Picaflores und Patienten

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Picaflores und Patienten

I. Patienten

„Wer Visionen hat“, so lautet lapidar ein Rat,
„der soll zum Arzt gehen.“ – doch in der Praxis gähnt die Leere.

Die, die man dort hinschickt,
haben da nichts verloren:

Querdenkende Leerläufer, kreative Schultrödler,
die beim Dösen dauernd eins auf den Deckel kriegen,
Pioniere mit Muße und Mut zum entschleunigten Träumen,
Spinner und Phantasten halt - solche, wie die von damals,
die vom Fliegen und Wahlrecht für Frauen fabulierten.

Potentielle Patienten, die dort hingehen müssten,
schickt man gar nicht erst hin:

Ultralauflebenszielfreaks, Bausparneoromantiker,
die beim ersten Küssen mit ihrer neuen Flamme
heimlich Eheverträge im Hinterkopf skizzieren,
auf ihren hippen Lippen ein ewiges Geflüster:

"Was bringt mir dies?
Was bringt mir das?“

Besitzer von Fitnessuhren, die immer fetter werden,
tief verschollen im Urwald eigener Erwartungen,
greifen zur Beruhigungsbrille gegen den zu klaren Blick
auf ihre pinken Lebensziele, propagiert von
cleveren Kommerzvisionären.

Labilität, frustriert-ekstatisch: bipolar.

Eines Tages wachst du auf und bist allein unter Narren,
die sich kaputtlachen, wenn du hinfällst und ein Huhn kackt.
Man badet in Maden, statt sich mit den Alten zu beraten.

„Wollt ihr wirklich diese Rose?“

Oma und Opa könnten euch in eine stabile Seitenlage bringen,
euch ein Lied davon singen, wie sie war:

die Entäußerung eigener Visionen
an semikomplexe Quacksalber,
falsche Heroen und Scharfmacher
zwischen Orient und Okzident.

II. Picaflores

Gestern Nacht zog mich ein Regenbogen in den feuchten Nebelwald.
Dort wurde ich zum Picaflor und schwirrte übers‘ Blütenmeer,
von Feuerland, Brasilien bis nach Südalaska,
ein Kosmopolit im Kaleidoskop der Diversität,
verewigt in den Zeichnungen der Nasca-Wüste,
ein winziger Blütenpicker mit einem Riesenherzen,
der die Blumen küsste, bestäubte und dabei Nektar tankte,
begleitet von einem schimmernden Heer aus Bienenelfen,
das mir die raubenden Vögel von meinen Jungen verscheuchte.

Ich weiß noch, wie sich Waterton bei mir bedankte.
Ich umsauste ihn wie ein pfeilgewordener Gedanke,
und dem Igor wurde ich zur Sikorsky.

Heute Nacht brennen Brasiliens Regenwälder.
Ich fülle meinen Schnabel mit Wasser
und werde das Feuer
Tropfen für Tropfen
löschen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 24893

Gast
Picaflores und Patienten

I. Patienten


„Wer Visionen hat“, so lautet lapidar ein Rat,
„der soll zum Arzt gehen.“ – doch in der Praxis gähnt die Leere.

Die, die man dort hinschickt,
haben da nichts verloren:

Querdenkende Leerläufer, kreative Schultrödler,
die beim Dösen dauernd eins auf den Deckel kriegen,
Pioniere mit Muße und Mut zum entschleunigten Träumen,
Spinner und Phantasten halt - solche, wie die von damals,
die vom Fliegen und Wahlrecht für Frauen fabulierten.

Potentielle Patienten, die dort hingehen müssten,
schickt man gar nicht erst hin:

Ultralauflebenszielfreaks, Bausparneoromantiker,
die beim ersten Küssen mit ihrer neuen Flamme
heimlich Eheverträge im Hinterkopf skizzieren,
auf ihren hippen Lippen ein ewiges Geflüster:

"Was bringt mir dies?
Was bringt mir das?“


Besitzer von Fitnessuhren, die immer fetter werden,
tief verschollen im Urwald eigener Erwartungen,
greifen zur Beruhigungsbrille gegen den zu klaren Blick
auf ihre pinken Lebensziele, propagiert von
cleveren Kommerzvisionären.

Labilität, frustriert-ekstatisch: bipolar.

Eines Tages wachst du auf und bist allein unter Narren,
die sich kaputtlachen, wenn du hinfällst und ein Huhn kackt.
Man badet in Maden, statt sich mit den Alten zu beraten.

„Wollt ihr wirklich diese Rose?“

Oma und Opa könnten euch in eine stabile Seitenlage bringen,
euch ein Lied davon singen, wie sie war:

die Entäußerung eigener Visionen
an semikomplexe Quacksalber,
falsche Heroen und Scharfmacher
zwischen Orient und Okzident.

II. Picaflores

Gestern Nacht zog mich ein Regenbogen in den feuchten Nebelwald.
Dort wurde ich zum Picaflor und schwirrte übers‘ Blütenmeer,
von Feuerland, Brasilien bis nach Südalaska,
ein Kosmopolit im Kaleidoskop der Diversität,
verewigt in den Zeichnungen der Nasca-Wüste,
ein winziger Blütenpicker mit einem Riesenherzen,
der die Blumen küsste, bestäubte und dabei Nektar tankte,
begleitet von einem schimmernden Heer aus Bienenelfen,
das mir die raubenden Vögel von meinen Jungen verscheuchte.

Ich weiß noch, wie sich Waterton bei mir bedankte.
Ich umsauste ihn wie ein pfeilgewordener Gedanke,
und dem Igor wurde ich zur Sikorsky.

Heute Nacht brennen Brasiliens Regenwälder.
Ich fülle meinen Schnabel mit Wasser
und werde das Feuer
Tropfen für Tropfen
löschen.
Spur II. eine Blitzlichterscheinung nachts. Da ist noch mehr als Feierabend, Artbeck.
 
Hallo fee_reloaded, hallo Reisende,

Vielen Dank für eure Wertschätzung meines doch in die Jahre gekommenen, fast schon fossilierten Textes, wer hätte das gedacht ...

Gruß,
Artbeck
 



 
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