Philosophische Betrachtung lackierter Fingernägel (→ ändern wirklich ALLES!)

4,00 Stern(e) 1 Stimme
Meine Nägel halte ich kurzgeschnitten.
Halte es gefühlsmäßig nicht gut aus, wenn sie über die Fingerkuppe wachsen. Das stört ja doch nur beim Arbeiten und beim Schreiben auch.
Im Gegensatz zu meinen Fußnägeln, die ich immer hübsch lackiert habe, bleiben meine Fingernägel übers Jahr meistens nackt.
Nur hin und wieder überkommt es mich und ich greife mir eins der bunten Glasfläschchen heraus, um auch meine Griffel farbig zu verschönern.
Dann kommt es drauf an.

Greife ich zu den hellen Pastelltönen, die sich von der Naturnagelfarbe kaum unterscheiden, passiert nicht viel. Rosé, Fliederfarben, Nuancen in Beige oder Klarlack machen keinen Unterschied.
Allerdings, entscheide ich mich für ein tiefes Bordeaux, dunkles Braun, Grau, vielleicht auch Saphirblau, Petrol oder Beerentöne… legt sich in meinem Kopf ein Schalter um.
Ab da betrachte ich meine Hände als etwas vollkommen Neues, das nicht wirklich zu mir und meiner, so scheint es mir, simplen Persönlichkeit dazugehört.
Es ändert sich alles.
Nicht mehr sind das die
nichtssagenden, bedeutungslosen Hände,
dumme kleine Kinderpatschen,
manchmal entstellt von
Schnittverletzungen,
Schwielen,
Kratzern,
wie sie beim Kochen und beim Tun oft anfallen,
oh nein.
Nicht mehr Hände, die
sich ungelenk und tölpelhaft durch die Welt hanteln,
die beim Abwaschen das Wasserglas zerbrechen,
deren Feinmotorik keinesfalls eine Stärke ist,
die noch nie einen Ball sonderlich gut fangen oder abschießen konnten,
die im Kaffeehaus die großformatige Zeitung nur so halbwegs zusammenfalten,
die immer leicht nervös zittern und nie so recht wissen, wie sie im freien Stand gehalten werden wollen und
die sich beim Außerhausgehen dankbar am Griff einer Handtasche festhalten, um nicht unentschlossen im Wind zu schlackern.
Nach dem Lackiervorgang sind diese Hände vollkommen andere.

Wirklich spüre ich das Mikrogewicht der Lackierung auf meinen Fingerspitzen – aber nicht als Belastung, vielmehr als krönenden Schmuck, dessen ich mir fortan jede Minute bewusst bin.
Schick und mondän empfinde ich nun diese zehn Fingerenden, deren Gebärden, so scheint es mir, plötzlich gekonnt und sehr erwachsen sind.
Ich merke, ich gestikuliere auf einmal deutlich mehr und wie durch ein Wunder hat sich auch das leise Zittern weitgehend eingestellt.
Soll mir nur ein jeder auf die Finger schauen!
Anmutig und grazil beschreibt der Zeigefinger einen Halbkreis, ehe er im Bus auf den Aussteigknopf drückt. Reibt sich lasziv an seinem Nachbarn, dem Daumen, statt verschämt mit den anderen in der Manteltasche zu verschwinden.
Nette Farbe habe ich mir ausgesucht, nicht?
Seht nur, wie sich das matte Herbstlicht in der glattpolierten, weinrot überzogenen Oberfläche spiegelt! Cooler Kontrast zum toffeefarbenen Mantel.
Edgy, also eigenwillig kantig und sophisticated, souverän. Diese Worte bedeuten was.
Das sind jetzt die Hände einer kultivierten Frau, die weiß, was sie tut.
Die weiß-Gott-was mit ihren Händen anstellen kann.
Inbegriff einer sinnlichen Weiblichkeit, ernsthaft. Lässig. Abgeklärt. Nimmt die Dinge in die Hand.
Die lackierten Nägel fliegen über die Tastatur.
So derart selbstbewusst, dass sie schließlich über sich in persona schreiben.

Eine gute Zeitlang geht das so dahin.
Die Schminkerei der Nägel ist ja an sich relativ effizient und hält jedenfalls länger als das Bepinseln von Augen, Lippen und Wangen, wo die Farbstoffe ja doch täglich neu auf- und abgetragen werden wollen.
Einige Tage hält der Anstrich schon, egal, was man tut, ehe das große Abblättern beginnt und der Nagellackentferner ranmuss.
Weil, naja, alles hat ein Ablaufdatum.
Damit muss man sich abfinden.

Vermutlich würde auch die besondere, allesverändernde Wirkung der lackierten Fingernägel mit der Zeit erheblich nachlassen, wären sie so selbstverständlich durchgängig lackiert wie ihre Zehenschwestern.
Auf das Zaubermittel sollte ich von daher wohl besser nicht zu oft zurückgreifen. Der Zauber wirkt nur wohldosiert.
Den Großteil vom Jahr muss ich mich wohl mit meinen Händen abfinden, wie sie naturbelassen nun mal die meinen sind.
 

fee_reloaded

Mitglied
Das sind jetzt die Hände einer kultivierten Frau, die weiß, was sie tut.
Die weiß-Gott-was mit ihren Händen anstellen kann.
Inbegriff einer sinnlichen Weiblichkeit, ernsthaft. Lässig. Abgeklärt. Nimmt die Dinge in die Hand.

:cool: Sehr schön formuliert!!!!

Zu allem, was du schreibst von mir ein lautes "Ja! Genau so isses!" , liebe Dichter Erdling!
Hab ich sehr gerne gelesen und mich fast vollinhaltlich wiedergefunden. Schon schräg, was so eine kleine Veränderung bewirkt. Ich frage mich ja, wieviel Anteil an dieser gefühlten Veränderung tatsächlich auf die visuelle Wahrnehmung der betonten Fingerspitzen zurückzuführen ist, und wieviel auf den psychologischen Teil des Denkens und Sichtbar-Machens, dass man einen Körperteil von sich liebend und wertschätzend ins Rampenlicht gerückt hat. Spannend, oder?

LG,
fee
 
Liebe, gute Fee!

Freut mich, wenn ich bei dir einen Nerv getroffen habe!
Hab Dank für deine schöne, überlegte Antwort und die weiterführenden Gedanken.

Beste Grüße,

Erdling
 



 
Oben Unten