Euer Ehren, Sie haben meinen Mandanten in den letzten Tagen als einen stillen, schuldbewussten jungen Mann kennengelernt, der sich so wenig wie alle anderen in diesem Saal das Elternhaus aussuchen konnte, in dem er aufgewachsen ist. Wir werden ja zu Beginn des Lebens irgendwelchen Leuten vor die Füße geworfen, die meistens erfreut sind, manchmal auch nicht. Oft ist die Freude zunächst groß, ebbt aber im Laufe der Zeit deutlich ab. Das gilt für beide Seiten. So mancher Wurf wäre nicht zustande gekommen, hätten die Beworfenen, die selbst Werfende und Geworfene sind, gründlich genug über die Folgen nachgedacht.
Wie wir erfahren konnten, Euer Ehren, ist mein Mandant in günstigen materiellen Verhältnissen aufgewachsen. Der Vater ein hochbezahlter Krankenhaus-Vorsteher, die Mutter eine ambitionierte Schauspielerin mit ersten Engagements an den großen Theatern des Landes. Die Familie wohnte am Stadtrand in einer Villa mit Garten. Von Anfang an stand eine Betreuerin für das Kind zur Verfügung. Zunächst eine ältere Verwandte der Mutter, dann die deutsche Studentin Silke Buchmacher, deren Einfluss auf meinen Mandanten im Zuge der Verhandlung leider nicht ausreichend gewürdigt wurde.
Es ist bedenklich, wenn Eltern überzeugt sind, dass ihr Sohn oder ihre Tochter Großes erreichen werde, wofür sie kleinste Vorlieben und Geschicklichkeiten schon im frühen Kindesalter als untrügliches Zeichen nehmen. Weit bedenklicher noch ist, wenn ihre Zuneigung allein dieser künftigen Größe gilt und in dem Maße abnimmt, in dem das Kind ihre Hoffnungen enttäuscht. Vollends unerträglich aber wird die Sache, wenn der Erfolg gar nicht eigentlich von der Person des Kindes, sondern von den in ihm schlummernden Genen eines bedeutenden oder für bedeutend gehaltenen Vorfahren erwartet wird, von einer biologisch wirkenden Prädestination.
Im Falle meines Mandanten war dieser Vorfahre väterlicherseits ein bereits verstorbener Heimatdichter. Sie werden vielleicht von ihm gehört haben, weil einzelne seiner Werke in Schulbüchern abgedruckt sind. Was Sie wahrscheinlich nicht wissen, ist, dass Johann Roßschwinger Grübchen in den Wangen hatte, wenn er lächelte, was er selten tat, weil ihm die Grübchen weibisch vorkamen. Kaum begann das Gesicht des kleinen Bruno Konturen anzunehmen, zeigten sich auch bei ihm die Wangengrübchen des Urgroßvaters. Man hielt sie allseits für niedlich und nahm sie in Verbindung mit dem frühen Spracherwerb des Kindes als Zeichen seiner literarischen Begabung.
Ich überspringe die ersten Kinderjahre meines Mandanten und komme zu dem Zeitpunkt, als die Studentin Silke Buchmacher in sein Leben trat. Sie hatte den Auftrag, ihrem Schützling akzentfreies Deutsch beizubringen, eine Aufgabe, der sie mit großer Gewissenhaftigkeit und einer gehörigen Portion Kritiklust nachkam. Der junge Bruno fürchtete sich vor ihr und wollte ihr mit seinem Dichter-Urgroßvater imponieren. Aber nachdem er ihr einige Gedichte vorgelesen hatte, verzog sie das Gesicht zu einem mitleidigen Lächeln und sagte: "Du weißt aber schon, dass das Schrott ist?" Wie Frau Buchmacher, die Soziologiestudentin, zu diesem Urteil kam, wissen wir nicht.
Unter den Heimatdichtern gibt es natürlich solche und solche. In Johann Roßschwingers Werken hieß es oft: "Wo sonst auf diesem Erdenrund ..." oder "Nie hat ein Auge Schöneres erblickt ..." oder "Du unvergleichlich Vaterland ...", also Phrasen, die geeignet sind, die Bewohner anderer Heimaten vor den Kopf zu stoßen - oder neugierig zu machen. Heute würde dergleichen niemand mehr schreiben, schon um nicht die Zuwanderung zu fördern. - Das harsche Urteil seiner Betreuerin verunsicherte Bruno jedenfalls so sehr, dass er seinen Lieblingslehrer um eine ehrliche Einschätzung der Gedichte bat und erfuhr, dass sie "etwas angestaubt" und "nicht von erster Güte" waren.
Euer Ehren, ich glaube, dass man solchen Vorfällen aus der Jugend eines Angeklagten Beachtung schenken muss, um seine weitere Entwicklung besser zu verstehen. Bruno hatte selbst schon einige Gedichte geschrieben, die hauptsächlich der Mutter gewidmet waren. Je seltener er sie sah, desto mehr dichtete er für sie. Dabei ging es um Beobachtungen im Garten, um Blumen, die sich der Sonne öffneten, um Grashalme, die sich nach einem Regen aufrichteten und andere kleine Begebenheiten mit erotischer Konnotation.
Nach dem Sturz des großen Heimatdichters durch Silke Buchmacher und den erwähnten Lehrer aber zog mein Mandant, damals vierzehn, einen Schlussstrich unter sein künstlerisches Schaffen. Keine Gedichte mehr für die schöne Mutter. Stattdessen Sport, Kameraden und erste Kontakte mit Alkohol. Die Eltern bemerkten es kaum, die Mutter, weil sie hauptsächlich zum Rollenstudium nach Hause kam, der Vater, weil er damit beschäftigt war, eine Parallelfamilie zu gründen. Nur die Großmütter wunderten sich über die neuen Vorlieben und waren besorgt. Sie versuchten, ihren Enkel wieder in die Spur des Johann Roßschwinger zu drängen.
Als mein Mandant sechzehn war, trat das spätere Opfer zum ersten Mal in sein Leben - an der Seite von Silke Buchmacher. Sie hatte Max Bräuner beinahe an der Uni kennenglernt. "Beinahe", weil er zwar inskribiert aber, aber tagein-tagaus mit seinen Freunden im universitätsnahen Café "Einstein" saß und eine neue Gesellschaftsordnung entwickelte. Im Gegensatz zu Johann Roßschwinger sah Max Bräuner in seiner Heimat einen Ort der Verwahrlosung und des Niedergangs, wo raffgierige Politiker im Verein mit betrügerischen Unternehmern die Bevölkerung aussaugten, wo Wälder verrotteten, Seen verdunsteten und Singvögel verhungerten. Silke Buchmacher wollte sich offenbar einige Wochen mit dem Finsterling vergnügen, ehe sie nach Deutschland zurückkehrte, um an ihrer Dissertation zu arbeiten.
Euer Ehren, es liegt mir fern, das Opfer posthum zu kritisieren oder gar für sein Schicksal verantwortlich zu machen, aber möglicherweise hätte die spätere Begegnung der beiden jungen Männer einen günstigeren Verlauf genommen, wenn Max Bräuner den sieben Jahre jüngeren Bruno mit weniger Geringschätzung behandelt hätte. Nicht nur nannte er ihn einen verwöhnten "Cottageboy", wenn er Silke Buchmacher von der Arbeit abholte, er ließ auch durchblicken, dass er von seinen Gartengedichten wusste und wem sie gewidmet waren. Er versuchte, den Jüngeren in Grundsatzdiskussionen zu verwickeln, wissend, dass dieser keine Ahnung von Politik hatte. Mein Mandant erzählte mir, wie froh er jedes Mal war, wenn sich Max Bräuner verabschiedete.
Die Bezeichnung "Cottageboy" ist so treffend wie unzulänglich. Sie meint einen am Stadtrand in Haus mit Garten lebenden jungen Mann ohne materielle Sorgen, einen, der nicht in den Ferien arbeiten muss, um sich eine Vespa kaufen zu können. Einen, der wahrscheinlich studieren und bald eine wichtige Position innehaben wird. Worüber sie rein gar nichts aussagt, sind die familiären Umstände, unter denen er aufwächst. Und doch kommt es gegebenenfalls zu den ewig hämisch-bestürzten Pressemeldungen wie "Sohn aus gutem Hause erdolcht Stiefmutter" oder "Bierbrauerei-Erbe rast mit 200 km/h durchs Stadtgebiet".
Zum Zeitpunkt seiner Volljährigkeit lebte mein Mandant allein mit seiner Mutter, die als Schauspielerin ein wenig aus der Mode gekommen war. Dafür wollte sie von ihm in die Arme genommen und getröstet werden. Ein anderes Mal wieder scheuchte sie ihn aus dem verdunkelten Schlafzimmer, weil die Ähnlichkeit mit seinem Vater ihr das Herz zu brechen drohte. Letzterer ließ kaum noch von sich hören, außer wenn er den Sohn im Squash besiegen oder seine neue Ehefrau ärgern wollte. Kindesmissbrauch hat viele Gesichter, aber Bruno Roßschwinger war ja nun kein Kind mehr. Zum achtzehnten Geburtstag schenkte man ihm eine alte Metallkassette mit den unveröffentlichten Werken des Urgroßvaters.
Es zeigte sich, dass Johann Roßschwinger das geliebte Vaterland als Teil eines größeren Ganzen, eines Großreiches, sah, wo blühende Jungfrauen durch Wälder und Auen tanzten, verfolgt von nicht minder blühenden Jünglingen, die ihnen blühende Kinder zu Ehren des Führers machen wollten. Da ging es auch um Soldaten, die mit freudigen Herzen in die Schlacht zogen und um den großen Allvater, der mit seiner Menagerie höchstpersönlich über den siegreichen Ausgang wachte. Bedenkliche Texte allesamt. Und dennoch: Was die ephebenhafte Gestalt seiner Freundin Beatrice nicht vermochte, schafften diese Gedichte. Bruno kehrte zur Poesie zurück.
Es ist die Wucht der poetischen Wort, die den unvorbereiteten Nicht-Dichter schlagartig erkennen lässt, in welcher primitiven Sprachhöhle er wohnt, ausgestattet nur mit Werkzeug für die einfachsten Belange. Er spürt, wie groß der Unterschied ist zwischen "da bin ich gern, da g'hör ich hin" und "bersten will mir die Brust auf deinen lichten Höh'n". Bruno ließ sich ergreifen. Aber gewiss nicht von Kriegslust und Rassenwahn, die auch der Urgroßvater nicht ganz verinnerlicht gehabt zu haben schien. - Unter dem Stapel von Gedichten und kleinen Prosawerken lag eine alte Wehrmachtspistole. Bruno nahm sie an sich und trug sie als Andenken im Innenfach seines Rucksacks.
Euer Ehren, lassen Sie mich noch ein letztes Mal ein wenig ausholen, um den Charakter des Angeklagten zu beleuchten. Mit der Heimatliebe ist es so eine Sache. Die meisten spüren sie nur, wenn sie im Auslandsurlaub auf Ungemach stoßen, wenn die Fremde plötzlich feindselig wird. Eine Erkrankung, ein Unfall oder eine Autopanne genügen schon. Andere brauchen die Vogelperspektive. Sie werden immer dann von der Heimatliebe ergriffen, wenn auf einem Berg oder auf der Spitze eines Turms stehen. Dann sagen sie zufrieden: Es ist schon ein schönes Land! Die Verteidigung der Heimat gegen Kritiker aber beruht möglicherweise nicht auf einer besonderen Verbundenheit, sondern auf gekränkter Eitelkeit nach dem Motto: Wer mein Vaterland angreift, meint eigentlich mich. Ich glaube, dass wir es im vorliegenden Fall wenigstens anteilsweise mit einer solchen Kränkung zu tun haben.
Mein Mandant hatte bis zu jenem unglücklichen Abend eine Reihe von lyrischen Texten verfasst, die allesamt von der Schönheit der heimischen Natur und Kultur handelten. Damit waren sie thematisch recht ungewöhnlich und originell. Ein kleiner Verlag konnte von Brunos Vater für die Veröffentlichung gewonnen werden, während die Mutter ihre Beziehungen zur Theaterwelt nutzte und eine Lesung auf einer Kellerbühne organisierte. Mehrere junge Talente durften dort zum Thema "Unheimliche Heimat" Kostproben ihres Schaffens präsentieren. Im Publikum saß Max Bräuner, mittlerweile dreißig und Blogger geworden.
Er muss sehr überrascht gewesen sein, als nach einer Reihe der üblichen kritischen Beiträge Bruno Roßschwinger aufs Podium trat, in die Runde lächelte, einen Schluck Wasser nahm und mit geschlossenen Augen ein mehrstrophiges Gedicht über eine Marienstatue in einer kleinen Waldkapelle vortrug. Nachdem die letzte Zeile verklungen war, sagt Max Bräuner in die betretene Stille: "Du weißt aber schon, dass das ein Schmarrn ist? Alter, willst du uns hier verarschen?!" Es war leider die letzte Frage, die er in seinem Leben stellte, denn Bruno Roßschwinger griff in den Rucksack, holte die Pistole des Urgroßvaters heraus, zielte auf sein Opfer und drückte ab. Immer noch lächelnd, wie die Zeugen einhellig versichern.
Euer Ehren, wir dürfen aus diesen Umständen den Schluss ziehen, dass mein Mandant auf Kritik zwar empfindlich, vielleicht impulsiv, aber nicht mörderisch reagiert. Völlig unbewandert in diesen Dingen, dachte er keinen Augenblick daran, dass die alte Waffe geladen sein könnte. Er hat zwar zugegeben, dass er Max Bräuner wiedererkannte, aber wer würde über so viele Jahre einen solchen Groll hegen? Noch dazu, wenn ihm die Sprache der Dichter zur Verfügung steht? Wenn er eine kleine Schmähschrift, ein Spottgedicht oder ein bissiges Dramolett verfassen könnte?
Den Herren und Damen auf der Geschworenenbank möchte ich zu bedenken geben, dass Bruno Roßschwinger zwar möglicherweise kein bedeutender Poet, seine Liebe zur Heimat als verkleidete unerwiderte Liebe zum Elternpaar aber tief empfunden ist, soweit man den Empfindungen, die in der Poesie zum Ausdruck kommen, Glauben schenken darf. Würde so jemand einen Anderen, einen Mitmenschen und Mitbürger töten wollen? - Das eigentlich tragische Moment in der Geschichte ist, dass diese alten Waffen immer noch scharf sind.
Ich bitte das Gericht um ein mildes Urteil.
Wie wir erfahren konnten, Euer Ehren, ist mein Mandant in günstigen materiellen Verhältnissen aufgewachsen. Der Vater ein hochbezahlter Krankenhaus-Vorsteher, die Mutter eine ambitionierte Schauspielerin mit ersten Engagements an den großen Theatern des Landes. Die Familie wohnte am Stadtrand in einer Villa mit Garten. Von Anfang an stand eine Betreuerin für das Kind zur Verfügung. Zunächst eine ältere Verwandte der Mutter, dann die deutsche Studentin Silke Buchmacher, deren Einfluss auf meinen Mandanten im Zuge der Verhandlung leider nicht ausreichend gewürdigt wurde.
Es ist bedenklich, wenn Eltern überzeugt sind, dass ihr Sohn oder ihre Tochter Großes erreichen werde, wofür sie kleinste Vorlieben und Geschicklichkeiten schon im frühen Kindesalter als untrügliches Zeichen nehmen. Weit bedenklicher noch ist, wenn ihre Zuneigung allein dieser künftigen Größe gilt und in dem Maße abnimmt, in dem das Kind ihre Hoffnungen enttäuscht. Vollends unerträglich aber wird die Sache, wenn der Erfolg gar nicht eigentlich von der Person des Kindes, sondern von den in ihm schlummernden Genen eines bedeutenden oder für bedeutend gehaltenen Vorfahren erwartet wird, von einer biologisch wirkenden Prädestination.
Im Falle meines Mandanten war dieser Vorfahre väterlicherseits ein bereits verstorbener Heimatdichter. Sie werden vielleicht von ihm gehört haben, weil einzelne seiner Werke in Schulbüchern abgedruckt sind. Was Sie wahrscheinlich nicht wissen, ist, dass Johann Roßschwinger Grübchen in den Wangen hatte, wenn er lächelte, was er selten tat, weil ihm die Grübchen weibisch vorkamen. Kaum begann das Gesicht des kleinen Bruno Konturen anzunehmen, zeigten sich auch bei ihm die Wangengrübchen des Urgroßvaters. Man hielt sie allseits für niedlich und nahm sie in Verbindung mit dem frühen Spracherwerb des Kindes als Zeichen seiner literarischen Begabung.
Ich überspringe die ersten Kinderjahre meines Mandanten und komme zu dem Zeitpunkt, als die Studentin Silke Buchmacher in sein Leben trat. Sie hatte den Auftrag, ihrem Schützling akzentfreies Deutsch beizubringen, eine Aufgabe, der sie mit großer Gewissenhaftigkeit und einer gehörigen Portion Kritiklust nachkam. Der junge Bruno fürchtete sich vor ihr und wollte ihr mit seinem Dichter-Urgroßvater imponieren. Aber nachdem er ihr einige Gedichte vorgelesen hatte, verzog sie das Gesicht zu einem mitleidigen Lächeln und sagte: "Du weißt aber schon, dass das Schrott ist?" Wie Frau Buchmacher, die Soziologiestudentin, zu diesem Urteil kam, wissen wir nicht.
Unter den Heimatdichtern gibt es natürlich solche und solche. In Johann Roßschwingers Werken hieß es oft: "Wo sonst auf diesem Erdenrund ..." oder "Nie hat ein Auge Schöneres erblickt ..." oder "Du unvergleichlich Vaterland ...", also Phrasen, die geeignet sind, die Bewohner anderer Heimaten vor den Kopf zu stoßen - oder neugierig zu machen. Heute würde dergleichen niemand mehr schreiben, schon um nicht die Zuwanderung zu fördern. - Das harsche Urteil seiner Betreuerin verunsicherte Bruno jedenfalls so sehr, dass er seinen Lieblingslehrer um eine ehrliche Einschätzung der Gedichte bat und erfuhr, dass sie "etwas angestaubt" und "nicht von erster Güte" waren.
Euer Ehren, ich glaube, dass man solchen Vorfällen aus der Jugend eines Angeklagten Beachtung schenken muss, um seine weitere Entwicklung besser zu verstehen. Bruno hatte selbst schon einige Gedichte geschrieben, die hauptsächlich der Mutter gewidmet waren. Je seltener er sie sah, desto mehr dichtete er für sie. Dabei ging es um Beobachtungen im Garten, um Blumen, die sich der Sonne öffneten, um Grashalme, die sich nach einem Regen aufrichteten und andere kleine Begebenheiten mit erotischer Konnotation.
Nach dem Sturz des großen Heimatdichters durch Silke Buchmacher und den erwähnten Lehrer aber zog mein Mandant, damals vierzehn, einen Schlussstrich unter sein künstlerisches Schaffen. Keine Gedichte mehr für die schöne Mutter. Stattdessen Sport, Kameraden und erste Kontakte mit Alkohol. Die Eltern bemerkten es kaum, die Mutter, weil sie hauptsächlich zum Rollenstudium nach Hause kam, der Vater, weil er damit beschäftigt war, eine Parallelfamilie zu gründen. Nur die Großmütter wunderten sich über die neuen Vorlieben und waren besorgt. Sie versuchten, ihren Enkel wieder in die Spur des Johann Roßschwinger zu drängen.
Als mein Mandant sechzehn war, trat das spätere Opfer zum ersten Mal in sein Leben - an der Seite von Silke Buchmacher. Sie hatte Max Bräuner beinahe an der Uni kennenglernt. "Beinahe", weil er zwar inskribiert aber, aber tagein-tagaus mit seinen Freunden im universitätsnahen Café "Einstein" saß und eine neue Gesellschaftsordnung entwickelte. Im Gegensatz zu Johann Roßschwinger sah Max Bräuner in seiner Heimat einen Ort der Verwahrlosung und des Niedergangs, wo raffgierige Politiker im Verein mit betrügerischen Unternehmern die Bevölkerung aussaugten, wo Wälder verrotteten, Seen verdunsteten und Singvögel verhungerten. Silke Buchmacher wollte sich offenbar einige Wochen mit dem Finsterling vergnügen, ehe sie nach Deutschland zurückkehrte, um an ihrer Dissertation zu arbeiten.
Euer Ehren, es liegt mir fern, das Opfer posthum zu kritisieren oder gar für sein Schicksal verantwortlich zu machen, aber möglicherweise hätte die spätere Begegnung der beiden jungen Männer einen günstigeren Verlauf genommen, wenn Max Bräuner den sieben Jahre jüngeren Bruno mit weniger Geringschätzung behandelt hätte. Nicht nur nannte er ihn einen verwöhnten "Cottageboy", wenn er Silke Buchmacher von der Arbeit abholte, er ließ auch durchblicken, dass er von seinen Gartengedichten wusste und wem sie gewidmet waren. Er versuchte, den Jüngeren in Grundsatzdiskussionen zu verwickeln, wissend, dass dieser keine Ahnung von Politik hatte. Mein Mandant erzählte mir, wie froh er jedes Mal war, wenn sich Max Bräuner verabschiedete.
Die Bezeichnung "Cottageboy" ist so treffend wie unzulänglich. Sie meint einen am Stadtrand in Haus mit Garten lebenden jungen Mann ohne materielle Sorgen, einen, der nicht in den Ferien arbeiten muss, um sich eine Vespa kaufen zu können. Einen, der wahrscheinlich studieren und bald eine wichtige Position innehaben wird. Worüber sie rein gar nichts aussagt, sind die familiären Umstände, unter denen er aufwächst. Und doch kommt es gegebenenfalls zu den ewig hämisch-bestürzten Pressemeldungen wie "Sohn aus gutem Hause erdolcht Stiefmutter" oder "Bierbrauerei-Erbe rast mit 200 km/h durchs Stadtgebiet".
Zum Zeitpunkt seiner Volljährigkeit lebte mein Mandant allein mit seiner Mutter, die als Schauspielerin ein wenig aus der Mode gekommen war. Dafür wollte sie von ihm in die Arme genommen und getröstet werden. Ein anderes Mal wieder scheuchte sie ihn aus dem verdunkelten Schlafzimmer, weil die Ähnlichkeit mit seinem Vater ihr das Herz zu brechen drohte. Letzterer ließ kaum noch von sich hören, außer wenn er den Sohn im Squash besiegen oder seine neue Ehefrau ärgern wollte. Kindesmissbrauch hat viele Gesichter, aber Bruno Roßschwinger war ja nun kein Kind mehr. Zum achtzehnten Geburtstag schenkte man ihm eine alte Metallkassette mit den unveröffentlichten Werken des Urgroßvaters.
Es zeigte sich, dass Johann Roßschwinger das geliebte Vaterland als Teil eines größeren Ganzen, eines Großreiches, sah, wo blühende Jungfrauen durch Wälder und Auen tanzten, verfolgt von nicht minder blühenden Jünglingen, die ihnen blühende Kinder zu Ehren des Führers machen wollten. Da ging es auch um Soldaten, die mit freudigen Herzen in die Schlacht zogen und um den großen Allvater, der mit seiner Menagerie höchstpersönlich über den siegreichen Ausgang wachte. Bedenkliche Texte allesamt. Und dennoch: Was die ephebenhafte Gestalt seiner Freundin Beatrice nicht vermochte, schafften diese Gedichte. Bruno kehrte zur Poesie zurück.
Es ist die Wucht der poetischen Wort, die den unvorbereiteten Nicht-Dichter schlagartig erkennen lässt, in welcher primitiven Sprachhöhle er wohnt, ausgestattet nur mit Werkzeug für die einfachsten Belange. Er spürt, wie groß der Unterschied ist zwischen "da bin ich gern, da g'hör ich hin" und "bersten will mir die Brust auf deinen lichten Höh'n". Bruno ließ sich ergreifen. Aber gewiss nicht von Kriegslust und Rassenwahn, die auch der Urgroßvater nicht ganz verinnerlicht gehabt zu haben schien. - Unter dem Stapel von Gedichten und kleinen Prosawerken lag eine alte Wehrmachtspistole. Bruno nahm sie an sich und trug sie als Andenken im Innenfach seines Rucksacks.
Euer Ehren, lassen Sie mich noch ein letztes Mal ein wenig ausholen, um den Charakter des Angeklagten zu beleuchten. Mit der Heimatliebe ist es so eine Sache. Die meisten spüren sie nur, wenn sie im Auslandsurlaub auf Ungemach stoßen, wenn die Fremde plötzlich feindselig wird. Eine Erkrankung, ein Unfall oder eine Autopanne genügen schon. Andere brauchen die Vogelperspektive. Sie werden immer dann von der Heimatliebe ergriffen, wenn auf einem Berg oder auf der Spitze eines Turms stehen. Dann sagen sie zufrieden: Es ist schon ein schönes Land! Die Verteidigung der Heimat gegen Kritiker aber beruht möglicherweise nicht auf einer besonderen Verbundenheit, sondern auf gekränkter Eitelkeit nach dem Motto: Wer mein Vaterland angreift, meint eigentlich mich. Ich glaube, dass wir es im vorliegenden Fall wenigstens anteilsweise mit einer solchen Kränkung zu tun haben.
Mein Mandant hatte bis zu jenem unglücklichen Abend eine Reihe von lyrischen Texten verfasst, die allesamt von der Schönheit der heimischen Natur und Kultur handelten. Damit waren sie thematisch recht ungewöhnlich und originell. Ein kleiner Verlag konnte von Brunos Vater für die Veröffentlichung gewonnen werden, während die Mutter ihre Beziehungen zur Theaterwelt nutzte und eine Lesung auf einer Kellerbühne organisierte. Mehrere junge Talente durften dort zum Thema "Unheimliche Heimat" Kostproben ihres Schaffens präsentieren. Im Publikum saß Max Bräuner, mittlerweile dreißig und Blogger geworden.
Er muss sehr überrascht gewesen sein, als nach einer Reihe der üblichen kritischen Beiträge Bruno Roßschwinger aufs Podium trat, in die Runde lächelte, einen Schluck Wasser nahm und mit geschlossenen Augen ein mehrstrophiges Gedicht über eine Marienstatue in einer kleinen Waldkapelle vortrug. Nachdem die letzte Zeile verklungen war, sagt Max Bräuner in die betretene Stille: "Du weißt aber schon, dass das ein Schmarrn ist? Alter, willst du uns hier verarschen?!" Es war leider die letzte Frage, die er in seinem Leben stellte, denn Bruno Roßschwinger griff in den Rucksack, holte die Pistole des Urgroßvaters heraus, zielte auf sein Opfer und drückte ab. Immer noch lächelnd, wie die Zeugen einhellig versichern.
Euer Ehren, wir dürfen aus diesen Umständen den Schluss ziehen, dass mein Mandant auf Kritik zwar empfindlich, vielleicht impulsiv, aber nicht mörderisch reagiert. Völlig unbewandert in diesen Dingen, dachte er keinen Augenblick daran, dass die alte Waffe geladen sein könnte. Er hat zwar zugegeben, dass er Max Bräuner wiedererkannte, aber wer würde über so viele Jahre einen solchen Groll hegen? Noch dazu, wenn ihm die Sprache der Dichter zur Verfügung steht? Wenn er eine kleine Schmähschrift, ein Spottgedicht oder ein bissiges Dramolett verfassen könnte?
Den Herren und Damen auf der Geschworenenbank möchte ich zu bedenken geben, dass Bruno Roßschwinger zwar möglicherweise kein bedeutender Poet, seine Liebe zur Heimat als verkleidete unerwiderte Liebe zum Elternpaar aber tief empfunden ist, soweit man den Empfindungen, die in der Poesie zum Ausdruck kommen, Glauben schenken darf. Würde so jemand einen Anderen, einen Mitmenschen und Mitbürger töten wollen? - Das eigentlich tragische Moment in der Geschichte ist, dass diese alten Waffen immer noch scharf sind.
Ich bitte das Gericht um ein mildes Urteil.