Pont du Diable

Hans Dotterich

Mitglied
Pont du Diable


von Hans Dotterich



Erstes Kapitel


Was du am meisten fürchtest, dem entkommst du nicht!“
Barbara M. Kloos



Wenn man mit dem Auto von Karlsruhe über Freiburg und Besançon durch das Jura-Massiv in Richtung Dijon fährt, dann sollte man sich in Acht nehmen, vielleicht sollte man ein Gebet sprechen, in Gedanken. So mache ich es.

Man sollte sich mit dem Gedanken befassen, dass hinter einem Felsen oder an einer Brücke der Teufel wartet, jawohl, der Teufel! Er wartet dort, um mit List und Tücke Besitz von Menschenseelen zu ergreifen. Sehen auch Sie sich vor! Viele hat er schon in den Schlund der Hölle gestoßen. Nie wieder ward von seinen Opfern etwas gehört worden. Spurlos sind Menschen verschwunden, nicht nur aus der materiellen Welt, nein, auch aus der geistigen Erinnerung der übrigen Menschen, die sie gekannt hatten. Fort, spurlos verschwunden! Nicht nur physisch, sondern auch gedanklich. Alles, was einer früher war, was einer erreicht hat, alle Bekanntschaften, sogar die Steuernummer, die Heiratsurkunde, selbst eine eventuelle Polizeiakte, alles das ist nicht mehr auffindbar, als hätte es niemals existiert. Die Erinnerung seiner Freunde und seiner Familie ist ausgelöscht.

Wie einem beim Erwachen ein Taum aus der Erinnerung schwindet, der einen im Schlaf noch wie die Wirklichkeit erschien, plastisch und farbig, die das Bewusstsein in Besitz nahm und ausfüllte, so auch verebbt der Strom der Gedanken und Gefühle, die jeder in seinem Leben mit seinen Mitmenschen teilt und von dem auch er selbst lebt. Dieser Strom des Bewusstwerdens, der uns mit unserer vertrauten Umgebung verbindet und uns mit Gedanken, Ideen, Mut, dem Streben nach dem Guten versorgt, eben diesen Strom kappt der Teufel. Das, was von seinem Opfer bleibt, wenn er es von der Welt abgetrennt hat, das ist die Seele. Ein schwaches, auf sich selbst gestelltes, mattes, wehrloses Licht. Das ist es, was der Teufel in seinen Besitz bringen will.

Sie werden sagen, das sei doch alles Unsinn, Quatsch, ein schauriges Märchen. Über die Straße von Freiburg nach Dijon gäbe es auch so genug zu sagen. Das ist die französische Autobahn A36, vierspurig, schnell, wo jeden Tag viele tausend Autos, Busse und Lastkraftwagen hin- und herfahren, und wo alles im Gleichtakt vorwärts strebt, die für den Autofahrer reine Routine ist! Dort fahren die Menschen zur Arbeit, zum Einkaufen, in den Urlaub. Und woher wolle ich das überhaupt wissen, das mit dem Teufel, selbst wenn es wahr wäre? Habe ich nicht selbst gesagt, dass jede Einnerung an einen solchen Akt unweigerlich verloren ginge? Wie könne dann jemand wie ausgerechnet meine Person Kenntnis darüber haben? Oder denken Sie, dass ich gar selbst der Teufel bin, der das doch wissen müsste. Doch vom Teufel könnten Sie schlechterdings keine Erklärung für seine Untaten erwarten, und keine Warnung vor seiner List.

Ich will Ihnen sagen, was ich darüber weiß, und woher ich es weiß, und dass man nicht der Teufel sein muss, um es zu wissen, trotz aller listigen Vorkehrungen, die er gegen jede menschliche Mitwisserschaft ausgeklügelt hat.

Es gibt seltene Einzelfälle, in denen dem Teufel die Seele seines Opfers durch Umstände, die sogar für ihn unvorhersehbar sind, in letzter Sekunde entwichen ist, und wo seine List besiegt und er allein und ohne Beute die Flucht in den Schlund der Hölle antreten musste. Von diesen Menschen hat man etwas darüber erfahren können, wenn dies oft auch nur bruchstückhaft, mythisch überhöht und verschlüsselt ist. Manche behaupten, dass ihre Rettung dem Erzengel Gabriel zu danken sei, der auf Gottes Geheiß der höllischen Schlange sein Flammenschwert entgegengehalten habe. Über die Jahrhunderte gab es wohl zahlreiche Zeugen, die von außerordentlichen Erscheinungen sprechen, genau hier, an der Grenze zwischen Elsass und Jura. Andere berichten von einem Erdbeben, das dem vergänglichen Blendwerk des Antichristen das Ende bereitete. Und aus diesen Berichten, wenn man die nachweisbaren Fakten daraus sublimiert, läßt sich ein klares Bild fügen.

Einen dieser am Ende vergeblichen Versuche des Teufels möchte ich hier schildern, über einen Handel zwischen einem Baumeister und dem Teufel, und wie er trotz aller Vorsicht doch abgeschlossen worden und der Baumeister das Opfer des Bösen geworden wäre, wenn nicht ein Wunder dies verhindert hätte. Ich habe gerade diese Gegebenheit hier ausgewählt, weil sie beweist, dass es nicht Heldentaten oder Naturkatastophen sein müssen, um die Pläne des Teufels zu durchkreuzen, sondern dass alltägliche Begebenheiten, die frei von Argwohn und Angst sind, dennoch zu bewundernswerten Zeichen des reinen Glaubens an den Erlöser geraten können. Der Orte des Geschehenen ist bekannt. Wir können ihn noch heute in Augenschein nehmen und das zum Mahnmal des Guten gekehrte, steinerne Werk des Teufels bestaunen.

Wenn man die besagte Autobahn A36 bei Besançon verläßt und auf die Route National N57 in Richtung Pontarlier hinauffährt, dann geleitet einen die Fahrt auf das karstige Plateau des französischen Juragebirges. Eine scheinbar endlose Ebene mit fruchtbarem Boden, wo Ackerbau und Viehzucht betrieben werden, wo aber auch schattige Laub- und Nadelwälder zum Verweilen einladen, wo in den Dörfern und auf den Höfen gastfreundliche Menschen leben, wo noch immer die Jahrhunderte alten Traditionen des Landlebens gelebt werden und zu spüren sind, und wo man stolz ist auf seinen Wohlstand, wo man auf den Weiden noch den Kühen und Pferden beim grasen zusehen kann. Und wenn man abends im Gasthaus sein Mahl aus Brot, Wurst, Milch, Käse, Bier und Wein serviert bekommt, dann weiß man, dass dies hier der rechte Ort ist für Mensch und Natur.

Wenn man nun von der Nationalstraße abbiegt und sich in das Labyrinth der kleinen Sträßchen begibt, die wie ein Netz die vielen Dörfer und Städte miteinander verflechten, dann erkennt man erstaunt, dass das Land seinen Charakter ändert. Es ist nämlich gar nicht flach, wie es in der großen Perspektive scheint, sondern von tiefen Felsenschluchten durchzogen. Unvermittelt kann man an einem tiefen Abgrund stehen und hohe Felswände bestaunen, die durchaus einige hundert Meter hinunter in ein schmales, verwinkeltes Tal führen. Am Grunde des Tals findet man stets einen schmalen Fluss, wie die Loue oder den Lison, die über Millionen von Jahren diese Canjons ausgeschürft haben und die heute bald von tiefem, blaugrün schimmendem Wasser und dann von gleißend weißen Stromschnellen in der Sonne funkeln. An den Ufern reihen sich dichte Auwälder, und dahinter liegt ein Streifen mit saftig grünen Weiden, die oft bis unter die schroff aufsteigenden Kalkfelsen reichen. An den Flüssen liegen alte Mühlen, und da herum gruppieren sich kleine Dörfer, die dem Wanderer, dem Touristen, oder dem Fahrradfahrer ein herzliches Willkommen bereiten, die von leuchtendem Blumenschmuck bunt und farbig anzusehen sind, dass man sein Auge nicht mehr abwenden mag.

Von einem dieser Täler aus habe einst auch ich den Aufstieg begonnen, hinauf auf das Jura. Der Aufstieg führt an beeindruckenden Felswänden entlang und geht zum Teil steil hinauf. Der Weg ist gut beschildert, und man begegnet manchem Wanderer. Der Weg führt oft auch durch schmale Seitentälchen, wodurch er stetig an Höhe gewinnt. Oft schien es mir, dass ich in die falsche Richtung ging, doch das ist ganz natürlich, denn dieser Weg ist ein einziges Labyrinth. Es führt durch verwinkelte Schluchten, die dunkel sind und feucht, und die man von Ferne nicht einsehen kann. Ich mochte mir kaum vorstellen, diesen Weg bei Nacht zu absolvieren, denn die Phantasie läßt aus den zerklüfteten Kalkfelsen, aus den dichten, zottigen Moosbärten, die daran wachsen, wilde Koboldsgesichter wachsen, mit aufgerissenen Augen und Schlünden, die beim Vorbeigehen wie garstige Schatten dem Wanderer folgen. In diesen dunklen Schluchten, in die das Licht der nahen Dörfer nicht vorzudringen vermag, herrscht eisige Stille. Nur der Wiederhall des eigenen Schritts und ab und zu der Ruf eines Waldvogels dringen ans Ohr. Sieht man nach unter in die Schlucht, dann erscheint alles tiefschwarz. Nicht mehr wahrnehmen läßt sich die Tiefe der Felswand, an der man gerade entlang geht. Blickt man nach oben, so ist auch hier der Wanderer vom Licht der Sterne durch hohe Eichen und dichtes Buschwerk ausgesperrt.



Zweites Kapitel


Und der fünfte Engel bleis seine Posaune, und ich sah einen Stern, gefallen vom Himmel auf die Erde: und ihm wurde der Schüssel zum Brunnen des Abgrunds gegeben.“ Offb. 9


Kann es sein, dass sich der Teufel ausgerechnet inmitten der reinen, unverbrauchten Natur ein Refugium geschaffen hat, und das hier, in einem der schwarzen Abgründe, der Schlund zur Hölle verborgen ist? Gerade hier, wo man es am allerwenigsten vermuten würde, wartet der Teufel auf das nächste Opfer, das ihm arglos ins Netz läuft, das sich selbst, ohne es zu merken, Schritt für Schritt aus der Welt abzusondern beginnt.

So wohl muss man es sich vorstellen, dass es dem Teufel gelungen ist, einst mit jenem Monsieur Babet einen Handel abzuschließen, mit einem Steinmetz und Baumeister aus dem Dörfchen Crouzet im Tal des Lison. Monsieur Babet hatte von der Gemeinde eines Tages den Auftrag erhalten, hoch oben im Fels eine Brücke über ein schmales Bächlein zu errichten, das weiter unten in den Lison mündete. Dieses Seitental, in dem das Bächlein floss, war an der vorgesehenen Stelle sehr eng. Die Felswände, die das Tal einfassten, hatten einen Abstand von vielleicht 15 Metern, fielen dazwischen aber tief hinunter. So tief, dass man den Grund des Tälchens von dort, wo die Brücke installiert werden sollte, unmöglich erkennen konnte. Auch das Bächlein stürzte hier über eine Kaskade von ziemlich hohen Wasserfällen hinunter in eine unzugängliche Schlucht, deren Grund wohl schon auf dem Niveau des Lisons lag. Niemand konnte das mit Sicherheit sagen, niemand hatte diesen Ort je besucht, denn diese Schlucht war durch einen Felssturz versperrt, so dass man sie vom Talgrund her nicht betreten konnte. Nur das Wasser des Bächleins hatte es offenbar geschafft, die Felsspalten unterirdisch auszuhölen, um nach seiner steilen Passage endlich in den Lison zu gelangen. Der Wanderer, der sich hoch oben am Fels dieser Kaskade näherte, sei es aus Richtung Clouzet oder aus Richtung des Städtchens Sainte Anne, wohin der Weg nämlich führte, konnte das Rauschen des Wasserfalls schon von Weitem hören.

Monsieur Babet machte sich also ans Werk und ließ zu beiden Seiten der Engstelle Fundamente in den Fels schlagen, wo zunächst lange Fichtenstämme eingelegt wurden, die die Kluft überspannten. Hierunter würde er dann Stück für Stück ein tragfähiges Gewölbe aus gehauenen Kalksteinen errichten, die fest miteinander verkeilt waren und so stark, dass selbst der schwerste Ochsenkarren die Brücke sicher würde passieren können, und dass Wind und Wetter, Eis und Schnee dem Bauwerk nichts würden anhaben können. Die Bauarbeit ging Monsieur Babet und seinen tüchtigen Gesellen zügig von der Hand, und bald fehlte nur noch der letzte Stein, der Schlußstein am höchsten Punkt des Steinbogens, der den Bogen schließen und das Gewicht der Brücke in den Fels ableiten würde.

Dieser entscheidende, feierliche Augenblick, in dem sich das Werk seiner Tragkraft bewußt wird, in dem in den Stein Leben einzieht, stand nun bevor. Meister Babet begab sich oben auf den Bogen, um das Einlegen dieses Schlußsteins persönlich und mit eigenen Händen zu vollführen. Langsam glitt der Stein, der an Seilen heranschwebte, von oben in die Fuge zwischen den Viertelbögen. Präzise rutschte er Millimeter um Millimeter hinein, indem Babet ihn durch leichtes Klopfen mit dem Maurerhammer vorsichtig die die gewünschte Richtung rückte und ihn dadurch langsam in den Spalt hinuntersacken ließ, unter dem eigenen Gewicht, bis er bündig mit den übrigen Gewölbesteinen einen exakt runden Halbbogen bildete.

Erst da bemerkte der Meister, dass der Schlußstein anders als war als alle übrigen Gewölbesteine. In seiner ockergelben Struktur glitzerte eine dunkle Faser von Erz, die ihn diagonal durchdrang, eine Verfärbung, herrührend von einem Material, das anders ist als das Kalkgestein des Juras, das aus Schwefelquecksilber besteht und einer jener fein verästelten Ausläufer der Erzader ist, die innen im Fels, wo der Stein geschlagen worden war, bis tief hinunter ins Innere der Erde führte. Dort wird die schwarze Faser mit der Tiefe immer stärker und immer dichter und endet in der Erdkruste in einem Meer des flüssigen, silber scheinenden Metalls. Meister Babet erschrak, denn er erkannte die Gefahr. Doch zu spät! Kaum fügte sich der Schlußstein in den vollendeten Bogen, da presste ihn schon die gewaltige Kraft des Gewölbes zusammen, so fest, dass der Stein nimmermehr zu entnehmen und das Gewölbe wieder zu sichern war.

Schlimmer noch, denn unter dem wachsenden Druck erinnerte sich auch das Quäntchen Quecksilber, das Jahrtausende stumm und still in seinem Schwefelnest geschlummert hatte, an seine flüssige Natur. Es suchte entlang der Faser den Ausgang aus dem Stein, und der Stein zerbarst entlang des Quecksilberfilms in zwei gegeneinander gleitende Hälften. Meister Babet konnte sich gerade noch in einem Sprung auf das Holzgerüst retten, als das ganze Gewölbe dann in einem gewaltigen Ruck in Stücke zerstieb und polternd in die Tiefe krachte. In dutzendfachem Nachhall brach zwischen den Felswänden ein Gewitter von Knall und Donner los. Staub und Steinhagel verdüsterten die Schlucht, ein heißer Wind bließ von unten herauf, mit einer Fontäne aus Staub, der in den Augen und Nase brannte und alles, Menschen, Pferde, Bäume, mit einer ätzenden weißen Totenmaske überzog. Nichts blieb mehr stehen vom Steingewölbe. Bei der Entlastung des Drucks stieß der Fels, in den die Lager der Brücke geschagen worden waren, alles wieder ab, das der Mensch hier fest verfugt zu haben glaubte. Selbst die starken Fichtenstämme, an die sich Meister Babet im Reflex geklammert hatte, um nicht mit seinem Werk unterzugehen, knarrten, splitterten und rissen sich von den Halteseilen. Es war ein Wunder, dass sie keinen der schreckenstarren Gesellen des Meisters oder den Meister selbst erschlugen und zermalmten.

Als sich das Tosen beruhigt hatte, da kamen schon von fern Bauern von der Feldarbeit herbeigeeilt, die Zeugen der Katastrophe waren. Selbst von Schrecken gezeichnet, bargen sie doch beherzt die Handwerksgesellen und den Meister aus der Gefahr und brachten sie auf einem Ochsenkarren hinunter nach Clouzet, wo man sich um die Verunglückten kümmerte, nach dem Doktor aus Pontarlier sandte, nach den Brüdern im nahem Kloster, die mit Verbänden, Salben und Kräutern herbeieilten und Gott mit Gebeten für die Gnade im Unglück dankten, denn niemand war ums Leben gekommen. Außer ein paar Schürfwunden, Beulen, einem zerquetschten Bein und ein paar geprellten Rippen war kein Schaden an Gesundheit und Leben entstanden.

Meister Babet war äußerlich unversehrt, gottlob, doch schien er um Jahre gealtert, als er Tage später aus einem unruhigen, traumatischen Schlaf erwachte. Er konnte sich an die Ereignisse zunächst nicht erinnern, nur langsam kehrten einige Augenblicke wieder in sein Gedächtnis zurück, flammten Momente des Schmerzes und der Verzweiflung auf, doch verflogen diese Visionen bald wieder. Auch hier übe Gott Gnade, wie Frère Bernard, der Älteste der Klosterbrüder, sagte, indem er die Seele vor dem Unheil und dem Grausen abschirme, bis der Mensch wieder fähig sei, aus eigener Kraft und aus eigenem Willen der Wahrheit gegenüberzutreten und in die Tiefe der Schlucht hinabzuschauen.



Drittes Kapitel


Der Teufel von Mailand hilft besser als der Heiland“
Martin Suter



So verging ein ganzes Jahr, ehe Meister Babet sich wieder mit dem Brückenbau beschäftigte, die verwaiste Baustelle besuchte und den Plan der Brücke wieder ernsthaft studierte. Es stand an der Stelle, wo er einst auf das fast fertige Gewölbe gestiegen war, und sah hinab. Er sah die zerborstenen Brückenlager, die man einst in den Fels geschlagen hatte, und je länger und konzentrierter er den Fels, die Schlucht musterte und die Brücke in seinem geistigen Auge wieder auferstehen sah, um so dichter nahte sich seine Erinnerung der Katastrophe.

Es war ganz so, wie Frère Bernard es ihm in der Beichte vorausgesagt hatte, in einem vertraulichen Gespräch im Innern des verschwiegenen Beichtstuhls in der kleinen Kirche von Clouzet. Nicht Babet war es, der sich seiner Sünden anklagten sollte. Frère Bernard sprach ihm Trost und Absolution zu, und er erläuterte Babet an vielen Beispielen die Eigenarten der menschlichen Seele. Er prophezeite Babet, dass er genesen, den Schrecken überwinden und wieder Brücken bauen würde, denn Jesus Christus würde auch ihn von Schuld und Schmach erlösen, so wie er einst Kranke und Blinde geheilt und selbst den toten Lazarus aus dem Grabe hat auferstehen lassen. So müsse auch er, Babet, auf Gott vertrauen und seine Seele frei halten von Angst und Zweifel. Er las ihm aus dem Buch Hiob vor und vom Untergang Sodoms, und dass dem Gerechten auch im Scheitern und in der Finsternis keine Gefahr drohe, die Gottes Wort ihn nicht zu bestehen lehrte.

Babet sah seine neue Brücke schon im Entstehen. Noch gründlicher bereitete er den Bau vor, plante eine zweite Lage von Fichtenstämmen ein, die er mit der ersten Lage verstreben ließ, damit sie, falls ein Bogenstein brechen sollte, die Last des noch offenen Gewölbes aufnehmen könnte. Er sah schon die schweren Fuhrwerke hinter Clouzet mit neuen Gewölbesteinen den Berg hinaufziehen, mit Steinen, die er persönlich begutachtet haben würde, die aus Steinbrüchen geschagen wurden, die einst auch die Kathedralen in Besançon und Straßburg beliefert hatten und die dort zur Ehre Gottes Gewölbelasten trugen, die ein Vielfaches dessen waren, das die schmale Brücke über die Schlucht am Tal des Lison erfordern würde. Jedes Detail bedachte Meister Babet, nichts wollte er dem Zufall überlassen.

Er sah den Tag nahen, als er erneut auf das Brückengewölbe stieg, um den Schlußstein einzufügen. Er sah sich in schwindelnder Höhe auf den Bogen steigen, seinen Maurerhammer in der Hand, sah den Schlußstein an der Winde sich in die Lücke senken, einen Stein, der weiß war wie Elfenbein, der im Widerschein Sonnenlicht fast blendete, makellos war. Er führte den Stein mit der Hand an den Spalt heran, und sanft glitt er hinein. Er sah, wie die blendend weißen, plan geschliffenen Seitenflächen des Schlussteins an den Flanken der beiden seitlichen Bogensteinen entlangglitten, kaum dass sein Hammer ihn sanft berührte, und er hörte im Schlußstein den glockenklaren Wiederhall seines vorsichtig waltenden Hammers. Er sah winzige Sandkörnchen von den Seitenflächen abrieseln und spürte, wie sich der Druck des Gewölbes mit jedem winzigen Stößchen allmählich auf den Schlußstein konzentrierte, ihn einfaßte, er hörte, wie jeder Glockenton ein wenig höher und metallischer wurde.

Dann schien es ihm, dass sich auch die Farbe des Steins zu wandeln begann, dass der Elfenbeinton allmählich einen blassen und dann hellblauen Schimmer annahm. Um so deutlicher geschah dies, je näher der Schlußstein sich seiner endgültigen Position im Bogen näherte. Kein Zweifel, so war es. Meister Babet staunte. Nie hatte er bisher diesen Farbwandel bemerkt, wenn er einen Bogen vollendete. Doch dann erschrak er, denn das Blau nahm mit jeder Sekunde an Kraft zu, wurde dunkler, kehrte sich dann zu schwarz. Der Schlußstein ächtzte. Silberne Schweißperlen krochen aus seinen Poren und tropften herab, formten Rinnsale aus flüssigem Quecksilber, die sich hinab in die Tiefe ergossen und den Stein in schwarze Rußbrocken zerfallen ließen. Schwefelquecksilber, der ganze Stein ein Klumpen giftigen Metalls, des Erzes der Hölle! Nicht nur der Schlußstein, nein, das ganze Gewölbe lief nun scharz an, löste sich auf, zerfloss zu einem Sturzbach von flüssigem Metall. Meister Babet taumelte, stürzte, fiel ins Bodenlose, folgte dem Schauer des Quecksilbers hinab in die Tiefe. Babet sah die schwarze Gruft unter der Felsspalte auf sich zu rasen. Ein Schlund schien sich unter ihm zu öffnen und ihn magisch anzuziehen. Eine unerträgliche Furcht drängte in seine Seele, vor der jeder Mensch ohnmächtig zusammengebrochen wäre, doch verwehrte ihm ein unermessliches Etwas die Flucht in die Bewusstlosigkeit, zwang ihn, das Entsetzen auszukosten, die Augen zu öffnen, und das Unbeschreibliche seines Versagens in sein Herz, in seine blanke Seele eindringen zu lassen, tief und unauslöschlich. Zerstörerisch bahnte sich dieses Etwas ins Zentrum seiner Seele, um dann, mit brütender Gemächlichkeit, seine Sinne einzufangen und wie mit einem Brennglas eine perfide Form von Komödie darauf zu projizieren.

„Aber Herr Baumeister, Herr Architekt, wer wird denn gleich den Mut sinken lassen? Gönnen Sie sich doch erst einmal eine Pause. Leisten Sie mir Gesellschaft! Ich fühle mich durch Ihren Besuch sehr geehrt. Möchten Sie nicht ein Glas von diesem köstlichen Burgunder kosten? Ich habe ihn extra für Sie aus der Stadt Dijon, nein, aus Beaune mit herunter gebracht, aus diesem phänomenalen Weinladen im Couvent des Cordeliers. Da gehe ich ein und aus, wissen Sie? Falls Sie es wünschen, kann ich Ihnen gern auch einen Kontakt dorthin vermitteln. Gerade dort wird viel Neues, Vornehmes gebaut, an allen Ecken und Enden, Ihres außerordentlichen Könnens würdig. Ach, wir kriegen das alles schon hin.“

Der Wahnsinn hatte Babet nun fest im Griff. Er nahm mit leerem Gesicht und offenem Mund das Kristallglas mit dem betörenden Duft entgegen und führte es an seine Nase. Betört schloss er die Augen. Sanfter Honigduft drang ihm in die Nase, reife Aprikosen und wilde Erdbeeren kamen ihm in den Sinn. Ruhe kehrte in ihm ein.

„Ja, ich will Sie nicht lange von Ihrem Werk abhalten und ihre wertvolle Zeit beanspruchen. Ich finde, diese Brücke ist ein kühner Bau, und ich bin sicher, dass es Ihnen, und nur Ihnen gelingen wird. Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr Unterstützung anbieten, doch ich bin kein Fachmann des Oberirdischen. Vielleicht darf ich das eine oder andere für Sie in Ordnung bringen. Ich habe Beziehungen. Zu den Naturkräften. Sie werden verstehen.“

Bilder durchfluteten den Geist von Babet, paradisische Landschaften taten sich darin auf, er meinte Troja in seiner Pracht zu erkennen, Byzanz, den babylonischen Turm, das Wunderwerk der Pyramiden von Gizeh, die in helle Sonnenstrahlen getaucht waren. In der goldenen Pagode von Shwedagon und im indischen Taj Mahal, dem Garbmal der von Liebe ewig getragenen und weiterlebenden Prinzessin Mumtaz, sah er seine Gewölbekonstruktion wiederauferstehen.

„Solche Gelegenheiten kann ich für Sie, verehrter Herr Architekt, auch hier arrangieren. Geben Sie mir nur ein wenig Zeit. Und ein Pfand.“

Babet registrierte nun einen schmalen Lichtstrahl, der von oben auf ihn fiel und stetig breiter wurde. Er sah hinauf, nach oben in die Höhe, und sah sein Werk von unten, von hellem Licht beschienen: die Brücke, sie stand! Fest und sicher waren die Bogensteine gefügt, genau so, wie er es geplant hatte, was aber durch den neuerlichen Einsturz vereitelt worden war, und weshalb er in die Tiefe gestürzt ist. Oder ist der doch nicht gestürzt? Hatte er das nur geträumt? Er versuchte sich an die Ereignisse zu erinnern, an den Schlußstein, den er doch perfekt und fehlerfrei eingesetzt hatte. Da konnte nichts mehr schiefgehen. Und dass der Stein gut und fest war, aus solidem Kalksandstein gehauen, ohne die Spur einer Schwachstelle, an der er sich hätte zerspalten können. Er erinnerte sich daran, dass der Stein ihm in den Händen schwarz angelaufen war, oder dass es ihm so schien. Eine Sinnestäuschung? Es ist unmöglich, dass sich ein Kalkstein derart verändert. Da war er sich sicher.

„Sehen Sie, Herr Architekt, Ihre Brücke ist vollkommen intakt. Ich möchte Ihnen zu Ihrem vollendeten Werk gratulieren. Es ist nur schade, dass Sie selbst beim Einsetzen des Schlußsteins abgestürzt sind. Es ist Ihnen durch die große Höhe wohl schwindlig geworden und dann schwarz vor den Augen, und sie sind unglücklich gestrauchelt, nicht wahr?“

Babet erschrak. Ja, so wird es gewesen sein, so war es. Er fragte sich, „Wo bin ich hier?“ und im gleichen Augenblick fuhr ihm der Satz schon aus dem Munde.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Ich kann Ihr Staunen vollkommen nachvollziehen, ja, das kann ich. Bei allem Unglück haben Sie noch einmal großes Glück gehabt, der Zufall wollte es so. Sie sind im rechten Augenblick gestürzt, wenn ich so sagen darf. Oder war ich es, der zum rechten Augenblick an der richtigen Stelle stand? Wie dem auch sei. Ich habe es kommen sehen, und ich habe Macht über die Kräfte der Natur. Eine seltene Begabung meinerseits ist es, die mich Ihren Sturz bremsen ließ. Ich bin sogar sehr glücklich das es passiert ist, verzeihen Sie, dass ich das sage, aber es ist wohl tatsächlich eines der wenigen Dinge, die ich für Sie tun konnte. Ab und zu konnte ich auch früher schon den einen oder anderen Menschen aus dieser misslichen Situation befreien. Es ist leider nur sehr selten möglich, doch es ist mir immer eine große Erleichterung.“

Babet war sprachlos. Niemals zuvor hatte er solches gehört. Es schien ihm unmöglich, er vertraute seinen Ohren nicht, wollte schlucken, um seine Stimme wiederzufinden, ertastete mit seiner Zunge jedoch nicht seine Lippen und nicht seinen Gaumen. Er empfand noch immer den fruchtigen Geschmack jenes Burgunders, den er soeben gekostet hat, und er sehnte sich nach den Wiesen und Feldern, wo die herrlichen Erdbeeren und die reifen Aprikosen gediehen, und wo eifrige Bienen den Nektar aus den Blüten sogen, den Nektar, dessen Reifung das herrliche Honigaroma geschaffen haben mochte, das ihn noch immer betörte.

„Lieber Herr Architekt, Sie fragen sich nun, wie Sie wieder nach oben gelangen werden, in Ihre vertraute Welt, zu den Menschen, die auf Sie vertrauen. Nun, ich will es Ihnen sagen, und es ist tatsächlich der einzige Weg, den ich Ihnen vermitteln kann. Wer erst einmal aus der Welt abgetaucht ist, der kehrt nicht wieder zurück. Das wissen Sie, und diese Tatsache kann auch ich nicht ändern. Jedes Leben endet, und es gibt kein Zurück. So ist es im Buche Genesis beschrieben. Und doch gibt es einen goldenen Weg hinauf. Denn, vielleicht ahnen Sie, was ich mit Ihnen gemacht habe, um Ihren Fall zu bremsen? Es ist einfach: ich habe Ihre Zeit angehalten, Ihre und die Zeit, die alle Menschen vom Zeitpunkt des Todes noch trennt. Sie verweilen hier in einem zeitleeren Raum, genau wie ich selbst. Noch sind Sie nicht tot, noch kann ich Sie zurückbringen nach oben. Doch Ihr Sturz endet naturgesetzlich zwangsläufig. Aber noch ist es nicht entschieden, denn ich vermag es, den Lauf dieser Gesetze zu beeinflussen. Gleichwohl, eines ist sicher, irgendein lebendes Wesen muss den Tod durch Ihren Sturz sterben. Das ist Gotttes Wille und Beschluss. Ich kann den einen Fallenden jedoch durch einen anderen austauschen. Das ist mein Privileg.“

Babet war entsetzt. Wie war dies möglich. Er begriff mit einem Schlag seine Not. „Bitte, was soll ich tun? Ich kann doch niemals einen Menschen töten, dass ich lebe!“

„Lieber Meister, das tun Sie doch gar nicht, Sie müssen doch gar nicht verantworten, dass jemand zu Tode kommt. Alle Menschen müssen sterben, das ändern weder Sie noch ich. Sie, lieber Babet, haben Ihre Pflicht getan, besser als es jeder andere das könnte. Sie haben eine Brücke gebaut, die die Menschen über Jahrhunderte tragen wird. Daran kommt niemand zu Tode.
Ich mache Ihnen einen Vorschlag, verehrter Meister. Lassen Sie das Los entscheiden. Sie selbst haben Ihr Leben für die Brücke gewagt und wären um ein Haar daran zu Grunde gegangen. Sehen wir, wer als Nächstes Ihr Werk betritt, Sie und ich, wir können das nicht beeinflussen. Es ist Gottes Wille. Dieser Eine soll an Ihre Stelle treten. Ich habe die Zeit für Sie angehalten, eine Frist gewonnen für Ihre bewusste Entscheidung. Wenn es nach mir ginge, dann könnte ich diese Frist unendlich aufschieben. Doch das hat seinen Preis für die, die nicht oder noch nicht in Gottes Gnade stehen. Verlängerte ich die Frist, in der die Zeit feststeht, dann stürben die Ungeborenen, die, welche noch nicht das Sakrament der Taufe empfangen haben, die noch nicht selbst zu atmen im Stande sind. Sie erstickten in den Leibern ihrer Mütter, denn sie sind noch primitive Materie. Sie hat Gott noch nicht von der Erbsünde freigesprochen, vom Frevel, den einst Adam und Eva im Bruch gegen Jahwe begangen haben, als die teuflische Schlange ihnen den Apfel vom verbotenen Baum der Erkenntis zeigte. Sie, die ungeborenen Föten, gehören nicht dem heiligen Bund Abrahams und Jahwes an. ‚Ihr seid mein Volk und ich bin Euer Gott‘, so verkündete Jahwe, ‚Ihr seid auserwählt.‘ Die Ungeborenen aber, sie würden zu Tausenden zu Grunde gehen, hielte ich die Zeit länger an. Sie würden nicht mehr genährt durch die animalische Natur des Weibes, die mit der Zeit ebenfalls still steht und der Gottes Gnade wesensfremd ist. So müssen auch Sie, lieber Meister, die Wahl treffen, da auch Sie die Nachfolge der Ursünde angetreten haben. Ich selbst kann es Ihnen nicht erlassen. Das könnte nur Gott.“

Meister Babet resignierte, „Dann sei es.“




Viertes Kapitel


Ei do könnt‘ aach de Deivel sei‘ Flem krien!“
Heinz Becker



Es war Frère Bernard, der des Weges eilte, weil man ihn in Clouzet zu einem Sterbenden gerufen hatte. Eile sei geboten, um dem Kranken die heiligen Sakramente darzubieten, die Beichte und die letzte Ölung vorzunehmen. Schnellen Schrittes kam Bernard geradewegs auf die Brücke zu. Seine Arme umschlangen fest die goldene Monstranz, das heilige Gefäß, in dem der Leib Christi als gesegnete Hostie zum Zeichen der Erlösung aufbewahrt war. Schwer atmend war Bernard unter der Last des glänzenden Metallgefäßes überaus glücklich, die Brücke fertig vorzufinden, die Meister Babet und seine Gesellen anscheinend kurz vor seinem Erscheinen vollendet hatten, und die Bernard bei seiner eiligen Mission einen langen Umweg durch die engen Pfade in der tief eingeschnittenen Schlucht ersparte.

Meister Babet war entsetzt, als er Bernard auf die Brücke zulaufen sah, seinen Retter aus tiefster Not, seinen Freund, der ihn geheilt und zum Weiterbau der Brücke ermutigt hatte. Ausgerechnet Frère Bernard! Babet fühlte, dass seine Seele zerriss. Er sah seinen Freund die Brücke betreten. Er wollte zu ihm herrüberrufen, doch seine Stimme versagte. Kaum war Bernard in der Mitte der Brücke an gelangt, da sah er, wie die Brücke wankte, Trümmersteine herausbrachen. Und dann brach die Brücke unter anschwellendem Donnergrollen ein. Bernard sackte mit dem geborstenen Gewölbe in die Tiefe. Babet sah, wie der Schreck Bernards Blick erfasste, und wie er die heilige Monstranz, um sie zu schützen, mit ausgestreckten Armen nach oben über seinen Kopf wuchtete, eine hilflose Geste, dass sie nicht mit ihm ins Grab stürzen solle. Doch Bernard und das heilige Gefäß fielen unaufhaltsam in die Tiefe. Sie fielen auf Babet zu. Da trafen sich die Blicke von Bernard und Babet. Bernard riss im Fallen die Monstranz vor sich und bahnte sich damit wie mit einem Rammbock den Weg zu Babet. Bernards Mönchskutte blähte sich im Fallwind auf wie die Flügel eines Engels. Das Gesicht Bernards sah in an, seine Blick versengte die Nacht, die sichzwischen ihn und Babet zu drängen suchte. Der glänzend weiße Widerschein der heiligen Hostie, die Bernard in die Monstranz eingesetzt hatte, leuchtete zu Babet hinunter. Bernards durchdringende Predigerstimme rief:

„Satan, weiche von hier! Verflucht warst Du von Gott, verflucht bist Du von mir! Siehe hier, schau in diese Monstranz! Den Leib Christi siehst du hier: Jesus Christus, der zum Heil für die Menschen am Kreuz gestorben ist. Forderst Du ein Opfer an Stelle von Meister Babet? Gott hat auch Meister Babet durch das Opfer seines Sohnes das ewige Heil gewährt. Hier bringe ich dir, was du verlangst. Sieh unserem Retter Jesus Christus ins Auge! Siehst du es nicht? So spüre es jetzt! Dich, Satan, dich erlöst Gott nimmermehr! Nicht einmal auf die Frist, in der du die Zeit anzuhalten wähnst. Denn das vermagst du gar nicht. Das dünkt dir nur, doch ist es Gott, der dies wirkt. Weiche, Satan, deine Macht endet vor Gottes ewigem Wort!“

Staubig wars da oben. Niemand hatte auf der Brücke gefegt, und auch das Geländer war noch nicht an seinem Platz einzementiert. Bernard lag mit dem Bauch über dem Schlußstein des Gewölbes und ächtzte. Mit beiden Armen hielt er Meister Babet, der über den Rand der Brücke hing, am Gürtel. Ein Steinmetzgeselle aus Babets Werkstatt sprang mit einem Satz herbei und zog die beiden mit seinen riesigen Pranken hinauf auf die gepflastere Chaussee auf dem Gewölbe, weg von der gefährlichen Kante. Bernard holte tief Luft und stöhnte: „Gott, mein lieber Babet, einen armen alten Klosterbruder so zu erschrecken! Ich bin doch kein Zirkusakrobat. Das ging gerade noch mal gut. Gott sei es gedankt. Was machst Du hier für Geschichten?“

Babet hörte von fern eine Stimme, die nach ihm rief und die ihm irgendwie bekannt vorkam, die aber wie durch einen dichten Damastvorhang gedämpft war. Etwas Schweres drückte auf seinem Bauch, es schnürte seinen Gürtel unangenehm ein. Dann knirschte es in seinem Kopf. Er öffnete die Augen und sah fassungslos Frére Bernard an, der mit verbissener Mine zu versuchen schien ihm einen Arm auszureißen.

Babet hatte gar nicht bemerkt, dass er beinahe von der Brücke gestürzt wäre, hätte Bernard ihn nicht im letzten Augenblick noch gefasst und mit aller Kraft festgehalten. „Was ist passiert, da war doch was?“

„Nichts, nichts.“ Frère Bernard krabbelte auf allen Vieren suchend über das Pflaster. Da lag sie, die goldene Monstranz. Bernard nahm sie vorsichtig in den Arm und betastete eine deutlich sichtbare Delle am Gefäß. „Nicht so schlimm, das kann der Kesselflicker in Sainte Anne wieder geradebiegen. Tut mir leid, dass ich Dir mit dem schweren Ding versehentlich eins auf die Rübe gegeben habe, oder traf ich etwa den Herrn Steinmetzgesellen?“, sagte Bernard. Meister Babet und sein Geselle blickten sich erstaunt an.

„Nein, also bei uns hat nichts eingeschlagen“.

„Einer hier hat die Monstranz jedenfalls auf die Birne gekriegt“, sagte Bernard mit Staunen, „das habe ich doch ganz deutlich gespürt, aber ich habe im Handgemenge nicht genau mitgekriegt, wessen Kopf es war. Nun gut.“

Bernard, sichtlich erleichtert über die Rettung seines Freundes, öffnete die Monstranz und befestigte den Leib Christi wieder in der Halterung, aus der er beim Aufschlag herausgefallen war. Es ist den Dreien für immer rätselhaft geblieben, wessen Kopf den Einschlag abbekommen hatte. Außer ihnen war auch weit und breit kein Mensch zugegen.

Die unerklärliche Tatsache, dass die Brücke fertiggestellt war und hoch oben über der Schlucht trohnte, sollte Babet noch für einige Zeit verwirren. Hatte er sie tatsächlich gebaut, und wann? Er wusste nur, dass er mit der Planung angefangen hatte, aber dann ließ ihn seine Erinnerung im Stich. Er grübelte noch eine Weile darüber. Als er dann überzeugt war, dass weiteres Sinnieren sinnlos war, gab er auch das auf und wandte sich kopfschüttelnd neuen Aufgaben zu. Außerdem waren seine Kosten für Material und Arbeit schon durch den ersten Brückenbau, der zwar fehlschlug, gut gedeckt, es gab also in der Sache nichts mehr zu regeln übrig.

Auch Frère Bernard war überrascht gewesen, dass, als er zu einem Schwerkranken nach Clouzet gerufen worden war und sich mit der Monstranz auf den Weg ins Dorf gemacht hatte, die Brücke bereits weitgehend vollendet vorgefunden zu haben. Er musste auf dem Weg vom Kloster nach Clouzet diese Schlucht ja überqueren. Eigentlich hatte er damit gerechnet den langen Umweg über den Felsenweg und durch die Schlucht machen zu müssen. „Donnerwetter!“ hatte er beim Anblick der Brücke staunend gedacht, „Dieser Babet baut wie der Teufel!“

Als er später, nachdem er Babet von Sturz gerettet hatte, mit ihm und dem Gesellen im Dorf angekommen war, da wusste dort niemand etwas über einen Schwerkranken, und auch niemand wollte Frère Bernard zu Hilfe gerufen haben.


Ein gutes Jahr später kündigte sich Maitre Francois Leblanc, vereidigter Buchprüfer der Prefecture Franche-Compte in Besançon, zu einer amtlichen Visite in der Mairie von Clouzet an. Er sichtete die Abrechnungen der Kosten, die für den Brückenbau bei Clouzet veranschlagt und vom Präfekten mitgetragen worden waren, und verglich sie mit den tatsächlichen Auszahlungen, die der Bürgermeister der Gemeinde Clouzet an Babet für das Werk getätigt hatte. Da entfuhr seinem Mund eine freudiges „Oooh!“ Seine Überraschung war groß, denn die Abrechnung war ein musterhaftes Beispiel dafür, dass öffentliche Bauvorhaben nicht grundsätzlich das geplante Budget sprengen und die öffentlichen Kassen in den Ruin treiben müssen, sondern dass verantwortungsvolle Bauherrn und sorgsame Architekten auch sparsam und wirtschaftlich arbeiten können.
 



 
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