Pogrom

Seit beinahe anderthalb Stunden stand er nun schon in der Fensternische seines Arbeitszimmers und spähte hinunter auf die Straßenkreuzung, über die seit dem Morgengrauen der entfesselte Mob wogte. Unter normalen Umständen in allem, was er unternahm, überaus achtsam, war er heute viel zu konfus, um daran zu denken, dass die Bewohner der auf der anderen Straßenseite befindlichen Häuser der in diesem Raum nie angebrachten Gardinen wegen ungehindert zu ihm hineinschauen und dabei wohl auch deutlich erkennen konnten, dass er noch immer seinen verknitterten und im Verlauf der kurzen, schlaflosen Nacht völlig durchgeschwitzten Schlafanzug trug.
Dass sie so schnell so weit gehen würden; nicht einmal in seinen finstersten Stunden hatte er ein derart rasches Umschlagen der öffentlichen Stimmung für möglich gehalten. Obschon er in den letzten Wochen mit großer Aufmerksamkeit und täglich wachsender Besorgnis verfolgt hatte, dass sich die Berichte über gewalttätige Übergriffe gegen die vor mehr als hundertfünfzig Jahren zugewanderte Bevölkerungsgruppe, der er von Staats wegen zugerechnet wurde, wieder einmal zu häufen begannen, hatte er einfach nicht glauben wollen, dass es sich dieses Mal tatsächlich um den Ausbruch des jede Generation mindestens einmal vorhergesagten Pogroms handeln könnte. Hatte es doch in der Vergangenheit oft genug vergleichbare Entwicklungen gegeben, die dann aber wenige Tage nach ihrem ersten Aufflackern mit teils überraschend drastischen Maßnahmen unterbunden worden waren, da die bisherigen Regierungen keinerlei Interesse an derartigen Entwicklungen gehabt hatten. Dass insbesondere die unteren sozialen Schichten der alteingesessenen Bevölkerung dazu neigten, in Zeiten, in denen die wirtschaftliche Lage schlecht und die Unzufriedenheit groß war, nach wehrlosen Sündenböcken zu suchen, an denen die aufgestaute Wut ausgelassen werden konnte; niemandem, der Wert darauf legte, weiterhin ernst genommen zu werden, wäre es in den Sinn gekommen, diese geschichtliche Tatsache bestreiten zu wollen. Trotz dieser widrigen Umstände hatten es die meisten Angehörigen der unterschiedlichen im Land lebenden Minderheiten jedoch irgendwie zuwege gebracht, sich ihr Leben einigermaßen erträglich und geordnet einzurichten; gar nicht so wenige sogar recht komfortabel.
Schon aus Eigeninteresse weit davon entfernt, irgendetwas an den von den Tätern mit den üblichen, abgedroschenen Argumenten begründeten Ausschreitungen, über die in der Tagespresse und im Rundfunk in ungewohnter Ausführlichkeit berichtet wurde, verharmlosen zu wollen, hatte er bis vorgestern noch fest darauf vertraut, dass es sich, wie bisher noch jedes Mal, um voneinander unabhängige, zufällig zur gleichen Zeit auftretende Auswüchse von jeweils lokal eingeschränkter Bedeutung handelte, und dass die in allen Berichten als wild zusammengewürfelt beschriebenen gewalttätigen Gruppierungen auseinanderbrächen, sobald die Medien ihren Auftritt gebührend gewürdigt hätten. Und zugegeben, er hatte sich einfach auch deutlich zu alt gefühlt, um sich von, wie er da noch angenommen hatte, nur wenigen Hundert gut organisierten Wirrköpfen in Panik versetzen zu lassen; zumal diese ihr Unwesen gemeinhin in den heruntergekommenen Industrievorstädten trieben, in denen Leute wie er ohnehin nichts verloren hatten. Freilich könnte auch der ihm im Kollegenkreis schon seit längerem zugeschriebene Eigensinn, den er aus gutem Grunde nie ernsthaft in Abrede gestellt hatte, den entscheidenden Ausschlag gegeben haben, dass er sich trotz einer ganzen Anzahl sehr eindringlicher Warnungen weder von seinem täglichen Gang zur Universität hatte abhalten lassen, noch bereit gewesen war, seine in langen Jahren eingeschliffenen Alltagsgewohnheiten abzulegen. Allenfalls wenn es darum gegangen war, in den mehrheitlich von Angehörigen der unteren Gesellschaftsschichten frequentierten Gassen der Unterstadt unaufschiebbaren Besorgungen nachzugehen, hatte er sich schon darum bemüht gezeigt, etwas mehr Vorsicht als zuvor walten zu lassen.

Kürzlich war er vierundachtzig Jahre alt geworden, und ihm war, obwohl er sich bis auf vereinzelte Studienaufenthalte nie längerfristig außerhalb des Landes aufgehalten hatte, niemals Ärgeres widerfahren, als dass er sich hin und wieder von irgendeinem rassistisch verblendeten Hohlkopf ohne ersichtlichen Anlass mit mal mehr, mal weniger derben, in der Regel ebenso unzutreffenden wie albernen Schimpfworten hatte bedenken lassen müssen. Sich auf diese Erfahrung berufend, hatte er erst vor wenigen Tagen in einem Gespräch mit einigen seiner Studenten, die sich geradezu rührend um seine Sicherheit besorgt gezeigt hatten, die Ansicht vertreten, dass sein Leben hierzulande zwar keineswegs immer so verlaufe, wie es wünschenswert sei, er aber auch nicht glaube, dass es, was er selbstverständlich überaus zu schätzen wisse, auch nur annähernd so gefährlich wäre, wie sie es offenbar empfänden, was er dem durchaus lobenswerten moralischen Rigorismus zuschriebe, der der Jugend naturgemäß zu eigen sei. Vorausgesetzt, die Umstände blieben im Wesentlichen so, wie sie zur Zeit noch seien, erinnerte er sich, mit seiner Rede fortgefahren zu sein, würde er es als arg überzogen betrachten, seine allein schon aufgrund seines Alters knapp bemessene Zeit damit zuzubringen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob es angeraten wäre, sich andernorts niederzulassen; zumal er nicht die geringste Vorstellung davon hätte, wo man einen nutzlosen alten Mann wie ihn noch haben wolle. Daran, dass er die jungen Leute anschließend auch noch mit großem Nachdruck davor gewarnt hatte, sich der Hysterie anheim zu geben, weil damit die Saat des Unheils bereits aufgegangen wäre, mochte er nun lieber gar nicht denken; angesichts all dessen, was sich auf den Straßen und Plätzen der Stadt gerade abspielte, konnte er die Weise, in der er ihnen gegenüber aufgetreten war, nicht anders als überheblich und lebensfern bezeichnen.
Seit vorgestern Mittag hatten sich die Ereignisse nämlich geradezu überschlagen. Begonnen hatte es damit, dass ein bis dahin wenig bekannter parlamentarischer Hinterbänkler der regierenden Partei in einer von allen bedeutenden Rundfunksendern übertragenen Debatte zu nationalen Zukunftsfragen hatte verlautbaren lassen, man sei nicht länger bereit, den, wie er mit sich effektvoll überschlagender Stimme hervorstieß, ins Unerträgliche gesteigerten Missbrauch der stets großherzig gewährten Gastfreundschaft durch die im Lande weilenden Einwanderer, deren Anzahl zudem seit Jahrzehnten übermäßig anstiege, zu erdulden. Dieser von erlogenen oder dreist verdrehten Behauptungen nur so strotzenden Hetztirade, die im Übrigen in keinerlei nachvollziehbarem Bezug zu den vorangegangenen Redebeiträgen gestanden hatte, war weder von den anwesenden Regierungsmitgliedern, noch von den Abgeordneten der Opposition etwas entgegengesetzt worden. Er, der diese bis zu diesem Zeitpunkt wie immer eher ermüdende Rundfunkübertragung nur beiläufig verfolgt hatte, war von dem, was er sich da gerade hatte anhören müssen, vollkommen überrascht worden. Derart unverhohlen geäußerte Fremdenfeindlichkeit hatte es in der offiziellen Politik seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr gegeben.
Während er noch darüber nachgedacht hatte, welche Auswirkungen diese niederträchtige Brandrede haben könnte, hatte er vom Fenster seines Arbeitszimmers aus beobachtet, dass auffällig viele Polizei- und Militärfahrzeuge auf den Straßen unterwegs waren. Zunächst hatte er sich beharrlich geweigert, das, was er sah, auch zu glauben, doch alsbald war er zu der erschreckenden Erkenntnis gelangt, dass die öffentliche Verwaltung an dem, was sich zusammenbraute, beteiligt sein musste. Das war der Augenblick gewesen, in dem die ernste Sorge, die ihn bisher bewegt hatte, in lähmendes Entsetzen umgeschlagen war.
Entgegen seiner Gewohnheit, nachmittags ein wenig durch die Stadt zu schlendern, für ein, zwei Stunden in einem der Cafes unten am Hafen zu sitzen und vor sich hin zu träumen oder den vorüberwandelnden Leuten zuzuschauen, war er für den Rest des Tages in seiner Wohnung geblieben; zum einen aus Gründen der Vorsicht, zum anderen, weil ihm die Lust, sich unter Menschen zu begeben, gründlich vergangen war.

Die Nachrichten in den gestern Morgen von ihm zu ungewöhnlich früher Stunde hereingeholten und fahrig durchgeblätterten Tageszeitungen hatten erkennen lassen, dass die Lage weitaus bedrohlicher war, als er angenommen hatte. Um viel mehr als die knappen Zusammenfassungen unter den Überschriften zu lesen, hatte er jedoch nicht die Kraft aufgebracht; sich mit den widerwärtigen, über mehrere Seiten hinweg in gewissenhafter Ausführlichkeit geschilderten Einzelheiten zu befassen, wäre ihm wie Hohn und Verrat an all denjenigen vorgekommen, über denen die Wogen des Hasses bereits zusammengeschlagen waren. Nachdem er die Zeitungen in einem Anfall sinnlosen Aufbegehrens in kleine Stücke zerfetzt und die Reste dann zusammengeknüllt und in den Mülleimer geworfen hatte, war er lange ziellos durch die Wohnung geirrt, fieberhaft darum bemüht herauszufinden, wie ihm, der es nun wirklich hätte besser wissen müssen, eine dermaßen folgenschwere Fehlbeurteilung der politischen Entwicklung hatte unterlaufen können. Wieder und wieder hatte er sich der Torheit und des Hochmuts geziehen, war letzten Endes aber zu der Feststellung gelangt, dass der ausschlaggebende Grund, weshalb er die herannahende Gefahr schlichtweg nicht hatte sehen wollen, wohl kein anderer als der gewesen war, dass er die Arbeit an dem umfänglichen Werk, dessen Fertigstellung nach mehr als anderthalb Jahrzehnten verbissenen Materialzusammentragens und Überarbeitens endlich absehbar schien, unter keinen Umständen hatte unterbrechen wollen.
Von dieser Einsicht bis zu der Überlegung, das Werk sei erst recht verloren, würde der Pöbel seiner habhaft, war es kein weiter Weg bis hin zu dem Entschluss gewesen, sich so schnell als irgend möglich außer Landes zu begeben. Wenige Minuten nachdem er sich zu dieser Entscheidung durchgerungen hatte, war er auch schon mit einem bereits vor Jahren nach Bologna ausgewanderten Kollegen telefonisch in Kontakt getreten, um sich zu erkundigen, ob dessen vor langer Zeit einmal ausgesprochene, aus vielerlei Gründen bislang aber nie verwirklichte Einladung noch Gültigkeit besäße. Das Interesse an seinem Besuch war erfreut bekräftigt und er von dem Freund mit großem Ernst ermahnt worden, die Abreise unter gar keinen Umständen länger hinauszuzögern. Er hatte zugesagt, sich im Verlauf des nächsten Tages auf die Reise zu begeben, und unmittelbar darauf auch schon begonnen, seine im Lauf des letzten Jahrzehnts unter einer dicken Staubschicht verschwundenen Koffer zusammenzusuchen und mit all den Gegenständen zu füllen, die ihm für einen längeren Auslandsaufenthalt unverzichtbar schienen.

Nach der Beendigung des ihm ungewohnt gewordenen und daher sehr zeitaufwendigen Packens seines Reisegepäcks hatte er drei oder vier Stunden im Bett verbracht, doch schlafen hatte er nicht können. Von Übermüdung und Niedergeschlagenheit seines Antriebs beraubt, hatte er nach dem viel zu frühen Aufstehen lange Zeit einfach nur in der Küche herumgesessen und seine Zeit mit verschwommenen, nutzlosen Gedanken vertrödelt, anstatt sich anzukleiden, ein Taxi zu nehmen und sich zum Bahnhof fahren zu lassen.
Nachdem er, was er vielleicht besser unterlassen hätte, der Sechsuhrnachrichten wegen das Radio eingeschaltet hatte, um zu hören, ob womöglich eine Entspannung der Situation eingetreten sei und die Flucht somit nicht mehr nötig wäre, hatte ihn das, was der Sprecher in dürren, geschäftsmäßigen Worten verlesen hatte, seiner letzten Kraftreserven beraubt. Unmissverständlich war er nun darüber ins Bild gesetzt, dass über Nacht jeglicher Gelegenheit, sich dem nahenden Unheil noch zu entziehen, der Riegel vorgeschoben worden war. Der Ausnahmezustand war verhängt worden und die Grenzübergänge für Ausreisewillige gesperrt. Außer Landes zu reisen, war nur noch mit einer gesonderten behördlichen Erlaubnis möglich, und alle unter den Zuwandererstatus fallenden Menschen waren unter Androhung härtester Bestrafung angewiesen worden, den mit der Hand transportierbaren Teil ihrer Habe zusammenzupacken, und sich nach der Übergabe der Wohnungsschlüssel an die Hauswarte unverzüglich zu den jeweils nächstliegenden Polizeirevieren zu begeben.
Noch während er mit zitterigen Fingern den Netzstecker des Radiogerätes herausgezogen hatte - er war dermaßen durcheinander gewesen, dass er sich nicht mehr hatte erinnern können, welcher der Knöpfe dazu diente, es auszuschalten - war er abwechselnd von unfasslicher Trauer, lähmender Angst und absoluter Ratlosigkeit erfüllt gewesen und hatte seit undenklich langer Zeit wieder einmal Tränen die Wangen herunterlaufen spüren. Er konnte sich nicht entsinnen, jemals zuvor so müde, so niedergeschmettert und so sehr der Fähigkeit beraubt gewesen zu sein, auch nur einen einzigen klar umrissenen Gedanken zu fassen.
Wie versteinert hatte er lange Zeit einfach nur dagesessen, die gegenüberliegende Wand angestarrt und den Eindruck gehabt, deutlich spüren zu können, wie sein nur noch knapp bemessener Vorrat an Lebensenergie nutzlos verglühte.
Ohne es sich richtig zu vergegenwärtigen, hatte er sich dann doch irgendwann erhoben, war in das Arbeitszimmer hinübergetaumelt und hatte begonnen, das, was unten auf der Straße geschah, zu beobachten. Als hielte ihn dort irgendetwas gefangen, verharrte er seither reglos in der Fensternische und verfolgte mit zunehmender Fassungslosigkeit, was dort unten vor sich ging. Als er zum wiederholten Male mit ansehen musste, wie schwer mit Koffern, Bündeln und Taschen beladene Menschen ihre Häuser verließen und unter dem besinnungslosen Kreischen und Johlen Hunderter nur sehr enge Durchlässe gewährender Einheimischer in Richtung des einige Querstraßen weiter gelegenen Polizeipostens hasteten, erfasste ihn ein jäher Brechreiz und ihm begann schwindlig zu werden. Und doch war er nicht in der Lage, sich von dem scheußlichen Anblick abzuwenden. Um Halt suchend, krampfte er sich mit kraftlosen, blutleeren Fingern am Fensterbrett fest, wieder und wieder Gott anrufend, er möge doch endlich irgendetwas unternehmen, um dem grauenhaften Geschehen ein Ende zu bereiten.
Doch es wurde zusehends schlimmer. Vom Fehlen jeglicher Gegenwehr ermutigt, ging der sich bis eben noch auf drohende Gesten und verbale Übergriffe beschränkende Pöbel mehr und mehr dazu über, die unter der Last ihres Gepäcks schier zusammenbrechenden, mit tief eingezogenen Köpfen vorbeihetzenden Menschen anzuspeien, zu treten und zu prügeln. Als mit einem Mal mehrere offenkundig stark betrunkene Männer um zwei gerade einmal halbwüchsige Mädchen einen engen Kreis bildeten, aus dem zu entrinnen ihnen nicht möglich war, und damit anfingen, ihnen unter den anfeuernden Zurufen der Umstehenden die Kleider vom Leibe zu reißen, war die Grenze dessen, was er auszuhalten vermochte, überschritten. Sein Blick begann sich zu verschleiern, seine Beine knickten ein. Kraftlos aufseufzend sank er in sich zusammen und war bewusstlos, noch bevor er auf den Dielenbrettern aufschlug.

Kaum dass er wieder zu sich gekommen war, rang er sich zu dem Entschluss durch, sich der Anweisung, sich ihnen zu stellen, keinesfalls zu fügen. Wollten sie ihn denn unbedingt haben, müssten sie sich schon der Mühe unterziehen, ihn sich zu holen. Doch so deutlich ihm auch vor Augen stand, dass er keine Minute länger auf dem Boden liegen bleiben durfte, wollte er es vermeiden, den Schergen im Schlafanzug in die Hände zu fallen, so wenig wusste er, woher er die Willenskraft nehmen sollte, der es bedurfte, auf die Beine zu kommen.
Es brauchte dann auch geraume Zeit, bis er sich ungelenk aufgerichtet hatte und fiebrigen Sinns in sein Badezimmer hinübergetorkelt war, wo er sich die Zähne reinigte, sich rasierte und wusch. Als er damit fertig war, suchte er seinen besten Anzug aus den während der Nacht gepackten Koffern hervor und begann, sich mit genau der gleichen Sorgfalt anzukleiden, wie er sie unter gewöhnlichen Umständen auch an den Tag zu legen pflegte. Ihnen den Triumph zu gönnen, ihn in ungeordneter oder unvollständiger Bekleidung durch die grölende Menge treiben zu können, das verbot sich von selbst.
Sein Leben lang war ihm Heldentum jedweder Art zuwider gewesen; und doch begann er sich jetzt auszumalen, wie er ihnen zum Hohn hoch erhobenen Hauptes die bittere Zeche für sein kleinmütiges, einfältiges Zaudern entrichten würde. In einem für Sekundenbruchteile aufflackernden Anflug von Sarkasmus befasste er sich dann noch mit der Überlegung, dass es allein seines hohen Alters wegen ohnehin nicht mehr allzu viel gab, was man ihm würde antun können.
Als er mit Bedacht den wärmsten seiner Mäntel übergezogen und den Hut mit der breiten Krempe aufgesetzt hatte, nahm er den kleinsten seiner Koffer zur Hand, trug den größten Teil des in der Nacht hineingepackten Inhalts in den Schrank zurück, und legte neben dem fest mit Bindfäden verschnürten Manuskript, das ihm das Wertvollste war, noch eine Garnitur Wäsche und eine dünne wollene Decke hinein, denn er litt unter der Neigung, ungewöhnlich schnell ins Frieren zu geraten. Nachdem er die Riemen festgeschnallt und die beiden Schlösser hatte einschnappen lassen, stellte er den Koffer zu Boden und begann durch seine Räume wandernd von all den Dingen, die er im Laufe seines Lebens zusammengetragen hatte, Abschied zu nehmen. Kaum etwas von alledem besaß einen bezifferbaren materiellen Wert; doch ihm tat jetzt schon jedes auch noch so unscheinbare Stück leid, dem beschieden wäre, in die Hände von Leuten zu fallen, die es nicht zu schätzen wüssten.
Weit mehr als eine Stunde seiner knapp werdenden Zeit widmete er den überquellenden, sämtliche Wände des Arbeitszimmers bedeckenden Bücherschränken. Die Literatur, sie hatte sein Leben bedeutet. Sie war nicht nur seine einzige Leidenschaft, sondern auch die einzige dauerhafte Verbindung zu der ihm immer fremd gebliebenen Außenwelt gewesen, deren Kälte und Unerbittlichkeit ihn zeitlebens hatten frösteln lassen. Denn trotz der erdrückenden Zahl trostloser Schicksale und grauenhafter Ereignisse, die in der von ihm bevorzugten Belletristik sowie der geschichtswissenschaftlichen Literatur geschildert wurden, hatte er aus unzähligen Schriften auch den unbeugsamen Willen herauslesen können, die Beziehungen der Menschen untereinander endlich anders als durch Machtausübung, Herrschaft, Markt oder Gewalt ordnen zu wollen. Allein, dass es zu allen Zeiten Schriftsteller gegeben hatte, die so oder ähnlich wie er empfanden und dachten, war ihm oft ein Trost gewesen, wenngleich er sich nur in ganz seltenen Momenten der Vorstellung hingegeben hatte, Ansichten wie die der von ihm für ihre Aufrichtigkeit und ihren Mut geachteten Autoren würde er noch zu Lebzeiten in die Wirklichkeit umgesetzt sehen.
Nichts als eitle, trügerische Selbsttäuschung, bilanzierte er jetzt nüchtern, während er mit den Fingern wehmütig über die kunstvollen Intarsien des Schrankes, vor dem er gerade stand, strich und die kühle Klarheit seiner Gedanken ihm eine beklemmende Enge in der Brust verursachte. Sah es doch gegenwärtig ganz so aus, als sei ihm ein nicht minder scheußliches Schicksal beschieden, wie er es über andere unzählige Male gelesen, sich dabei eigenartigerweise stets sicher gewähnt hatte, so etwas könne niemals ihm selbst widerfahren. Bald, sehr bald, würde auch er wissen, wie sich ein Mensch fühlt, der, zur Ohnmacht verurteilt, der Gewalt und der Willkür roher, unberechenbarer Hohlköpfe ausgeliefert ist. In tiefer Verbitterung schüttelte er den Kopf; aus irgendeinem der Vernunft unzugänglichen Grunde schien es wohl unvermeidlich zu sein, dass man früher oder später von genau dem eingeholt und zu Fall gebracht wurde, wovor man sich ein Leben lang am ärgsten gefürchtet hat.
Dieser für sich allein schon niederschmetternden Erkenntnis folgte augenblicklich eine nicht minder schmerzliche: Trotz des umfänglichen Wissens, das er sich im Lauf der Jahre angeeignet und später auch an seine Studenten weiterzugeben versucht hatte, schien er in geradezu empörendem Maße mit Blindheit geschlagen und letzten Endes nie darüber hinausgelangt zu sein, sich die Welt so zurechtzuträumen, dass ausreichend Raum geblieben war, um sich einigermaßen wohnlich darin einzurichten.
Nun also war sie vorüber, die Zeit des Träumens, und der Zeitpunkt verpasst, an dem es noch einen Nutzen gehabt hätte, sich aus dem eitlen Selbstbetrug, in dem er sich verfangen hatte, herauszulösen und zu beginnen, sich mit den Fehlern der Vergangenheit auseinander zu setzen. Nun gab es nichts mehr zu tun; verspätete Einsichten ändern an den Gegebenheiten nichts, und von den Träumereien törichter alter Männer würden sich die aufgeputschten Horden weder beeindrucken noch aufhalten lassen. Jäh und brutal überraschte ihn der Gedanke, dass sie in gewisser, allerdings überaus zynischer Weise sogar für etwas gut war, die grauenhafte Unerbittlichkeit, in der sie vorgingen: Seine Augen standen endlich so weit offen, wie sie schon lange hätten offen stehen müssen, sein Blick auf die Wirklichkeit war plötzlich klar, unverstellt wie selten zuvor. Nun, wo es zu spät war, begriff er so vieles, was ihm über all die Jahre unbegreiflich geblieben war.
Noch ein letzter, Abschied nehmender Blick über die Einrichtungsgegenstände seines Arbeitszimmers, dann schloss er behutsam dessen Tür, trug einen der Stühle vom Esstisch des Wohnzimmer in die Mitte des Flurs hinaus, stellte den Koffer in Griffnähe daneben, setzte sich und wartete.

Als sie eine halbe Stunden später kamen, schlugen sie die Korridortür, die er eigens, um dies zu vermeiden, unverschlossen gelassen hatte, mit roher Gewalt ein; die Schelle zu betätigen oder auch nur auszuprobieren, ob die Tür sich auch anders hätte öffnen lassen, lag ihnen offenbar nicht. Das Krachen und Bersten des splitternden Holzes war noch nicht verhallt, da quoll bereits eine beträchtliche Anzahl augenscheinlich hochgradig erregter Nationalgardisten durch die Türöffnung herein; die Gesichter vor Anstrengung oder Wut tiefrot angelaufen. Ihre Waffen schussbereit in den Händen haltend, besetzten sie eilig alle Räume der Wohnung. Unmittelbar nach ihrem Eindringen war die Luft erfüllt vom Geruch nach Bier und Schnaps; offenbar hatte man sich kurz zuvor noch schnell den Mut angetrunken, dessen es anscheinend bedurfte, um über wehrlose Menschen, wie er einer war, herzufallen.
Vorerst jedoch schienen sie ihn gar nicht wahrnehmen zu wollen. Ihn immer wieder achtlos streifend oder beiseite stoßend, durchsuchten sie seine Zimmer, öffneten und durchwühlten sämtliche Truhen und Schränke und rissen Schubladen heraus, deren Inhalt sie nach einer oberflächlichen Begutachtung verächtlich zu Boden kippten. Wonach sie suchten, sie sagten es nicht.
Auch den neben ihm stehenden Koffer ergriffen, öffneten und untersuchten sie, und als sie nichts von dem darin fanden, was zu finden sie wohl erhofft hatten, ging einer damit durch das Wohnzimmer und zum Fenster hin, öffnete es und warf unter von unten heraufschallendem Hohngelächter Stück um Stück des Inhalts hinaus. Als er das Manuskript in die Finger bekam, schaute er kurz darauf und tat, als versuche er zu lesen, was auf dem Deckblatt geschrieben stand. Freilich war er nicht imstande, die ihm fremden Buchstaben zu entziffern. Ob er darüber in Zorn geraten war oder das, was er dann tat, ohnehin vorgehabt hatte; es war ihm nicht anzusehen. Geradeso, als ginge von dem Manuskript ein unerträglicher Geruch aus, begann er mit spitzen Fingern und angewidertem Gesicht die Bindfäden, mit denen die vielen Hundert eng beschriebenen Seiten zusammengehalten wurden, auseinander zu reißen und warf, nachdem ihm das gelungen war, Blatt für Blatt auf die Straße hinaus.
Gewahr werdend, dass sein Werk, in dem nicht nur die Arbeit einiger Jahrzehnte, sondern auch alle seine zuweilen unter heftigen Qualen gewonnenen Erkenntnisse steckten, unwiederbringlich verloren war, durchzuckte ihn das erste Mal in seinem Leben das Verlangen, einem anderen Menschen in blinder Wut ins Gesicht zu schlagen. Zugleich aber vergegenwärtigte er, dass er der Kultur, die anzueignen er sich Zeit seines Lebens bemüht hatte, nicht von einem Augenblick auf den anderen entrinnen konnte. Seine Welt war die der Sprache und des Wissens; seine Hände taugten zum Schreiben, zum Schlagen waren sie schlichtweg nicht geeignet.
Er ermahnte sich, Haltung zu bewahren; denn etwas anderes hatte er ihnen nicht entgegenzusetzen. Womöglich käme es ihren sogar gelegen, würde er versuchen, sie an dem Frevel zu hindern, den sie an ihm und seinem Eigentum begingen. Zumal sich keinesfalls ausschließen ließ, dass ihre Dummheit von einem solchen Ausmaß war, dass sie nicht einmal ahnten, dass es nicht des geringsten Vorwands mehr bedurfte, ihn zu vernichten; denn das hatten sie mit der Zerstörung seines Manuskriptes bereits erledigt. Nun war also auch noch das Letzte verloren, was ihm etwas bedeutet hatte, doch dass er ihnen als Zugabe auch noch seine Würde preisgäbe, das durfte nicht auch noch geschehen.

Im Wissen, nicht mehr über die Kraft zu verfügen, ihnen auch nur eine Minute länger bei ihrem aberwitzigen Zerstörungswerk zuzusehen, sog er so fest, dass ihn die Lungen schmerzten, Atemluft ein, richtete sich auf, so gut das in seinem Alter eben ging, straffte die mageren Schultern und überprüfte mit den Fingerspitzen noch einmal unauffällig den korrekten Sitz seiner Kleidung, ehe er sich demjenigen der Eindringlinge zuwandte, dessen selbstherrliches Auftreten darauf hindeutete, dass er der Anführer des Trupps war.
Ohne sich ein Zeichen der Furcht, die ihn währenddessen von innen her zu zerreißen drohte, anmerken zu lassen, ging er auf den vierschrötigen, ihn um Kopfeslänge überragenden Mann, der sogleich argwöhnisch vor ihm zurückzuweichen begann, zu, stellte sich vor ihn hin, stieß ihm mit dem ausgestreckten Zeigefinger gebieterisch vor die mit bunten Rangabzeichen und albern anmutenden Blechmedaillen behängte Brust und fragte mit einer Stimme, die ihm so fest schien wie vordem selten, wessen man denn eigentlich noch harre? Als ihm keine Antwort zuteil wurde, fuhr er fort, dass es, wolle man ihn schon zum Verlassen seiner Wohnung und zur Aufgabe seiner Habe zwingen, an der Zeit sei aufzubrechen. Unter keinerlei Umständen sei er gewillt, seinem und seiner Männer schändlichem Tun noch länger zuzusehen.
Eine Antwort gar nicht erst abwartend, wandte er sich um und schritt mit unbewegter Miene und hoch erhobenem Haupt zur Tür hinaus und die Treppe hinunter. Zu seiner Verwunderung versuchte niemand, ihn aufzuhalten. Auf dem untersten Treppenabsatz angelangt, gewahrte er eine größere Anzahl von der Straße her eingedrungener Menschen, die sich dort, wo die das untere Ende der Treppe in die Eingangshalle mündete, im Halbkreis aufgestellt hatten; einige ihm bekannte Gesichter aus der Nachbarschaft darunter. Es kostete ihn eine geradezu unmenschliche Willensanstrengung, sich das Entsetzen, das ihn angesichts des sichtlich nach Gewalt lechzenden Pöbels erfasste, nicht ansehen zu lassen. Bedenkend, dass sie ihn womöglich an Ort und Stelle zerfetzen würden, unternähme er den Versuch umzukehren, zwang er sich weiterzugehen und den Eindruck zu vermitteln, von ihrer Anwesenheit ganz und gar unbeeindruckt zu sein. Innerlich war er allerdings darauf vorbereitet, angegriffen und zu Boden gerissen zu werden, noch bevor er unten angekommen wäre. Doch je näher er denen, die zuvorderst standen, kam, desto mehr verstummte das aggressive, gehässige Raunen, das ausgebrochen war, sobald die Meute ihn um die Ecke hatte biegen sehen; nur aus den hinteren Reihen wehte hin und wieder ein überraschtes, undeutliches Wispern bis zu ihm hinüber. Während er geradewegs auf sie zusteuerte, geriet eine nervöse Unruhe in die Menge; man begann vor ihm zurückzuweichen und eine Gasse zu bilden, durch die hindurch er sich versteinerten Gesichts in Richtung Ausgang und auf die Straße hinaus begab.
Nachdem er die beiden weit offen stehenden Flügel des Tores hinter sich gelassen hatte, musste er feststellen, dass das merkwürdige Schauspiel, dessen er im Hausflur teilhaftig geworden war, sich auf der Straße fortsetzte. Wohin er sich auch wandte, verstummte der Mob und wich zurück. Gerade als er zu erwägen begann, ob es ihm womöglich doch noch gelingen könnte, ihnen zu entkommen, sah er eine Gruppe schwerbewaffneter Milizionäre sich den Weg in seine Richtung bahnen. Rasch hatten sie ihn erreicht und umringt, rührten ihn aber nicht an, sondern schoben sich mit ihm in ihrer Mitte durch die dicht zusammengedrängt stehende, mittlerweile verstummte und mit düsteren Blicken auf den allfälligen Ausbruch der Gewalt wartende Menge auf einen am Gehsteigrand abgestellten Lastwagen zu, auf dessen Ladefläche sich bereits eine große Anzahl wie Vieh zusammengepferchter Menschen befand; die Augen schreckensgeweitet, die Gesichter wachsbleich. Zwei jüngere Männer erhoben sich wortlos, halfen ihm von oben her die steilen Leitersprossen hinauf und nahmen ihn in ihre Mitte, als sie sich wieder niederkauerten. Einige der Gefangenen, die ihre Gesichter während seines Eintreffens zwischen den angewinkelten Armen verborgen gehalten hatten, getrauten sich aufzusehen, als sie hörten, dass die Soldaten sich wieder entfernten; vermutlich wollten sie herausfinden, ob der Neuankömmling womöglich ein Verwandter oder Bekannter wäre. Einen Augenblick lang sah man sich gegenseitig an, und manche versuchten sogar ein verschüchtertes, aufmunterndes Lächeln; doch keinem wollte es gelingen.

Als der Motor des Wagens gestartet wurde, hob er den Kopf, den er ermattet auf seine der Enge wegen dicht an den Körper gezogenen Knie hatte heruntersinken lassen, in die Höhe und blickte auf. Ein letztes Mal noch wollte er das Haus sehen, in dem er so viele Jahre zugebracht hatte. Doch es bot sich ihm kein tröstlicher, sondern ein bestürzender Anblick. Sämtliche Fenster seiner Wohnung standen weit offen, und alle paar Sekunden tauchten in ihnen die schattenhafte Umrisse der wie von Sinnen hin und her rennenden Gardisten auf, die Stapel um Stapel seiner Bücher herbeitrugen, um sie in weitem Bogen hinab auf die Straße zu werfen.
Es war ihm nicht möglich, diesen Anblick untätig zu ertragen, er wollte aufspringen, um hinaufzueilen und dem niederträchtigen Tun Einhalt zu gebieten. Doch bevor er noch dazu gekommen war, sich auf die Schultern seiner Nachbarn gestützt aufzurichten, bohrte sich ihm jäh ein stechender Schmerz durch den Brustraum, und er hatte das Gefühl, sein Herz würde sich zu einer kleinen, harten Kugel zusammenkrampfen, ehe es sich in wildem Takt polternd noch einmal aufbäumte, und ihm erst trüb und verschwommen vor Augen wurde, und schließlich dunkel.
Er ahnte, was das, was ihm soeben widerfuhr, bedeutete, und für einen winzigen, von niemandem wahrgenommenen Augenblick huschte ein schwermütiges Lächeln über sein Gesicht: Brächte er es also doch noch fertig, ihnen zu entkommen.
 



 
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