"Nein, Jörg, natürlich musst du nicht, wenn du nicht willst. Ich komme auch ohne den Vortrag zurecht, so ist es nicht. Vermute halt, der bringt da Sachen, die meinem Referat ... den letzten Schliff ..., weißt du? Und ich kann morgen Abend höchstwahrscheinlich nicht, kann nicht weg beim Fußball. Werd's versuchen, aber wenn, dann ist das Beste sicher längst vorbei. Also!?"
Habe Peter heute noch, nach 30 Jahren, im Ohr, meinen Schulkameraden. Er war ehrgeizig in Deutsch und überhaupt allen Sprachen, wollte zuhause aller Welt beweisen, dass er prädestiniert war für ein Sprach-Literaturstudium. Und nicht für eins in Medizin oder Pharmazie, wie ihn Eltern und Geschwister beschworen.
Also ließ ich mich platt schlagen. Beruhte bei uns schließlich alles auf Gegenseitigkeit. "Notier nicht jede Kleinigkeit", gab er mir noch mit, "nur so die Hauptgedanken. Alles betreffend Thomas Mann, um den geht's mir."
Mannomann! denke ich noch heute, wenn ich an diesen unsäglichen VHS-Vortrag denke. Da stimmte rein nichts.
Erinnere mich noch genau an das Thema: "Spielarten von Humor und Ironie in der deutschen Literatur von Lessing bis Thomas Mann unter besonderer Berücksichtigung des späten Mann".
Mannomann! Wenn es für mich noch eines letzten Anstoßes bedurfte, alle damaligen Flausen betreffend Sprach- und Literaturstudium endgültig abzuschreiben, dem Vater ohne weitere Widerreden ins Reich der Juristerei zu folgen, dann lieferte ihn dieser Vortrag. Und der Referent. Der vor allem.
Die Miene, mit der der da hockte! Der eher kleine Vortragssaal war nur halb gefüllt, ältere Damen in der Mehrzahl. Von kleinem Wuchs war er, dabei massig, etwa Mitte 50, Hornbrille. Neben ihm als Kontrast der schmalbrüstige VHS-Leiter Krenz. So ein fieser Schmiss lief quer über die rechte Wange der Herrn Vortragenden, ich vermutete, schlagende Verbindung. Herrisches Kramen in seinen Unterlagen, ungeduldige Gesten. Meine Güte, dachte ich nur. Na, dem fehlt jetzt noch eine Pickelhaube auf'm Schädel wie zu Zeiten von Preußens Gloria.
VHS-Leiter Krenz tritt pünktlich um 20.00 Uhr an das kleine Rednerpult, hat aber noch keine drei Sätze formuliert, da bricht im Saal die ultimative Version von Humor aus. Er hatte sich erlaubt, den Referenten als den "weithin bekannten Professor Dr. W." vorzustellen, den man für den heutigen Abend gewonnen habe.
"Dr. Dr. h.c.", zischt es von rechts.
"Wie meinen?"
"Sag's nochmal: Dr. Dr. h.c.! Dr. phil., Dr. jur. h.c., genau gesagt. Auf Letzteres erlaube ich mir eben so viel Wert zu legen wie auf meinen eigentlichen akademischen Titel, Herr Krenz. Verdanke ich einer ausführlichen und fundierten Analyse von Kleists 'Zerbrochenem Krug'. Machte seinerzeit in unserer Juristischen Fakultät Furore, wissen Sie? Und den Professor", setzte er, offensichtliche Verletztheit mit einem säuerlichen Grinsen überspielend, hinzu, "den lassen Sie mal weg. Privatdozent."
Ach du Heiliger, dachte mein damaliges Ego. Es bekam weiteres Futter. Der da vorn: "Naja, der Informationsstand gewisser VHS-Leiter - kann man vergessen. Und ansonsten, wenn ich mich hier umschaue, mit Werbung im Vorfeld des Abends hatten Sie ja offenbar allerlei Probleme, wie?"
Krenz ließ sich nicht irritieren. In aller Ruhe machte er auf weitere Literatur-Veranstaltungen aufmerksam, unter anderem seine eigene Vortragsreihe über ausgewählte Komödien des 19. und 20. Jahrhunderts. Das sei ja so weit weg vom Thema des heutigen Abends nicht.
Der mit der gedachten Pickelhaube: "Sagen Sie mal, wer trägt hier heute Abend vor, Sie oder ich?" Blick auf seine Uhr: "Um 21.58 geht mein Spätzug. Mein Vortrag dauert exakt eine Stunde. Gewiss hat der eine oder die andere am Ende Fragen. Also bitte!"
Womit er - Krenz wusste, was sich gehörte - das Wort nicht mehr los ließ. In einem atemberaubenden Tempo, inhaltlich für mich und das ganze Auditorium von Anfang an viel zu hoch, zu unanschaulich, hinweg donnerte über 99 Prozent der Köpfe. Hatte er das alles für ein fachlich hoch versiertes Publikum verfasst? Wer sollte da folgen bei diesen Begriffskaskaden über Humor im allgemeinen und im Spezialfall, über Scherz, Satire, Ironie und allerlei tiefere Bedeutung? So wie er sie sah. Na, dachte ich, wenn's ihn denn glücklich macht.
Ich war ratlos. Was sollte ich für Peter notieren? Dreißig Namen fielen, was weiß ich - Lessing, Grabbe, erinnere ich mich, Hauptmann. Nur einer nicht - Manns Thomas. Von wegen Humor - zu lachen gab es nichts. Ich sah mich um, für niemanden. Nicht mal Schmunzeln, ironisches, war drin. War ja nicht ungefährlich in Gegenwart von dem da.
Heureka! Endlich doch. "Ich komme nun, wie im Titel meines Vortrags angekündigt, zu jenem Autor, dessen Spätphase hier Gegenstand einer besonderen Beleuchtung ..."
Ich ganz Ohr, den Kugelschreiber in Habacht, da passiert Furchtbares: Peter erlaubt sich, es ist exakt 20.34, den Vortragssaal unserer städtischen VHS zu betreten. Hat er sich also doch losgerissen von seinen Kickern, sieht mich, eilt auf mich zu.
Pickelhaube unterbricht seinen Sermon: "Sagen Sie mal, sind Sie verrückt?"
"Wie?" krächzt das kleine Peterle und pfuscht sich auf den Stuhl neben mir. "Konnte nicht eher."
"Student oder was?
"Abiturient."
"Auch nicht besser."
Vortragender hat Probleme, den Faden wieder aufzunehmen. Peter flüstert in die Stille hinein: "Haste notiert? Zeig mal."
Donner von vorn: "Sie zwei. Jetzt reicht es endgültig."
Mir auch. Mir reichte es bis oben hin. Was hatte ich weiter zu schaffen mit diesem Literatur-Feldwebel?
"Hier, Alter", schrei ich lauter als Pickel plus Haube an Peters Adresse, "mach's selbst, bist ja jetzt hier. Und Sie, Herr Dr. Dr. h.c. - tschüs!"
Zwänge mich unter Aufruhr durch die Sitzreihen, habe die Türe bereits halbwegs geschlossen, da denke ich, nee, Pickel, so einfach nicht!
Krame den berühmten Satz hervor, den ich im Deutschunterricht im Jahr zuvor auswendig gelernt hatte, wandle ihn ab und deklamiere brüllend:
"Vor Ihro kaiserliche Majestät, vor der der Literatur und vor allem der des Humors und der ironischen Rede, hab' ich, wie immer, schuldigen Respekt. Er aber, sag's ihm, er kann mich im Arsche lecken!"
Habe Peter heute noch, nach 30 Jahren, im Ohr, meinen Schulkameraden. Er war ehrgeizig in Deutsch und überhaupt allen Sprachen, wollte zuhause aller Welt beweisen, dass er prädestiniert war für ein Sprach-Literaturstudium. Und nicht für eins in Medizin oder Pharmazie, wie ihn Eltern und Geschwister beschworen.
Also ließ ich mich platt schlagen. Beruhte bei uns schließlich alles auf Gegenseitigkeit. "Notier nicht jede Kleinigkeit", gab er mir noch mit, "nur so die Hauptgedanken. Alles betreffend Thomas Mann, um den geht's mir."
Mannomann! denke ich noch heute, wenn ich an diesen unsäglichen VHS-Vortrag denke. Da stimmte rein nichts.
Erinnere mich noch genau an das Thema: "Spielarten von Humor und Ironie in der deutschen Literatur von Lessing bis Thomas Mann unter besonderer Berücksichtigung des späten Mann".
Mannomann! Wenn es für mich noch eines letzten Anstoßes bedurfte, alle damaligen Flausen betreffend Sprach- und Literaturstudium endgültig abzuschreiben, dem Vater ohne weitere Widerreden ins Reich der Juristerei zu folgen, dann lieferte ihn dieser Vortrag. Und der Referent. Der vor allem.
Die Miene, mit der der da hockte! Der eher kleine Vortragssaal war nur halb gefüllt, ältere Damen in der Mehrzahl. Von kleinem Wuchs war er, dabei massig, etwa Mitte 50, Hornbrille. Neben ihm als Kontrast der schmalbrüstige VHS-Leiter Krenz. So ein fieser Schmiss lief quer über die rechte Wange der Herrn Vortragenden, ich vermutete, schlagende Verbindung. Herrisches Kramen in seinen Unterlagen, ungeduldige Gesten. Meine Güte, dachte ich nur. Na, dem fehlt jetzt noch eine Pickelhaube auf'm Schädel wie zu Zeiten von Preußens Gloria.
VHS-Leiter Krenz tritt pünktlich um 20.00 Uhr an das kleine Rednerpult, hat aber noch keine drei Sätze formuliert, da bricht im Saal die ultimative Version von Humor aus. Er hatte sich erlaubt, den Referenten als den "weithin bekannten Professor Dr. W." vorzustellen, den man für den heutigen Abend gewonnen habe.
"Dr. Dr. h.c.", zischt es von rechts.
"Wie meinen?"
"Sag's nochmal: Dr. Dr. h.c.! Dr. phil., Dr. jur. h.c., genau gesagt. Auf Letzteres erlaube ich mir eben so viel Wert zu legen wie auf meinen eigentlichen akademischen Titel, Herr Krenz. Verdanke ich einer ausführlichen und fundierten Analyse von Kleists 'Zerbrochenem Krug'. Machte seinerzeit in unserer Juristischen Fakultät Furore, wissen Sie? Und den Professor", setzte er, offensichtliche Verletztheit mit einem säuerlichen Grinsen überspielend, hinzu, "den lassen Sie mal weg. Privatdozent."
Ach du Heiliger, dachte mein damaliges Ego. Es bekam weiteres Futter. Der da vorn: "Naja, der Informationsstand gewisser VHS-Leiter - kann man vergessen. Und ansonsten, wenn ich mich hier umschaue, mit Werbung im Vorfeld des Abends hatten Sie ja offenbar allerlei Probleme, wie?"
Krenz ließ sich nicht irritieren. In aller Ruhe machte er auf weitere Literatur-Veranstaltungen aufmerksam, unter anderem seine eigene Vortragsreihe über ausgewählte Komödien des 19. und 20. Jahrhunderts. Das sei ja so weit weg vom Thema des heutigen Abends nicht.
Der mit der gedachten Pickelhaube: "Sagen Sie mal, wer trägt hier heute Abend vor, Sie oder ich?" Blick auf seine Uhr: "Um 21.58 geht mein Spätzug. Mein Vortrag dauert exakt eine Stunde. Gewiss hat der eine oder die andere am Ende Fragen. Also bitte!"
Womit er - Krenz wusste, was sich gehörte - das Wort nicht mehr los ließ. In einem atemberaubenden Tempo, inhaltlich für mich und das ganze Auditorium von Anfang an viel zu hoch, zu unanschaulich, hinweg donnerte über 99 Prozent der Köpfe. Hatte er das alles für ein fachlich hoch versiertes Publikum verfasst? Wer sollte da folgen bei diesen Begriffskaskaden über Humor im allgemeinen und im Spezialfall, über Scherz, Satire, Ironie und allerlei tiefere Bedeutung? So wie er sie sah. Na, dachte ich, wenn's ihn denn glücklich macht.
Ich war ratlos. Was sollte ich für Peter notieren? Dreißig Namen fielen, was weiß ich - Lessing, Grabbe, erinnere ich mich, Hauptmann. Nur einer nicht - Manns Thomas. Von wegen Humor - zu lachen gab es nichts. Ich sah mich um, für niemanden. Nicht mal Schmunzeln, ironisches, war drin. War ja nicht ungefährlich in Gegenwart von dem da.
Heureka! Endlich doch. "Ich komme nun, wie im Titel meines Vortrags angekündigt, zu jenem Autor, dessen Spätphase hier Gegenstand einer besonderen Beleuchtung ..."
Ich ganz Ohr, den Kugelschreiber in Habacht, da passiert Furchtbares: Peter erlaubt sich, es ist exakt 20.34, den Vortragssaal unserer städtischen VHS zu betreten. Hat er sich also doch losgerissen von seinen Kickern, sieht mich, eilt auf mich zu.
Pickelhaube unterbricht seinen Sermon: "Sagen Sie mal, sind Sie verrückt?"
"Wie?" krächzt das kleine Peterle und pfuscht sich auf den Stuhl neben mir. "Konnte nicht eher."
"Student oder was?
"Abiturient."
"Auch nicht besser."
Vortragender hat Probleme, den Faden wieder aufzunehmen. Peter flüstert in die Stille hinein: "Haste notiert? Zeig mal."
Donner von vorn: "Sie zwei. Jetzt reicht es endgültig."
Mir auch. Mir reichte es bis oben hin. Was hatte ich weiter zu schaffen mit diesem Literatur-Feldwebel?
"Hier, Alter", schrei ich lauter als Pickel plus Haube an Peters Adresse, "mach's selbst, bist ja jetzt hier. Und Sie, Herr Dr. Dr. h.c. - tschüs!"
Zwänge mich unter Aufruhr durch die Sitzreihen, habe die Türe bereits halbwegs geschlossen, da denke ich, nee, Pickel, so einfach nicht!
Krame den berühmten Satz hervor, den ich im Deutschunterricht im Jahr zuvor auswendig gelernt hatte, wandle ihn ab und deklamiere brüllend:
"Vor Ihro kaiserliche Majestät, vor der der Literatur und vor allem der des Humors und der ironischen Rede, hab' ich, wie immer, schuldigen Respekt. Er aber, sag's ihm, er kann mich im Arsche lecken!"