Poetry Slam [Sieger der Herzen]

Hundsstern

Mitglied
Mittwochabend. All alone da oben, im Fokus der bunten Scheinwerfer. Ich lese von einer Karteikarte ab.

"Viele kleine Lichter
hier denken, sie sind Dichter
doch statt
wie im Lyrik-Turm
die leuchtende Rapunzel
sind sie nur
'ne Funzel
mit 15 Watt.
Irres Geschwalle.
Alle.
Inzest. Incel.
Selbstmitleid. Gewinsel.
Klebrig wie 3-Wetter-Taft
Kleine Flamme, eig'ner Saft
Hirn? Wie welke Tulpen
Menschlich? Nulpen."

[Sekundenlang Totenstille. Man könnte eine Stecknadel-Fabrik fallen hören, wäre sie nicht pleite gegangen. Dann wütende Poeten, ein entfesselter Literaten-Mob, ... Tomaten, faule Eier, 40-teilige Bestecksets fliegen Richtung Bühne, "Tötet ihn"-Rufe... Flucht durch den Hinterausgang, wo schon mein Mofa fröhlich tuckernd auf mich wartet.

Ich drücke noch drei Mal auf die Hupe. Fickt euch, Clowns. Kurzer, aber geiler Abend] .
 

Anders Tell

Mitglied
Du hast Dich also amüsiert. Ich nicht. Daran ist nichts lustig. Es gibt hervorragende Slammer und ich sehe keinen Grund, diese zu schmähen. Der einzige der sich zum Affen gemacht hat ...
 

Aniella

Mitglied
Hallo @Hundsstern,

ich bemühe mich stets, nicht nur die Wörter zu lesen, sondern die Worte.

Was für eine geballte Ladung Wut ist hier verpackt, die dringend ein Ventil sucht. Ich habe versucht, den Vorhang ein wenig zur Seite zu schieben, denn die Worte wollen ja (ausgehend vom Titel) ausdrücklich gerade nicht schmähen (wie von @Anders Tell interpretiert), sondern mMn etwas ganz anderes aufdecken.
Man nehme die Decke und ziehe sie weg. Was bleibt?

Tiefergehende Interpretationen möchte ich an dieser Stelle dennoch nicht ausführen, es sei denn, es wird ausdrücklich vom Autor gewünscht. Ich befürchte, es könnte sonst ein Rundumschlag werden, der uferlos ist. Nur kurz angemerkt sei, alles nur aus meiner Sicht, dies ist ein Text, der absoluten Frust deutlich macht. Ob der so einseitig nur von einem einzelnen Menschen so empfunden wird, wage ich zu bezweifeln. Was ich aber relativ sicher weiß, ist, dass oft lieber die Wörter ordentlich ins Reagl sortiert werden, aber dabei vergessen wird, dass man die Worte damit eventuell löschen würde.
Ich vermisse (wie auch an derer Stelle im Forum, bei einem ähnlichen "Wutausbruch"), die Lösung. Aber genau das ist der springende Punkt (und nein, natürlich muss der Text das nicht leisten, es reicht, wenn etwas angeprangert wird?), es vergrößert lediglich die Anzahl der Menschen, die dem Gedanken zustimmend folgen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang ebenfalls die ewige Suche nach dem "Schuldigen". Geht es uns allen besser, wenn wir die Wut auf ihn richten? Ernsthaft? Ich glaube nicht. Ein gefährliches Werkzeug, mit dem da gespielt wird, wie ich finde.
[Nebenbei: Die Neugier/der Wissensdurst des Menschen ist unerschöpflich. Das ist auf der einen Seite gut, denn sonst wären wir nicht so weit gekommen mit Forschung und Wissenschaft. Aber wie alles, hat es seine zwei Seiten. Denn das, was am Ende daraus wird, liegt nicht mehr in der Hand des Einzelnen, der mit seinem Tunnelblick nur auf seine Entdeckung gepolt ist. Ehe der merkt, dass er sich bereits im freien Fall befindet, ist es zu spät.]

Hier in diesem Text wird der Versuch gestartet, aufzuwecken, bevor alles zu spät ist. Die eigene Lösung des Lyrichs, dem Puplikum diese eine Sicht der Dinge vor die Füße zu spucken und zu gehen, damit die Zuhörer/Leser Zeit haben, darüber nachzudenken, verpufft (leider) angesichts der Wut, die alles unter sich begräbt. Angriff provoziert Gegenangriff. (Leider gibt es auch völlig scheinbar sinnfreie Angriffe aus keinem gegebenen Anslass, aber das ist ein anderes Thema.)
Die spontane Trennung vom Vortragenden und den Zuhörern ist vielleicht eine benötigte Atempause, die Platz für Gedanken gibt, die nicht mit dem Betätigen des Lichtschalters am Ende des Tages beendet sind. Es ist auch allemal besser, als die Lanze gegen sich selbst zu richten.

Wenn wenigstens das Ventil hier eine Entlastung gebracht hat, so ist einer der vielen Sinne bedient worden.

(Eine kleine Anmerkung in eigener Sache, weil sie immer wieder angesprochen wird.
Der Anspruch, dass man hier in der LL in erster Linie am Text arbeiten sollte, schließt für meine Begriffe die intensive Auseinandersetzung mit dem Inhalt nicht aus. Mich persönlich interessiert in erster Linie der Inhalt und ob mich der Text erreicht. Natürlich sollten alle anderen Aspekte berücksichtigt werden, aber ich kann nicht nachvollziehen, dass Zeilenumbrüche, Metrik, Rhythmus, Blocksatz etc. wichtiger sein sollen. Hier wird ja kein druckreifer Text an einen Verlag eingereicht, dafür müsste noch viel mehr berücksichtigt werden. Auch Kommentatoren haben einen begrenzten Bereich, in dem sie wertvolle Tipps geben können. Wer meint, er könne alles abdecken – vor dem ziehe ich den Hut. Für die großzügige Einräumung, man dürfe auch den Inhalt berücksichtigen, bedanke ich mich herzlich. Ich werde davon weiterhin Gebrauch machen in dem mir möglichen Rahmen.)

Falls ich – und diese Möglichkeit ziehe ich durchaus immer in Betracht – mit meiner Lesart hier völlig daneben liege, kann ich damit auch leben. Dann wäre ich allerdings dankbar, für ein paar erleuchtende Worte seitens des Autors, wenn er sich nicht noch auf Reisen befindet.

Dir und allen anderen einen schönen Donnerstag wünscht –

Aniella
 

Anders Tell

Mitglied
Hallo Aniella,
ich staune immer wieder, wie man aus so kleinen Zitronen so viel Saft pressen kann. Man kann die Form nicht vom Inhalt trennen, sagt Adorno, den man ja inzwischen nicht mehr zitieren kann, ohne in eine etikettierte Ecke gedrängt zu werden.
Sehr viele, besonders lyrische Beiträge hier beschäftigen sich mit der Dekonstruktion der Form und von aller Form entkleidet bleibt häufig kein Inhalt übrig. Über diesen wird dann aber seitenweise schwadroniert. Vornehmlich, um die eigene Gelehrtheit zu illuminierten. Wobei ich nicht verhehlen kann, dass manche Kommentare literarische Qualität entwickeln.
Dekonstruktion, also Abbau der Form ist im Keim destruktiv. Und so bleibt es nicht aus, dass formalere Texte gnädig belächelt werden.
Da frage ich mich, wer der Adressat solcher Dekonstruktionen ist. Wahrscheinlich doch nur jene, die mit viel Lust an der Enigma-Entschlüsselung noch so wenig Substanz zum neuen Kosmos ausrufen. Ich will Ihnen diese Freude nicht nehmen. Sie bleiben ja ohnehin unter sich, wenn sie nicht das Ziel haben, mit klaren verständlichen Worten einen weniger euphorisierten Zeitgenossen zu erreichen.
Die Slammer, meist junge Wilde, bringen oft Ihre Frustration zum Vortrag und viele sehr gekonnt. Dabei wollen die wenigsten ewigen Ruhm oder Dichterlorbeer ernten. Sie haben etwas zu sagen, finden Zuhörer. Manchmal sollte man seine Echoblase öffnen und einen Blick auf andere Bühnen lenken.

Ein Wutfunke ist vielleicht doch übergesprungen. Aber nicht gegen Dich und Deinen Kommentar.

Anders
 

sufnus

Mitglied
Netter Versuch @sirius :) - für mein Liking ein bisschen lieblos verreimt, Dichter-Lichter und Tulpen-Nulpen sind jetzt nicht so die Mega-Originellen Reime und die Rapunzel im Dichterturm ergib zwar ein lustiges Bild, aber die reimgeschuldete Funzel ist dann wieder etwas fantasielos angeflanscht. Viele andere endzeilenständige Hinguck-Wörter bleiben gleich ganz ohne Reimpartner. Also das sieht rein auf formaler Ebene alles etwas struddelig aus. Auch den Rhythmus find ich jetzt noch etwas überarbeitungsbedürftig (nicht in dem Sinn, dass jetzt ein stramm-durchgezogenes Metrum herbeigeknüppelt werden soll - eher würde ich mir etwas mehr Groove aus Knie und Hüfte wünschen, ist rhythmisch ein bisschen eckig tanzschulgrundkurshaft.
LG!
S.

P.S.:
Dein Nicht-Kommentier-Vorsatz, lieber Anders hat ja lange gehalten!:p Was meinst Du denn bei Deinem kritischen Seitenblick mit dem Hinweis formdekonstruierende Lyrik?
 

Anders Tell

Mitglied
Sorry, Sufnus,
ich habe gar nicht auf die Rubrik geachtet. Es steht ja unter Ungereimtes. Kleine Rückfälle gibt es bei Diäten schon einmal.
Ich meine eben jene Beiträge, die erklärtermaßen die Form aufheben wollen. Das ist ja nichts Neues und oft innovativ, wenn es nicht zum Selbstzweck verkommt. Wenn alles so verschlüsselt wird, fragt man sich, vor wem die Botschaft geschützt werden soll.
Inzwischen denke ich manchmal, dass ich mit meiner Allergie keine Leidensgenossen habe.
Anders
 

Aniella

Mitglied
Hallo @Anders,

ich musste mich selbst erst an diese Formen gewöhnen, bevor ich damit überhaupt etwas anfangen konnte. Gelingt mir auch nicht immer, es gibt genügend Beispiele auch hier, wo es sich mir nicht erschließt. Manche Dinge brauchen ihre Zeit – vielleicht sogar auf beiden Seiten. ;-)

@sufnus – jetzt hast du mich verblüfft. Nicht wegen der fachlichen Anmerkungen, sondern wegen des Users, den Du hier angesprochen hast. Ist das ein "insider", hast Du Dich geirrt, oder stehe ich da doch richtig auf dem Schlauch?

LG Aniella
 

sufnus

Mitglied
Hey Aniella,
Anders hatte andernorts erklärt, dass er andere Forengedichte nicht mehr kommentieren möchte ;) Wenn er hier, wie er schreibt, einen "kleinen Rückfall" bei seiner "Diät" einräumt, müssen wir ihn uns halt als einen noch relativ neuen Vegetarier vorstellen, der bei einem Bratwurststand rückfällig wurde. Das kann natürlich immer mal passieren. :) Ich wollte es nur für mich einsortieren können, daher meine Bemerkung. :)
LG!
S.
 

Aniella

Mitglied
Falsch verstanden, weil nicht eindeutig benannt. Du sprichst den Autor Sirius an und nicht Hundsstern. mein Fehler. DAS hatte mich irritiert an Deinem Post.
LG Aniella
 

sufnus

Mitglied
Ach mist! Nee... das war echt mein Fehler, da hat mir wirklich mein etwas übermüdetes Gehirn einen kleinen Streich gespielt! Ich meinte natürlich nicht Sirius sondern Hundsstern. Ups.
Sorry @sirius falls Du das liest - da hab ich mich vertan! ;)
Danke für den Hinweis!
LG!
S.
 

mondnein

Mitglied
Ich lese von einer Karteikarte ab.
doppelter Rahmen des Bildes:
zunächst einmal sind (wie wir alle uns immer neu vergegenwärtigen) nimmer und nie lyrisches Subjekt und erster Leser (was meistens der Autor gewesen ist, aber ab der Veröffentlichung gibt es auch zweite, dritte usw. Leser) identisch. Manchmal schminkt sich der erste Leser die Farbe des lyrischen Ichs auf die Lippen, aber das ist nur ein Spiel.

Ich kann mir das Spiegelbild des enttäuschten Rappers gut vorstellen.
Und die des Karteikartenlesers im "gemalten Rahmen" des Spiegels auch.
Natürlich kann der Leser in solch einen gemalten und gerahmten Spiegel hineinschauen, als sähe er sich dort persönlich, aber auch das ist ein spielerisch-distanziertes Rollenspiel. Genauso gut, oder vielleicht sogar besser, ist eine lächelnde Distanz, zumal der Spiegel nicht den absoluten Leser zeigt, wer auch immer das sein will, sondern ein Bild, durch den inneren Rahmen sogar ein Bild im Bild. Ich sehe (und zähle) auch noch ein Bild im Bild im Bild.

grusz, hansz
 

mondnein

Mitglied
Dekonstruktion, also Abbau der Form ist im Keim destruktiv.
wenn das keine leere Tautologie sein soll, die natürlich immer so richtig ist wie "Kugeln sind im Keim rund", und so falsch wie "Alles was rund ist, ist im Keim eine Kugel",
genügt der zarte Hinweis auf die Fälle, bzw. hier, in einem Dichtungsforum,
auf die poetischen Verse,
die zunächst analytisch ihr Objekt auseinandernehmen, also dekonstruieren,
bevor sie die Elemente "synthetisch" wieder zu Neuem fügen.
Z.B. die Dekonstruktionsphase des "analytischen Kubismus",
dem der "synthetische Kubismus" folgte.
 



 
Oben Unten