Arno Abendschön
Mitglied
Siegfried Männlich litt unter allem. Er litt auch unter seinem Namen. Zugegeben, die Männlichs hießen von jeher so. Daran waren seine Eltern schuldlos, das sah er ein. Aber welcher Teufel hatte sie geritten, ihn Siegfried taufen zu lassen? Seine Mutter hatte eine Frühgeburt gehabt, es war im siebten Monat gewesen. Der Zwillingsbruder starb im Brutkasten, Siegfried fiel das Überleben schwer. Zwar wuchs auch er heran, aber er wuchs nicht so wie andere Kinder. Auch er entwickelte sich und er wurde dabei hässlich. Mit vierzehn war er ausgewachsen, wenn man das Resultat bei einem krummen Rücken und einer engen, schmalen Brust so bezeichnen wollte.
Er vermied es, sein Gesicht im Spiegel länger zu betrachten. Ein Mitschüler, der ihn nicht leiden konnte, hatte es einmal vor allen rattenhaft genannt. Es wurde nicht weiter darauf eingegangen. Die Lehrer? Die Ruppigen unter ihnen fand er erträglich. Er gewöhnte sich daran, dass sein Anblick Abscheu einflößte, aber es tat ihm immer noch weh, wenn einer so rücksichtsvoll war, im Gespräch an ihm vorbeizublicken. Und rattenhaft war vielleicht doch ein wenig übertrieben, fand er.
Er machte sich nichts vor: Bei dieser Kopfform war auch durch eine geschickte Frisur nichts zu gewinnen. Also kämmte er trotzig die langen schwarzen Strähnen aus der schmalen, fliehenden Stirn zurück. Alles war zu schmal, zu sehr gekrümmt und floh: die Stirn, das Kinn, die Wangen. Zu allem Unglück war die Nase viel zu lang. Später, mit siebzehn, gelang es ihm doch noch, den Eindruck zu verbessern. Mit einem Menjou-Bärtchen, dem einzigen an der Oberschule damals, erreichte er die bisher fehlende Horizontale.
Das schüttere Bärtchen blieb nicht das Einzige, das ihn von siebenhundert Mitschülern deutlich unterschied. Er allein trug ausschließlich graue Anzüge, tagaus, tagein dieselben zwei dunkelgrauen Anzüge, in der Unterprima ergänzt durch weiße Rollkragenpullover, die auch im Sommer beibehalten wurden. Im letzten Schuljahr ersetzte er sie durch weiße Oberhemden mit grau gemusterten Krawatten. Er pflegte seine Marotten. Nie sah man ihn auf dem Weg vom Bahnhof zur Schule ohne den Stockschirm, dessen Krücke er auf dem angewinkelten linken Unterarm einhängte. Ein Jahr lang redete er vor seinen Intimen über die Melone, die er gern auch noch tragen würde. Sein Freund Leo glaubte nicht, dass Siegfried den Mut haben würde, mit Melone zur Schule zu kommen. Ein halbes Jahr vor dem Abitur hatte er sie an einem Januarmorgen tatsächlich auf dem Kopf, als er aus dem Zug ausstieg. Er gewöhnte sich an das Johlen der unteren Jahrgänge und an die Spötteleien der oberen. Er kam nie mehr ohne Melone. Jetzt war seine Erscheinung perfekt, fand er.
So viel er auch grübelte, er kam nicht darauf, aus welchem Grund sie ihn Siegfried getauft hatten. Männlichs waren keine Wagnerianer, übrigens auch unmusikalisch. Sie hatten sich schon vor seiner Geburt den Zeugen Jehovas angeschlossen. Seine Mutter stand ihre Zeit gewöhnlich an der zugigen Ecke vor dem Passage-Kaufhaus ab. Manchmal musste er sie dort abholen und dann gingen sie zum Einkaufen in den nächsten Aldi-Markt. Er war froh, dass seine Eltern nicht versuchten, ihn ebenfalls mit dem Wachtturm in der Hand an einer zugigen Ecke zu postieren. Sie hatten ihn katholisch taufen und später auch so erziehen lassen. Er kannte ihre Gründe nicht, aber es wurde ihm lästig.
Er fing an, eigenständig und ernsthaft zu lesen: Schopenhauer und Nietzsche, Wilhelm Reich und Adorno. Sein Abstand zu den anderen nahm immer mehr zu. Er weiß, er wird noch vieles ausprobieren. Er wird sich seine Welt erst einrichten, sich sein ganz eigenes Himmelsgewölbe bauen.
Er vermied es, sein Gesicht im Spiegel länger zu betrachten. Ein Mitschüler, der ihn nicht leiden konnte, hatte es einmal vor allen rattenhaft genannt. Es wurde nicht weiter darauf eingegangen. Die Lehrer? Die Ruppigen unter ihnen fand er erträglich. Er gewöhnte sich daran, dass sein Anblick Abscheu einflößte, aber es tat ihm immer noch weh, wenn einer so rücksichtsvoll war, im Gespräch an ihm vorbeizublicken. Und rattenhaft war vielleicht doch ein wenig übertrieben, fand er.
Er machte sich nichts vor: Bei dieser Kopfform war auch durch eine geschickte Frisur nichts zu gewinnen. Also kämmte er trotzig die langen schwarzen Strähnen aus der schmalen, fliehenden Stirn zurück. Alles war zu schmal, zu sehr gekrümmt und floh: die Stirn, das Kinn, die Wangen. Zu allem Unglück war die Nase viel zu lang. Später, mit siebzehn, gelang es ihm doch noch, den Eindruck zu verbessern. Mit einem Menjou-Bärtchen, dem einzigen an der Oberschule damals, erreichte er die bisher fehlende Horizontale.
Das schüttere Bärtchen blieb nicht das Einzige, das ihn von siebenhundert Mitschülern deutlich unterschied. Er allein trug ausschließlich graue Anzüge, tagaus, tagein dieselben zwei dunkelgrauen Anzüge, in der Unterprima ergänzt durch weiße Rollkragenpullover, die auch im Sommer beibehalten wurden. Im letzten Schuljahr ersetzte er sie durch weiße Oberhemden mit grau gemusterten Krawatten. Er pflegte seine Marotten. Nie sah man ihn auf dem Weg vom Bahnhof zur Schule ohne den Stockschirm, dessen Krücke er auf dem angewinkelten linken Unterarm einhängte. Ein Jahr lang redete er vor seinen Intimen über die Melone, die er gern auch noch tragen würde. Sein Freund Leo glaubte nicht, dass Siegfried den Mut haben würde, mit Melone zur Schule zu kommen. Ein halbes Jahr vor dem Abitur hatte er sie an einem Januarmorgen tatsächlich auf dem Kopf, als er aus dem Zug ausstieg. Er gewöhnte sich an das Johlen der unteren Jahrgänge und an die Spötteleien der oberen. Er kam nie mehr ohne Melone. Jetzt war seine Erscheinung perfekt, fand er.
So viel er auch grübelte, er kam nicht darauf, aus welchem Grund sie ihn Siegfried getauft hatten. Männlichs waren keine Wagnerianer, übrigens auch unmusikalisch. Sie hatten sich schon vor seiner Geburt den Zeugen Jehovas angeschlossen. Seine Mutter stand ihre Zeit gewöhnlich an der zugigen Ecke vor dem Passage-Kaufhaus ab. Manchmal musste er sie dort abholen und dann gingen sie zum Einkaufen in den nächsten Aldi-Markt. Er war froh, dass seine Eltern nicht versuchten, ihn ebenfalls mit dem Wachtturm in der Hand an einer zugigen Ecke zu postieren. Sie hatten ihn katholisch taufen und später auch so erziehen lassen. Er kannte ihre Gründe nicht, aber es wurde ihm lästig.
Er fing an, eigenständig und ernsthaft zu lesen: Schopenhauer und Nietzsche, Wilhelm Reich und Adorno. Sein Abstand zu den anderen nahm immer mehr zu. Er weiß, er wird noch vieles ausprobieren. Er wird sich seine Welt erst einrichten, sich sein ganz eigenes Himmelsgewölbe bauen.
Zuletzt bearbeitet: