeli auftritt.

Ist alles nicht einfach heutzutage.
„Viele Tote nahe einem Hilfszentrum in Gaza“ titeln die Nachrichten an diesem Tag. „Viele“ schreiben sie, weil kaum noch einer mehr mitzählt.
Es sind mindestens 37 Menschen, denen von israelischen Soldaten das Leben genommen wurde in den letzten Stunden, es könnten auch mehr sein. Zusätzlich zu den zehntausenden Toten seit Beginn dieses Abschlachtens 2023. Jetzt haben sie verhungernde Menschen im Visier, denen sie zuerst Nahrung und alles vorenthalten und dann erschießen sie die Verzweifelten auf der Suche nach Essbarem.
Wäre ich Israeli, ich würde wohl ebenfalls hadern mit meiner politischen Führung und hätte vielleicht Skrupel, den Namen meiner Heimat stolz vor mir herzutragen.
Bitte nicht falsch verstehen: Ich bin froh, dass der Slapstickkomiker mit israelischem Background heute hier ist. Er kann nichts dafür, er hat vermutlich nicht getötet mit diesen Händen, die er ins Clownskostüm steckt.
Und nein, ich will nicht, dass sich dieser sympathische junge Mann hier erst auserklären muss, ehe er seine Show starten darf - aber ich wünschte mir, diese Welt wäre eine andere, um sie zu feiern.

Diese Welt ist nicht logisch.
Sie ist getrieben von Wahnsinn, von Hass, von Gewalt, Gier und Geld.
Sie spaltet sich entlang von erklärten Feindesgrenzen und noch nicht mal gestandene Kulturevents vermögen das noch zu kitten.

Demgemäß:
Einen russischen Künstler sucht man auf dem Pflasterspektakel vergebens.
Es ist undenkbar geworden, dass die Stadt eine Einladung in diese Richtung aussprechen oder eine Bewerbung aus Russland annehmen könnte.
Im Netz finde ich einen Zeitungsartikel von 2002, der russische Künstler im Zusammenhang mit dem Straßenfest noch explizit erwähnt. 2002, das ist langvergangene Zeit.

Soll es nun keine russischen Straßenkünstler mehr geben?
Ich muss an den Song „Leningrad“ von Billy Joel denken, der die Begegnung zwischen dem Musiker und einem russischen Clown beschreibt, damals in den 1980ern, zur Zeit des Kalten Krieges.
Joel spielte zu jener Zeit Konzerte in diesem abgetrennten Drüben, in Russland. Der Clown tat, was Clowns tun und brachte die kleine Tochter des Musikers zum Lachen. So wurden sie Freunde, der Clown aus Russland und der Sänger aus den USA, allen Umständen zum Trotz.
„We never knew what friends we had until we came to Leningrad“ endet das weltbekannte Lied.

Ich denke daran, während am Straßenfest Sänger singen und Clowns Faxen machen.
Welcher Star würde heute nach Russland reisen, um dort Konzerte zu geben? Mir fällt keiner ein.
Wie sollen wir heute dahinterkommen, dass uns viel mehr verbindet als uns trennt, dass wir alle nur Menschen sind und überall Freunde haben können - wenn wir uns so gar nicht mehr austauschen, einladen, besuchen?
Wirklich haben wir die Verbindungen nach diesem Drüben heute stärker gekappt als damals zur Zeit der Systemfeindschaft, das ist nachhaltig giftig und macht so gar keinen Sinn.
Was muss sich ein Russe denken, der die Leute als Spaßmacher einfach nur erfreuen will, wenn er dezidiert ausgeschlossen wird aus der Gemeinschaft der internationalen Straßenkunst? Er hat doch gewiss auch nicht mit diesen Händen getötet, die er ins Kostüm steckt.

Es ist nicht logisch, wie und wen wir sanktionieren.
Und überhaupt, das mit den Sanktionen ist doch pechschwarze Pädagogik, egal, wohin man schaut.
Bringt immer nur neue Härte, Feindschaft, Zumutungen. Nie was Gutes.

Ich frage mich, wie die Leute wohl reagieren würden, würde tatsächlich „Russland“ auf dem beigefügten Info-Schild eines darbietenden Künstlers stehen. Der hätte wohl bald ärgere Probleme und müsste sein Schild noch besser verstecken als der Künstler aus Israel.
Es ist wahrlich zu befürchten, dass die Gedankenlenker da draußen schon ganze Arbeit geleistet haben und das Publikum würde den Betreffenden sogleich aufs peinlichste schmähen, verachten. Mindestens würden sie ihn nötigen, sich umgehend und ausgiebig von seinem Herkunftsland zu distanzieren, ehe er vielleicht Späße, Lieder oder sonst eine Kunst machen dürfte.
Man hätte die Idee des Festivals spätestens da komplett vergessen und verdreht.

Die Idee dieser Veranstaltung wäre ja eigentlich:
Alle zusammenbringen. Alle möglichen Menschen aus allen möglichen Ländern, um der Welt zu zeigen:
So fröhlich, freundlich und friedlich wollen wir miteinander tun; egal, woher wir kommen.
Wir wollen das Gute miteinander teilen, wir wollen lachen und leben und lustig sein.
Die Jetzt-Zeit offeriert uns gute Möglichkeiten, damit wir friedvoll und mit positiver Energie in die Zukunft gehen, die wir aktiv mitsammen gestalten….

So hat man schließlich auch seit jeher fürs Linzer Pflasterspektakel geworben.
Man hat das Völkerverbindende, das Gute als Wegweiser vorangestellt.
Leider zündet diese Idee nicht mehr richtig in der gelebten Gegenwart.
Diese Gegenwart ist schon hauptsächlich gespickt mit Ängsten und Drohungen.
Armut grassiert auch in reichen Ländern mit bunten Festivals; auf der Straße grüßt uns Obdachlosigkeit und Elend schon weit häufiger als lebendige Kunst.
Wir gestalten kaum noch. Wir werden von scheinbaren Notwendigkeiten und von vermeintlichen Alternativlosigkeiten getrieben, die wir nicht hinterfragen sollen.
Wir werden kaum noch gefragt. Was wir wollen, was für Mehrheiten gut wäre, ist zweitrangig und ist auch meist unwillkommen, weil es sich nun mal nicht mit geldgetriebenen Absichten deckt.
Schon überall in der Welt sollen wir Feinde sehen und bestenfalls noch ausgesuchte Verbündete gegen den Feind.
Wir separieren uns mit Absicht von diesen und jenen, während wir mit anderen willig in die Schlacht ziehen.
Die Völker werden eingeschworen aufs Kriegerische, werden jeweils kriegstüchtig und friedensvergessen gemacht.
Ein neues Wettrüsten bricht alle Rekorde, ein jeder munitioniert sich auf bis an die Zähne, die nur noch zubeißen, nicht mehr freundlich lächeln können.
Prinzipiell müssen wir einander übertrumpfen, Geschäfte zum eigenen Vorteil machen und den anderen sagen, wo’s lang geht.
Für das lustige, konstruktive, wirksame Miteinander gibt es keine wirklichen Räume mehr, keine positiven Aussichten, nur ausnahmsweises So-tun-als-ob.

Wenn wir heute am Pflasterspektakel lachen und lustig sind, so tun wir das längst nicht mehr, um selbstbewusst und überzeugt unsere Lebensweise und die Gegenwart oder eine Zukunft zu feiern.
Wenn überhaupt, so ist dieses Fest bloß ein kurzer Ausbruch aus einer Realität, die uns hinterher, wenn die Spaßmacher weitergezogen sind, nur umso brutaler im Würgegriff hält und im Großen und Ganzen nirgendwo hinführt.

Linz, 19. 07. 2025​



Quellen:




 
An wirena & Aniella!

Danke für eure Bewertungen!
Die beigefügten Begründungen habe ich noch rechtzeitig gelesen, ehe sie in der Timeline nach unten gerutscht sind. Danke auch dafür!

Schade eigentlich, dass diese verbalen Begründungen nicht mehr sichtbar sind, sobald sie von der Startseite verschwinden (eventuell ein Hinweis an die Redaktion).

Mit liebem Gruß,


Erdling
 

wirena

Mitglied
Schade eigentlich, dass diese verbalen Begründungen nicht mehr sichtbar sind, sobald sie von der Startseite verschwinden (eventuell ein Hinweis an die Redaktion).
...da stimme ich dir vollkommen bei Erdling - hoffe Forenredaktoren sehen dies ebenso und ändern's -

frohes Weiterwirken, einen schönen Tag wünsche ich und verbleibe :) wirena
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Dichter Erdling,

ja, manche Auswirkungen spürt man erst so nach und nach.
Wenn alles Symbolpolitik geworden ist, erstarren auch die positiv besetzten Symbolhandlungen zu schalen Gesten, sind ihres Sinnes und Wertes beraubt.
Schade, wenn das zu viele nur als Grund zum Abfeiern sehen und den Verlust nicht spüren.

Liebe Grüße
Petra
 
Hallo SilberneDelfine,

Okay, jetzt hab ich’s.
Man muss auf das eigene Profil klicken, während man angemeldet ist.
Alles klar,

Erdling
 
Ich meinte eigentlich, man klickt auf das Profil desjenigen, der Sterne vergeben hat und dann unter „Finden" auf seine Inhalte. Aber egal, ist ja gut, wenn man die Begründungen auch auf dem eigenen Profil findet.

LG SilberneDelfine
 



 
Oben Unten