Piltdownmensch

micl

Mitglied
Der Piltdownmensch



Ende vom Anfang

Ich betrete diese Bühne nicht erstmalig, jedoch zum ersten mal bewußt und aus freiem Willen, alleine und einzig zu meinem Vorteil.
Es ist nicht so, daß man immer das zu ertragen im Stande ist, was man seinen Lebensumständen dank des Pathos´ des eigenen Weisheitenwahnes, Gipfel der Maßlosigkeit des Moralgefüges, auf ewig aufbürdet.
Prinzip - dieses für andere meist blinde Licht blendet nur einen selbst, dass man in sich gekehrt, wie ein schon fast angefahrenes Reh verharren muss, während man sehenden Auges, scheinbar gleichgültig die Katastrophe kommen sieht. Aüßerlich starr wie Stein stürmt es stumm in einem gegen den stählernen Container der Seele, die weg will, doch eingekerkert in seiner Agonie kollabiert der geblendete Geist lange bevor der Körper kollidiert.
Manchmal erdrückt einen eben diese Last, oder zumindest bedrückt sie fortwährend den Geist, denn Moral ist hoffnungslos undankbar und, wie allgemein bekannt, ohnehin ebenso brotlos wie die Kunst. Warum dann also nicht diesen inneren Druck senken, indem man sich sagt, andere würden nicht anders verfahren, niemand käme vermutlich dabei zu Schaden außer einem selbst und, daß man nur zweierlei Arten von Verlangen befriedigt, das fremde nach der Gewißheit des über den Dingen Stehens, sowie das eigene, welches nach akzeptabler Lebensqualität dürstet.
Jeder versteckt seine Egoismen so gut er es vermag, ich aber habe diese Maskerade oft genug durchschaut, um in ihr und mit ihr meinen Part vortrefflich zu spielen, und indem ich schelle, werden wir zum Drama das nur mir vertraut ist.
Ein wenig hoheitlicher Aufschrei entrann der Kehle des scheinbar auf Hochglanz polierten Messingklingelknopfes, der nur allzu gerne seine Verwandtschaft zu den penetranten Tönen der Schellen zugehörig zu irgendeiner x beliebigen Etagenwohnung der gründerzeitlichen Blockbauten Hochfelds, Bruckhausens oder Rheinhausens verheimlicht hätte, und doch fiepte wie das zynische Keifen jener Wecker, die allmorgendlich die geschundenen Sklaven der Montanindustrie hinaus aus ihren bereits erwähnten jämmerlichen Käfigen, und hinein in den Schlund des Broterwerbs scheucht.
Ich sehe sie im Geiste die Treppe herunter stürzen, mit den stechenden Augen einer reißenden Rudelführerin die Blut geleckt hat und mehr Knochen knacken hören will. Jetzt höre ich ihr barfüßiges Beben trotz des stolzen Persers, der, zum bleiben verbannt, von ihren Tritten getroffen noch tiefer zu Boden geht, doch er klagt nicht, er dämpft nur den Ton der Aufschläge, weil er weiß, daß ich warte, alles höre.
Und ich warte - und sie kommt.
Die Tür fliegt auf und Fiola, wie angenehm überrascht, hebt die schmalen, geschwärzten Brauen mit einer derartigen Selbstsicherheit, die dem großflächigen Grinsen der Piraten vor Maracaibo alle Ehre gemacht hätte, welche, die Messer zum Schlachten geschärft, erst dann den Knochenhaufen hissen, wenn sie die Katze todsicher im Sack wissen. Lola klemmt mit gespielt schüchternen Gesichtszügen die blonde Locke hinter ihr linkes creolenberingtes Ohr, und bittet mich mit ihrer gekonnt spitzbübischen affektierten Künstlichkeit herein ; ein Ritual, daß jeden anderen Mann dieser Welt sicherlich in den Wahnsinn treiben kann, jedoch nicht mich, der ich gegen ihre außerordentliche Art, wohl mehr spitz als bübisch ,entlang der Jahre immun geworden bin.
Das Urteil darüber, ob in diesem Fall die Impfschäden schwerer wiegen als die eventuellen Auswirkungen einer zu erwartenden Krankheit, überlasse ich großzügig dem Leser, denn der Geneigte unter den zuvor genannten wird es zwischen den Zeilen suchen und früher oder später auch finden ( jedoch spätestens auf Seite 217 ), der nur amüsierte wird die Frage ebenso schnell wieder vergessen haben wie sie aufkam.
´ Herr Falkner, welch liebe Überraschung zu solch später Stunde ´ , schreit sie mir rotwangig durch die entblößten Hauer entgegen, während sie, sich vorbeugend, mit beiden Händen meine Rechte faßt, als ich den Flur betrete. ´ Kommen Sie doch herein, sonst holen Sie sich noch den Tod, ´s ist eisig draußen, nicht wahr, man möchte keinen Schritt vor die Tür tun. ´
Stöhnend fällt die schwere sezierte Eiche in das Schloß, und die Diele ächzt unter dem Gewicht dieser unsäglichen Allianz, während sie mich zu der monströsen Garderobe schleppt, um mir aus meiner durchnäßten, kunstledernen Jacke zu helfen.
Meisterhaft brüskiert zurückweichend sage ich:´ Wir sind heute aber sehr geradeaus, wertes Fräulein ´, wobei sie errötend von mir läßt (knatschrot, Gott, wie macht sie das bloß), und ich schmiede das spröde Eisen eilig hinter verschmitztem Lächeln, dankbar für die anheizende Eingebung, obwohl meinerseits von heiß überhaupt keine Rede sein kann. Da jedoch offensichtlich ist gegen wen sich die Waffen wenden werden, treibe ich das Spielchen lieber voran, erfordert die Vereinbarung doch mindestens den Glanz selbstzersetzender Hingabe in meinen Augen, um den Job zu ihrer Zufriedenheit zu erledigen. Dies ist ohnehin schwer genug, doch durch geschicktes Beschleunigen der Sache, nämlich die perfekte Täuschung mittels des schaurigen Schauspiels wirklich und wahrhaftig von ihr und der Situation berauscht zu sein, am ehesten zu erreichen.
An jenem Tag, an dem ich, weithin als Erstsemester zu erkennen, erstmalig die Mensa betrat, war ihr mein unsicher schweifender Blick gleich aufgefallen, der sich, von einer Sitzgruppe zur anderen, auf der Suche nach einem freien Platz durch den Saal hangelte, um letztlich, wie konnte es auch anders sein, an ihren blau blitzenden Klunkern kleben zu bleiben, denn zweifellos führte ich schon länger ihr Fadenkreuz.
Nur war ich ihr keine Bedrohung, eher gleich einem seltenen Tierchen wähnte sie mich aus einer verlorenen Zeit, ein Fabelwesen, daß es zu besitzen, ein weißes Blatt, daß es zu bekleckern galt, und sie war nicht die einzige, denn ich war sehr jung und, so hatte sich bald heraus gestellt, ein ausgesprochener Frauenmagnet.
Meine Anziehungskraft, beruhend auf meinem unwissentlich zur Schau getragenen Leck an Selbstwert und Selbstsicherheit, wirkte verhängnisvoll wie die der Erde selbst, denn nicht allein meine Kruste ist hier vernarbt und dort zerschlagen, auch mein Kern ist weich, hier lodernd, hier eisbedeckt zugleich. Und noch immer kreisen die Mächte um mich, grüßen lindernd mit sprühendem Schweif und strecken ihre Strahlen nach mir aus, nähern sich tanzend Drehung um Drehung, ich verliere Gewicht und sie ziehen mich plötzlich an bis ich aufschlage, desolat zurück bleibend, auf den Wink der nächsten wartend.
Ein ungeschliffener Rohling, jungfräulicher Bogen, auf dem das Manifest der weiblichen Männlichkeit seinen Platz finden sollte, Muster für kommende Generationen, Blaupause für den Mann nach ihrem Bilde, diesen Frischling, den es zu domestizieren galt ; mit Speck fängt man Mäuse, doch weit gefehlt. Denn in manchen Menschen gärt etwas, über das hinweg sie manch anderem eben niemals die Hand reichen können, eine Barriere, die nicht Haß ist, sondern bloß Mangel an Nächstenliebe, nicht Verachtung, sondern bloß das Fehlen jeglicher Organe, denjenigen als wirklichen Menschen, jeglicher Sinne, diesen als freien Geist begreifen zu können, der fortwährend gegen die eigenen, unumstößlichen Gesetze verstößt.
Und damit begann sie sogleich, noch ehe ich wegsehen konnte, tat es mit jedem Flügelschlag, mit jedem güldenen Lockenrascheln, mit jedem Loreleilächeln, und tut es noch heute, daß das Abprallen ihrer Schmeicheleien am Hang widerhallt und leise vom Rhein herüber weht ; und meist schweige ich darauf, denn dann rumort es erst richtig in ihr, und es rauscht noch lang danach leise in den Stollen und Schächten ihres Gehörganges, wie wenn man die eigene Ohrmuschel an eine Tiefseemuschel hält, um dem Blutrauschen zu lauschen, um den Tod nahen zu hören, und vielleicht weiß man es nicht, so wie sie, daß man nur ihn hört, doch ich weiß es.
Nun schlägt sie also langsam die Lieder nieder, wie verschämt weil ertappt, nur kurz, nicht lang genug um es eine Weile zu nennen, sieht dann wieder auf, blickt mich aus großen blauen Augen an und sagt lachend: ´ Ich werde Ihnen erst einmal einen Milchkaffe machen, damit sie wieder warm werden ´ , schwebt in Richtung Wohnzimmer davon, die Haare ihr hinterher und beide verschwinden.
Der Perser grüßt schweigend, als ich den Flur durchquere um ihr in das Wohnzimmer zu folgen, das Parkett verkündet sogleich meine Eintritt, obschon ich gefaßt auftrete, das Zimmer, die Halle verschluckt mich wie der Wal den Pinocchio, tief in den Eingeweiden kniet schon die Fee, sucht den Kaffe und lauert lächelnd hinter güldenem Vorhang und sagt ich solle die Türe schließen, denn sonst würd´s kalt und ich gebe ihr recht, denn das soll es ja um Himmelswillen nicht.
Gesagt getan derweil ich noch ein paar Briketts auflege: ´ Es ist so still. Hat man sie über die Adventstage allein gelassen, oder halten die alten Herren ein Schläfchen. ´
´ Weder noch, denn wie zum Frühling die Stiefmütterchen, so gehört zum Advent der Nußknacker, und den konnten sie sich doch unmöglich entgehen lassen ´ schwellte es über die reflexglitzernde Glastheke, die, wie eine Stuhlzahn umringte Zunge, aus dem Rachen der Küchenflucht in den Wohnsaal ragte. Derweil sie noch kramt und mich auf ihr ´ nicht wahr ´ warten läßt, setze ich mich auf einen der Barhocker, um zu sehen, worin sie so zu kramen hat, und sage: ´ Kurz vor Weihnacht einen der Engel so allein zu lassen, das ist wohl kaum christlich zu nennen. ´
Einen Augenaufschlag lang sieht sie mich gläsern, von unten durch die Gardine hindurch an, gleich einem Wanderer, der, die Dämmerung drohend über dem Haupt und der Heimat so fern, seufzend in fremde erleuchtete Wohnzimmer starrt, die beizeiten nur flüchtige Schatten verdunkeln, daß ich fürchte sie entfällt ihrer Rolle, doch sogleich fängt sie sich wieder, wirft ihre Flechten mit einer flinken Kopfbewegung auf die andere Schulter und richtet sich ruckartig auf.
Ihr lautes Lächeln auf schrägem Kopf hat filmreife, wenn sie ihr Stichwort hat und ihre Sätze deklamiert: ´ Ich hatte Ihnen zuviel versprochen, die Milch ist leider aus, aber ich werde ihnen den traditionellen Weihnachtscocktail der Familie von Bödefeld zaubern. ´ Wiederholt fallen sanft die Lider, gekonnt kontrastierend zu dem schwungvollen Symbol der Flächtenumverteilung , wobei Haare und Augen sich beiderseits im Moment des routinierten Einsatzes gleichsam von Raum und Zeit lösen, die restlichen Requisiten verblassen lassend, daß für eine gequollene Sekunde nur diese Bewegung die Szene beherrscht, als existiere daneben nichts anderes mehr.
Doch die Zeit gefriert nicht, sie schrumpft nur, denn noch ehe ich etwas entgegnen kann, ist Fiola an mir vorbei in die Halle gehuscht, und während ich mich noch eilig drehe, wie eine Flak, deren Feuer kreisend einem von Wolken verdeckten Flieger nachstellt, entfacht sie, mit einem knisternden Geräusch des Gerätes in ihrer Linken, ein Flammenmeer im Gaskamin.
Der bodenlange schwarze Strickmantel folgt ihr ebenso wie ihre Haare, die Luft bläht beide und deren Enden flattern lautlos, als betrachte man ihr Bild auf einem Zielfoto, und wenn sie ruht ist es, als sei alles auf sie gerichtet. Ein vorbei sausender Scheinwerfer leuchtet ihre rechte Gesichtshälften kurz von unten an, so wie sonst nur Statuen bestrahlt werden, die Flammen werfen glitzernde Wellen auf ihr wallendes Haar, die dann goldgelb, wie frisch gebacken und mit Dotter bestrichen, aussehen, und alles im Saal, von dem Kaminfeuer zu den Christbaumkugeln, von dem Messingspiegel bis zum Schneegestöber, scheint für sie, fast wie gestellt, zu glitzern.
Zwei breite Fenster, an denen gefallene Flocken verenden, flankieren die Szene, in der Mitte steht Lola, etwas seitlich vor der antiken Hausbar, deren Glastüren sie geöffnet und dessen versenkbare Arbeitsplatte sie hervorgezogen hat. Der Flamme abgewandt und nur noch durch das Neonlicht der Küche in ihrem Rücken beleuchtet, bleibt ihr Minenspiel schattenhaft, nur Augen und Mundwinkel verraten ihr Warten auf den nächsten Einsatz.
Unter dem blonden Kopftuch, hinter dem schwarzen Umhang klappern die Gläser, blubbern und fließen die Flüssigkeiten ineinander, und trotz nicht vorhandener schwarzer Katze, fehlendem schrägen Gekicher und unterbleibenden magischen Beschwörungen, ahne ich, welcher Becher mir gerade gebraut wird.
Während sie noch das Gebräu zaubert, entlocke ich der holzverkleideten Hightech Zeile ein wenig Eis, und betrete, mit einem eiförmigen Stück Kälte in jeder Hand, erneut das Parkett, das ihr jeden meiner Schritte verrät. Als ich mich ihr nähere, wendet sich Fiola amüsiert grinsend zu mir um, sie kräuselt den Nasenansatz, Lachfalten spalten die Wangen und deren Wölbungen entspringt nun wieder ein rötlicher Schimmer.
Wir stehen erstmals einander direkt gegenüber, ihre zarten dünnen Finger halten die Gläser in Hüfthöhe, während meinen Händen das Eis entgleitet. Als ich einen kurzen Blick auf meinen Becher werfe, worin sich leise knisternde Kristalle in einer milchig weißen Flüssigkeit auflösen, wird offenbar, daß mein Zutun die letzte fehlende Zutat gewesen ist ; und ich fühle ihre großen stählernen Augen auf mir lasten, längst bevor ich den Mut fasse zu ihr auf zu sehen.
´ Der ist zwar kalt, aber er bringt trotzdem die Magengegend zum kochen und glüht tief drin noch lange und heftig nach, sie werden sehen. ´ Den Glasstil zwischen Zeige- und Ringfinger geklemmt, prostet sie mir, das Gefäß hebend, vielsagend zu. Ihr ´ Zum Wohl ´ verhallt im Raum, während sie, die Augen geschlossen und den Kopf leicht in den Nacken gelegt, den Trunk in ihre gereckte Kehle rinnen läßt.
Das fast leere Glas präsentierend, lacht sie mich, den weißen Schaum mit dem einen Handrücken von den Lippen wischend, milchbärtig an, während sie schon in der Innenfläche der anderen Hand die Reste des Getränks durch geschicktes Schwänken versammelt. Als das geschrumpfte Eis klimpert, sieht sie hinunter auf die übrig gebliebene Pfütze und ein Strang ihrer Haare fällt ihr in die Stirn, so daß ich den Moment nutzen kann es ihr gleich zu tun, also meinen Becher ebenso leere, indem ich den rauhen doch cocossüßen Cocktail in den Schlund stürze.
Als sie die Augen wieder auf mich und dann auf mein leeres Glas richtet, bemerke ich mit einem mal die Stille die mich und das weiche Rauschen des Feuers umgibt. Das leise Schnalzen ihrer Lippen, die sich vom klebrigen Belag befreien, deren Kanten plötzlich zerfließen und nach innen zu drängen scheinen, so als kündigten sie das bevorstehende finale Einsaugen der Außenwelt an, ist das einzig wahrnehmbare Geräusch.
Die Schwelle der Stille wird höher mit jeder Sekunde jenes Schweigens, welches nicht allein das Fehlen von Worten ist, denn es verrät sich bald der innere Diskurs, das Aufbrechen des Inneren wird vernehmbar, und wenn man endlich durch das Schweigen stößt, macht man die Stille schreien und hört sein eigenes Wort in sich verhallen. ´ Bei den Weihnachtsfeiern in diesem Hause scheint es aber je später desto geselliger her zu gehen. ´
Ein holperndes Lachen, zurückgehalten von dem Gedanken an irgend etwas lustiges, das sie, einen Moment lang ganz abwesend ins Leere starrend, im Geiste Revue passieren läßt, schüttelt unter glucksenden Lauten ihren schlanken Körper.
´ Eigentlich sind unsere Feste im Gegenteil das langweiligste was man sich vorstellen kann. ´ , bricht es aus ihr heraus, während sie in Erinnerungen versunken ohne hinsehen nach meinem Glas grapscht, um es nochmals zu füllen. ´ Zumal bei uns haarklein die urigsten Bräuche und steifsten Sitten eingehalten werden, nicht wahr. Doch von der einen Sekunde zur anderen schwenkt das von rituellen Handlungen und hergebrachten Floskeln gezeichnete Fest in ein Getöse um, das einer Ansammlung von Marktschreiern, einer belebten Börse oder der Diskussion einer Vorschulklasse in nichts nachstehen würde. ´
Ihre Büste ruht ruhig, ihre Strahler heften nun wieder gedankenverloren an den Mischutensilien, mit denen sie hantiert, und streifen nur kurz mein nahendes Spiegelbild, während ich versuche ihr über die marmornen, durch schmale Träger gespaltenen Schultern zu sehen, um das Rezept des Getränkes zu erfahren ( ehrlich nur darum ).
´ Denn wenn die Kerzen kleiner und die Flaschen leerer werden, entledigt sich selbst mein Vater, indes er beiläufig eine provokante Äußerung zu einem soeben aufgekommenen Thema macht, der Krawatte. Das ist scheinbar das Signal für den Rest des männlichen Teils der Familie, um mit barbarischer Entschlossenheit und doch in aller Form, welche die biochemische Schieflage ihnen noch zugesteht, der Spitze des Hausherren zu widersprechen. ´
Kichernd blickt sie auf und sagt, das müsse ich mir einmal bildlich vorstellen, während ich spüre wie meine längst zu warm gewordenen Wangen erröten. Zum Zeichen meiner Vorstellungskraft entweicht mir geschlossenen Mundes, mehr durch die Nase, ein unnatürlich zischendes Lachen, ähnlich dem Zischen sich schließender Metrotüren, das den Wideraufbruch in das unterirdische Dunkel einläutet. Der Luftzug bewegt ihre samtene Schleppe, das wenige Licht schwimmt goldgelb auf ihr und scheint ganz darin ein zu tauchen, so wie sich die späten Strahlen der Abendsonne gleißend in die Wogen der See senken.
´ Dank persönlicher Nickeligkeiten, die nur durch die tiefen Gläser zum Vorschein kommen und ansonsten routiniert überspielt werden, breitet sich der Zwist allmählich aus. Angefangen meinetwegen mit der Politik, löst sich das so hart umkämpfte strittige Terrain über Sport und andere Aus- und Abschweifungen allmählich im Chaos auf. ´
Derweil sie ihren Faden weiter spinnt treibe ich meine Glieder in Richtung der ledernen Sitzgruppe, und es durchfurcht mich der Gedanke, daß ich die Frage, ob es denn noch andere Möglichkeiten der Vorstellung gäbe, außer eben der bildlichen, ungenützt treiben ließ.
Verdutzt entdecke ich ihren Strickmantel, der sich um die Sessellehne schlingt und dessen Fehlen mir noch nicht aufgefallen ist, zumal ich mich nicht erinnere, daß sie ihn auszog. Doch als ich vor dem knisternden Kamin, inmitten der schwarzweißen und ebenso farblos bewaldeten Berge niedersinke, welche ein roter Streifen umgrenzt, wird mir klar, es geschah während ich in der Truhe wühlte.
´ Nach einer Weile, wenn das Gebrüll einen gleichbleibend hohen Pegel erreicht hat, schreiten meist die Frauen ein, nicht wahr, und bieten eine Kleinigkeit zu Essen an oder fordern zum Kartenspielen auf. Von der emotionsgeladenen Diskussion bleibt dann nicht mehr über als ein mulmiges Gefühl in einigen Köpfen, die sich zwar sicher sind, daß sie bei irgend etwas verloren haben, die jedoch nicht so recht wissen wobei eigentlich. ´
Unbemerkt von mir hat Lola ihren Punsch vollendet, um sich mit frisch gefüllten Gläsern in meine Richtung auf zu machen, und erschüttert mit klackenden Hacken das Parkett. Zuerst nur eines, bald auch das andere Bein tritt hinter dem schwarzen Sofa hervor, verhüllt durch eine weiße, oben enge, nach unten hin weiter werdende Hose, deren flatternde kurze Schlitze einen Augenblick ihre Knöchel und einen Teil ihrer Schenkel frei zu geben versprechen, welche jedoch in weißen, hoch abgesetzten, elegant ledernen Stiefeln stecken.
´ Ich liebe diesen Teppich, der ist doch wahnsinnig gemütlich, nicht wahr. ´ , sagt sie, überquert die rote Linie, womit das Klacken verstummt, reicht mir mein Glas und läßt sich vor mir auf der wirklich angenehm weichen Winterlandschaft nieder. ´ Seit meiner Kindheit, auch heute noch wenn niemand hier ist, hole ich im Winter manchmal mein Bettzeug herunter und liege bis in die Nacht über meinen Büchern. ´
´ Er liegt fast das ganze Jahr über unten im Keller, erst wenn es richtig kalt wird, oder auch erst zum Advent, holt mein Vater ihn herauf, schiebt die Couchen weg, und rollt ihn vor dem Kamin aus. ´ Sie senkt den Kopf, ihre Stimme wird langsamer und etwas leiser hinter ihrem Behang, während ihre Fingerspitzen scheinbar die vertrauten Konturen der Landschaft nachziehen wollen, denen trotz ihres vermeintlichen Alters nichts an Schärfe fehlt.
´ Jedes Jahr melde ich meine Erbansprüche für das alte Schätzchen neu bei meinem Vater an. ´ , lacht sie aufblickend, wobei sie die Haare zurück streicht, ´ Er erwidert zwar mit gespieltem Ernst ich solle nicht vor seinem Tod schon sein Erbe verteilen, ist aber im geheimen sehr glücklich darüber, daß ich den Teppich genauso in Ehren halte wie er. ´
Ihr halbvolles Glas abstellend wendet sie mir ihren Rücken zu. Indem sie sich kurzzeitig auf ihre linke Handfläche stützt, kniet sie schon vor dem Kamin und tastet die messingfarbene Armatur an dessen rechter, fensternaher Seite nach irgend etwas ab. Der schwere glänzende Stoff ihres cremefarbenen Oberteiles strafft sich ebenso wie das dünne Weiß ihrer Hose, deren Ränder driften auseinander und ihre elfenbein farbene Haut kommt über dem Hosensaum zum Vorschein. Ein zarter Grat, der, von ihrem Hals ausgehend, längs ihres schmalen Rückens läuft, scheint sich unter dem Saum zu vertiefen, und ihren Körper entzwei zu spalten.
Mit einem unhörbaren Drehen des Gashahns flammt das Feuer auf und versenkt uns unwiderruflich. Einer ihrer Stiefel trifft dumpf auf das zerbrechliche Behältnis und in einem Tal zu Füßen der verschneiten Hänge versickert plötzlich ein rauchgläserner Cocossee und glänzt dabei einen Moment lang matt, daß mich wenig später ein ähnlicher Schimmer in ihrem Schoß an ihn erinnert.




Abgang

Wir erwachen durch das bedrohliche Tuckern eines nahenden Dieselmotors, dessen Lichtkegel für einige Sekunden die Zimmerdecke erhellen, bevor sie zur Garage abbiegen. Fiola ist etwas früher als ich zu sich gekommen, noch einen Augenblick fühle ich ihren Atem und ihre Haare an meiner Brust branden, schon streifen ihre Wimpern entlang meiner Haut. Als auch ich die Augen öffne hebt sich schon ihr Kopf von meinem Körper, sogleich schreckt sie auf, springt hastig in ihre Sachen und wirft mir fluchend meine zu.
Während ich noch um meine Hose tanze, wirft sie sich bereits in den Mantel, dreht den Gashahn ab, wodurch das Feuer erlischt, und stampft, die Wohnzimmertüre aus buntem Glas aufreißend, davon und aus meinem Blickfeld. Als ich endlich in meine Schuhe schlüpfe und das dunkle Zimmer verlasse, steht sie neben der Garderobe und richtet halogenbestrahlt ihr blaß zerzaustes Spiegelbild.
Meinen Schal umwickelnd versuche ich ihren Blick zu fangen, doch die großen blauen Flecken bleiben blind und sehen an mir vorbei. Lola drückt mir im vorbeigehen die Jacke in die Hand, wobei sie schon nach dem Kiesweg sieht, um sich zu vergewissern, daß sich noch keines der Familienmitglieder nähert.
Sie öffnet mit der rechten das mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Portal und drängt mich durch sanften Druck gegen meinen Rücken mit links durch diese hindurch. Noch die letzten Knöpfe der Jacke schließend, stehe ich vor der zu schlagenden Türe, deren Schwung sich in einem kurzen Zittern des Treppengeländers verläuft.
Langsam taste ich die drei matschbedeckten Stufen herab, die wie ein in der Mitte geteiltes Oktagon aus der Hauswand hervor treten, als sprängen sie, gleich nach dem mein Gewicht von ihnen fällt, in ihre Ursprungsform zurück, als versenkten sie sich in der Mauer, so wie die Falttreppe der Trambahn in deren Chassis, nachdem sie die Reisenden auf die Straße spuckt.
Herr von Bödefelds Blick begegnet dem meinen, er mustert mich mit einem zum Lächeln verzogenen Grinsen, und erwidert meinen nickenden Gruß. Die Hand an der Haube des Kofferraums und einige überdimensionale Tüten zwischen den Beinen, ähnelt ihr Vater in seinem unwinterlichen Sakko einem übertrieben lässigen Gelegenheitscowboy, dem, kurz bevor die Gummikuh erst richtig loslegt, durch die Entdeckung eines Bürokonkurrenten, sein glattes Grinsen gefriert.
Das Knirschen der durch meine Schwere gepreßten Flocken verblaßt durch den gedämpften Aufprall des Metalls und das rascheln der Tüten in meinem Rücken. Ich besinne mich, mir nicht die Blöße zu geben, mich nach ihr umzudrehen, also erhasche ich in den Augenwinkeln ihren am Fenster vorbei eilenden Schatten, der sicher darum bemüht ist, die stummen Zeugen unserer Zusammenkunft zu beseitigen.
Zwar höre ich das Heulen des nahenden Busses, doch ich halte der Verrat leuchtenden Front der Wohnzimmerfenster gleichbleibenden Schrittes stand. Abzweigend von der Auffahrt biege ich in den unberührten Gehweg ein, passiere geschmückte Nadelbäume und die von einer nur knöchelhohen, fast eingeschneiten Holzreling umzäunte Teichmulde, welche an einen verblichenen Kinderspielplatz erinnert, so als folge der Kindheit die Eiszeit.


Off I

Fehlhandlungen, die mit dem Bewußtsein ( oder auch Gewissen ), eben mit der Idealvorstellung von sich selbst und dem eigenen Verhältnis zu anderen unvereinbar sind, die sich so von jenem scheiden wie das Öl vom Wasser, bilden die Krone des Charakters. Und auch, wenn eine unendliche Tiefe von Alltäglichkeiten dessen Körper bildet, sind jene unauslöschbaren Mißgeschicke doch die Kräfte, die dem Mensch die Moral entringen, wodurch sie die Seele adeln.
Herkömmlich und sprichwörtlich bildhaft ( oder zumindest für Köche verständlich ) ausgedrückt: Diese irreparablen Risse in der Vergangenheit der Menschen sind das Salz in der Suppe, und ohne diese bleibt der Geist eines jeden ziemlich fad ; oder besser: ohne deren Einsicht, denn nur Erkenntnis verändert das Ich aus sich selbst heraus.
So wie die Saite den Hohlraum braucht, um der Stille Töne zu entreißen, so benötigt die Erkenntnis also eine grenzenlose Breite, eine bodenlose bewegte Masse der Erfahrung, die mit schwindender Jugend ruhiger wird. Bald bildet sich eine dünne Haut darauf, welche wiederum mit dem Alter zunehmend verkrustet, um irgendwann ein starres, vernarbtes Gesicht zu bekommen, das zu keiner Veränderung mehr fähig ist, und dessen unsichtbare Unruhe sich nur noch unkontrollierbar in abrupten Eruptionen entlädt.
Diese Bürde des Bewußtseins, die zumeist unbewußt entsteht und nicht verdrängt noch jemals vergessen werden kann, die tief in einem vergraben liegt und doch niemals verloren bleibt, selbst wenn man Jahre nicht an sie denkt, ist der Sprengsatz der Seele.
Ist es nicht ein Kreuz mit dem Gedächtnis, dass gerade die Ereignisse, auf deren Erinnerung man verzichten könnte, einen Menschen vernarben, wohingegen jene verblassen, derer man sich gern erinnert, um zu mindest in ihrer Intensität, wenn nicht in Gänze, unwiederbringlich verloren zu gehen. Manchmal meint man, sich für dieses Vergessen vor sich selbst schämen zu müssen, denn es waren ja Ereignisse, die dem Leben erst ihren Sinn geben, deren Erinnerung lebensnotwendig scheint, doch weder der Verstand noch das Gefühl haben ihre überzüchteten Schosshunde im Spiel, wenn der wölfische Instinkt seine Kreise zieht, an dessen Haut die Narbe noch zehrt.
Auch wenn der Schmerz längst verklungen ist, die Scham bleibt doch, die Schande ist eingebrannt, und prägt, nicht wie ein Brandmal, sondern wie ein Schatten auf dem Antlitz, der auch von den Augen herrühren könnte, den psychischen Fingerabdruck, der auf allem und an allen seine verschleierten, doch einzigartigen Spuren hinterlässt.
Und der Volksmund hat zweifellos Recht, wenn er sagt, Unkraut, als welches die unliebsamen Splitter der Vergangenheit viel zu oft angesehen werden, vergehe nicht. Diese Verunglimpfung des Krautes durch die Vorsilbe suggeriert einem, dessen Wachstum sei schädlich, führe zur Überwucherung von etwas nützlichem. Deshalb lässt man es nicht gedeihen, jätet es, reißt es samt seiner Wurzel heraus, doch der Keim bleibt letztlich immer in dem Boden der die Früchte tragen soll, er ist mit ihm verwoben.
Der unnatürliche Schutz dessen was sich nicht durchzusetzen vermag, der Projektion der heilen Welt, besteht nur, solange der Mensch sich ständig kümmert ; bricht sein Wille oder schwindet sein Mut, schlägt sofort das Unkraut wieder durch und nimmt dem zerbrechlichen Pflänzchen das Licht. Der Durchbruch aber ist nur eine Frage der Zeit, denn ihn nährt das Altern des Menschen. Stemmt sich jemand dagegen, ist der Tag, an dem er mangels Kraft von seinem Kampf ablassen muss, vielleicht noch fern, doch dass er kommt ist nur allzu gewiss, denn die Zeit kennt keine Distanzen.
Wenn wir einst gezwungen werden uns zu fragen, sei es vom Gewissen, vom Prozess der Alterung oder letztlich vom nahenden Tod, wohin wir gehen werden oder wohin es uns treibt, wehe dem Wanderer, dessen Waden erweichen, denn alle Lasten der Welt bekommen erst ihr Gewicht, mit dem Moment, dem es an Zielen fehlt, und wer sich setzt, steht vielleicht nie wieder auf.
Derjenige, der sich, und damit vor allem seinen sehenden, ständig assoziierenden, bildenden Geist liebt, begreift schnell, dass nur dort Schatten entsteht, wo man das Licht verdeckt, was gewissermaßen der Umkehrschluss jener gemeinen Redewendung ist, die besagt, wo Licht ist, da sei auch Schatten (hier irrt der Volksmund wiederum nicht, wer möchte das bestreiten ).
Demjenigen fehlt wenig, um zu erkennen, dass das wuchernde nicht eine Art immaterieller Kopfkrebs ist, sondern die Gnade der zweiten Chance, wenn man daraus seine Lehren zu ziehen und das Dunkel der Erinnerung zu erleuchten weiß. Das Kraut will kultiviert werden, denn der brennende Schmerz der Fehlhandlungen, bewahrt einen vor künftigen Fauxpas, was einem den Rest des Lebens wieder eine Spur angenehmer zu machen vermag.
Und wenn sich der werte Leser nun an eine weitere völkische Redewendung erinnert fühlt, belustigt oder beleidigt ob des Klopfens bäuerlicher Sprichwörter, sei ihm abschließend verkündet: das große Brahman, die Weißheit der Weißheiten liegt seit jeher, seit dem Anbeginn der Zeiten auf der Zunge der Menschheit ( und diese bestand nun mal die längste Zeit aus Bauern ).
Doch was weiß ein einzelner schon von der Potenz eines einzigen, winzigen Triebes, den zu zertreten es weder Mühe noch Kraft kostet. Eh wir selbst wachsen können quillt er anderorts aus tausend Ritzen, schnellt zwischen dem Pflaster des Gehsteigs hervor, noch bevor wir einen Schritt wagen. Mit der Sonne im Bunde sprießen die Blätter, ein Stamm, genährt von unsichtbarer Hand, entwindet sich dem Erdreich.
Wer wacht und raffiniert seinen Geist ein Leben lang, wer liebt sich genug, um nicht im Schatten seiner Vergangenheit zu stehen, der je länger er besteht desto blinder macht, sondern, um unter dem Baldachin seiner gediehenen Saat zu sitzen.


Odyssee

Als ich um die Hecke biege, sehe ich den Bus soeben in der Nebenstraße verschwinden.
Das Gestrüpp verdeckt mich nicht ganz und reicht nur bis zu meinen Schultern, um allein meinen Kopf sichtbar zu lassen, der nun über den grünen Horizont wandert, wie die Opfer in den Shoot-em-up Spielen.
Gedankenlos schwebe ich vorwärts über den ausgetretenen Schnee, kein Knirschen unter meinen Füßen, das ich doch nicht hören noch fühlen könnte, denn mein Geist und sein Körper sind taub, ich spüre nichts.
Es ist ein Irrglaube, dass man schwebt, wenn man glücklich ist, denn erst dann bemerkt man jeden Stein unter der Sohle, man scheint mit der Welt verwachsen, ein Ohr an dem Gesang seiner gefiederten Freunde und immer ein Auge auf den blumigen Feinheiten des Lebens. Man sieht alles durch ein Fernglas, entdeckt in einem Moment die wahre Natur einer Sache und dessen Wert für das Ganze, dessen Teil man ist. In einem anderen weitet sich der Blick weltumspannend und lässt alle Teile verschmelzen, und man meint zu wissen für was und wen es sich zu streben und zu leben lohnt.
Das Schweben jedoch ist ganz und gar der Depression eigen, den Stunden, die einem das Denken, das Träumen und Weinen verbieten, die Abgründe auftun zu deren Überwindung es Flügel bedarf, die man nur unter äußerster Konzentration, nur taub und blind und wortlos, meistern kann. Und überhaupt, was gibt es noch zu sagen, die Blüten ziehen keinen Blick und der Singsang der Vögel bleibt ungehört wie Kaufhausmusik.
Einige Haltepunkte sind schon an mir vorübergezogen als ich um mich blicke, der Weg des Busses der mich stehen ließ war auch der meine. Die Blockbebauung hat die freistehenden Häuser abgelöst, so plötzlich wie die Müdigkeit und das Frieren die Taubheit.
Neben der Haltestelle lockt ein kleiner Verschlag mit verhaltener Leuchtreklame und der Aussicht auf einen windgeschützten Standplatz Passanten. Bude, so nennt man im Pott oder Revier oder Ruhrgebiet jene kleinen Geschäfte, die offiziell Trinkhallen heißen, jedoch mehr anzubieten haben als Alkohol und Limo.
Hauptsächlich jedoch wegen ersterem besetzen tag und nacht scheinbar heimatlose Gestalten, wie Angehörige eines kleinen Bienenschwarmes, die immer wieder mal ausfliegen, die Buden. Ihre Bienenhaftigkeit liegt aber nicht in dem jenen Geschöpfen eigentümlichen Fleiß, sondern eher in den kommunikativen Tänzen, die das unproduktive Budenvolk fortwährend vollzieht, indem es instinktiv einem, zumindest für Außenstehende, leicht entschlüsselbaren Muster folgt.
Wenn dieses Klientel, was selten vorzukommen scheint, seinen Anlaufpunkt doch einmal verlässt, vermittelt es mit Mimik und Gestik äußerste Eile, klopft zum Abschied mit dem Schlüssel auf die hölzerne Theke, wie zum Zeichen, dass es doch ein Zuhause hat, und verläuft sich fliegenden Schrittes in den Straßen.
Dies geschieht aber völlig unvorhersehbar, normalerweise stehen diese Leute, die ich bevorzugt Buden-Penner nenne und die niemals anders als in Trainingshosen anzutreffen sind, stoisch und bewegungslos an dem provisorischen Tresen. Mit diesen Brettern scheinen sie verwachsen, dort zischen, ziehen oder schlucken sie, wie es im Wechsel genannt wird, in nie für möglich gehaltener Langsamkeit ihr Flaschenbier.
Alles scheint gut miteinander bekannt zu sein, grüßt sich und redet lautstark, nur wenn ein Fremder erspäht wird, schweigt die Phalanx von saufenden Nichtsnutzen und beäugt den nahenden Unbekannten schon von Ferne. Sie vermitteln einem, vielleicht nur ungewollt, das Gefühl des Eindringens in eines anderen Privatsphäre, sehen einen unverblümt mit fragendem, überraschtem Blick an.
Je nachdem, was man für ein Typ Mensch ist, bleibt einem nichts anderes über als eine dieser beiden Möglichkeiten. Entweder haucht man, beidseitig von absurden Mimen flankiert, seinen Wunsch, steckt still seinen schweigend gereichten Einkauf in die Tasche, und zieht, das urteilende Murmeln im Rücken, seines Weges, ebenso wie die folgenden male. Oder aber man tritt, den Blich der Gestalten offen und direkt erwidernd, mit einem Gruß an die Theke und spricht mit dem Verkäufer wie mit einen alten Bekannten, woraufhin man, von Scherzen begleitet, die Ware gereicht bekommt.
Wohnt man dort, und braucht man dies Einkaufsmöglichkeit des öfteren, vor allem wenn man raucht oder trinkt, hat das eigene Verhalten weitreichende Folgen. Denn geht man nach ersterer Methode vor, so kann man sich dessen sicher sein, dass diese Leute, oft arbeitslose oder in Frührente gegangene Kumpel und zukunftslose Jugendliche, wenig Gutes über einen untereinander zu berichten haben. Biegt man um die Ecke, steigt man aus einem Auto, einem Bus, schließt man die Haustür auf oder tritt hinaus auf die Straße, immer heftet deren geringschätziger Blick an einem.
Handelt man wie im zweiten Fall beschrieben, wird man in Zukunft jedes Mal schon von Weitem gegrüßt und bekommt des öfteren ein inhaltloses Gespräch angehängt, aus dem man sich nur schwer verabschieden kann. Nähert man sich mit Bekannten seiner Wohnung, wird man mit einem Kopfnicken begrüßt und nimmt sich großes vor, will man dem anderen, der solcherart Mensch schmunzelnd begutachtet, trotz dessen er sie sicher kennt, diese unschmeichelhafte Verbundenheit erklären.
Wie man es auch anstellt, zu gewinnen ist wenig. Der jeweilige Vorteil der einen Methode gegenüber der anderen bleibt im Ganzen immer ein Nachteil, denn beides führt auf das selbe hinaus, nämlich einer Antipathie und Meidung der Bude, die im allgemeinen, nicht Westler werden es wissen, eine nützliche und komfortable Einrichtung ist.
Da ich nicht so schnell wieder herkommen werde, begebe ich mich wortlos an die schmale mittlere Glasscheibe, die vom Tresen bis in Stirnhöhe reicht und welche der Verkäufer, je nach Bedarf, schließen, oder hinter einer der beiden breiten äußeren Scheiben versenken kann.
Die Figuren an meiner Seite, ein dicker alter Mann in farblosem Rolli unter einem offenem Parker, der nur soeben den Bauchüberhang bedeckt, und ein schlaksiges dürres Männchen, dessen riesige Füße samt Socken aus viel zu kurzen Hosenbeinen gucken, sie schweigen und betrachten mich wie erwartet, schnippen die Asche ab und greifen, wie zur Überbrückung der mutwilligen Unterbrechung, nach ihren Flaschen.
Der Verkäufer wendet sich auf mein Klingeln hin von dem winzigen Fernsehgerät ab, eines der Sorte die auch über den Zigarettenanzünder des Autos laufen, das meinem Blick jedoch verborgen bleibt. Das Fenster wird beiseite geschoben und ich stoße, wie mir scheint lauter als nötig und daher fast befehlend, zwei Wörter hervor, ´ Zwei Pils ´. Der Kerl, seine ausgebeulte Hose ist gelb und speckig, geht zum Kühlschrank um mit einer Hand die beiden Flaschen König von einem der Gitter zu nehmen, während er mit der anderen die Türe öffnet und mit einem dumpfen Aufprall wieder zu fallen läßt. Die Pullen landen etwas hart auf dem hölzernen Tresen, ´ Dreisiebzig ´ brummt der dahinter und der davor tritt mit einem nordisch knappen ( nicht Knappen ) ´ Nabend noch ´ den Rückzug an.
















Der Piltdownmensch



Ende vom Anfang 1
Abgang 8
Off I 9
Odyssee 11


Anmerkungen:

Nachfolgende Wörter, Begriffe und Quellenangaben sind alphabetisch sortiert und erläutert.

Brahman: die Weißheit, siehe Jose Ortega y Gasset ´Schweigen, das große Brahman´ aus ´Gesammelte Werke´, Band 1.
Piltdownmensch: Bez. Für einen 1910-15 in Piltdown (East Sussex) gemachten ´Schädelfund´, der zunächst als frühmenschlich gedeutet wurde, (1938 wurde ihm als ´ältestem Engländer´ an der Fundstelle ein Denkmal gesetzt), sich aber 1955 als ´ Fälschung erwies.


(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
Kommentare und Aufrufzähler beginnen wieder mit NULL.)
 



 
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