Prolog

WEIßE SCHOKOLADE
Prolog
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Frühling bedeutet Leben. Frühling bedeutet einen Neuanfang. Frühling bedeutet…
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Sonnenstrahlen brachen hinter den schweren Wolken hervor und veränderten das triste Grau, kristallisierten es bis zu einem kaum vorhandenen Weiß. Auf dem Weg zum Boden durchdrangen sie die Luft, noch feucht vom Regen, und brachten sie zum Erglühen. Farben blühten auf und ein Regenbogen entfaltete sich quer über den Himmel. Die Wassertropfen auf den zahlreichen Pflanzen funkelten auf, wie winzige Diamanten perlten sie im endlosen Grün des Waldes. Nachdem der kühle Regen alles durchwaschen und gereinigt hatte, kam jetzt die Sonne, um mit kräftigen Strichen den Frühling auf das Land zu pinseln.
Unter den ausladenden Kronen der Bäume, in dem leichten Schatten, der hier und da von hellen Sonnenstrahlen durchdrungen wurde, zog sich der Weg hin, ein schmaler Pfad durch die Wildnis. Er war nur einer von vielen seiner Art, ein kleiner Faden des Spinnennetzes, welches die Menschen über den Wald gelegt hatten, um ihre Städte und Siedlungen schneller zu erreichen. Aber wie so oft waren die Schöpfungen menschlicher Hand nicht lange lebensfähig und die Natur war bereits dabei, ihr Eigentum wieder zurückzufordern. Wurzeln und Unkraut besiedelten diese künstlich angelegten Straßen, verwandelten sie in kaum noch erkennbare Fährten, deren Ausrichtungen sich schon bald verloren. Nur noch geübte Wanderer konnten sich in diesem Gewirr zurechtfinden, schon so einige leichtsinnige Jünglinge waren in die lichte Dämmerung des Waldes eingetaucht und nie wieder daraus emporgestiegen.
Trotzdem gab es immer noch viele Menschen, die das Dickicht nicht fürchteten und es sich sogar zunutze machten.
So dachten es sich die drei jungen Männer, als sie jenen verborgenen Pfad entlang gingen und zufällig einen einsamen Reisenden bemerkten. Ihr Interesse wurde von dem Umstand angestachelt, dass dieser Reisende eine Frau war und noch dazu eine außergewöhnlich schöne. Sie hatte sich ein wenig vom Weg entfernt, um sich unter einem Apfelbaum niederzulassen und die friedliche Ruhe zu genießen. Entspannt lehnte sie sich gegen den rauen Baumstamm und hielt die Augen geschlossen. Lichtflecken tanzten über ihr hellhäutiges Gesicht, ohne, dass es sie zu stören schien. Ihr Haar fiel ihr in ungebundenen Wellen über Schultern und Rücken, tiefgolden im Schatten des Baumes, weißblond im Licht der Sonne. Es hob sich glühend von dem hellgrünen Kleid ab, das ihre Gestalt in fließenden Falten umgab und sich wie ein Fächer um ihre Füße ausgebreitet hatte. Die beigefarbenen Sandalen, die um ihre Füße geschnürt waren, zeigten feine Stickereien auf, rot und grün, fast schon wie winzige Juwelen. Aber der einzige tatsächliche Schmuck, den sie trug, war ein dünnes Armband, das locker um ihr Handgelenk hing.
Sie schien keine sonstigen Habseligkeiten bei sich zu haben, keine Taschen lagen neben ihr auf der feuchten Erde. Sie war aber auch nicht abgemagert, wie jemand, der ohne Essen auskommen musste. Im Gegenteil, sie machte einen wohlgenährten und gesunden Eindruck – sie war unverkennbar schwanger. Ihre schlanken Hände lagen auf ihrem gerundeten Bauch, eine beschützende und besitzergreifende Geste, die in ihrer Schlichtheit unglaublich elegant wirkte. Einige weiße Blütenblätter ruhten auf ihrem Kleid, von dem unruhigen Wind den Apfelblüten entrissen, die gerade dabei waren, ihre volle Pracht zu entfalten.
Es war wie ein Bild aus einem Traum, eine Vision des Frühlings. Obwohl die Frau hochschwanger war, tat das ihrer verzauberten Schönheit keinen Abbruch. Und die drei Männer, die in einiger Entfernung stehen geblieben waren, um den erstaunlichen Anblick zu bewundern, konnten der Verlockung nicht widerstehen, die so ein Zusammentreffen unweigerlich hervorrief.
Ohne Hast näherten sie sich der Fremden. Sie bemühten sich nicht darum, leise zu sein, aber trotzdem schlug die Frau nicht ihre Augen auf. Vielleicht schlief sie ja tief und fest, erschöpft von den Anstrengungen ihrer Reise. Der Wind zupfte vorsichtig an einigen blonden Strähnen.
Erst, als die Drei direkt bei ihr angekommen waren und ihr gemeinsamer Schatten die letzten Lichtstrahlen verdeckte, flatterten die Lider der Schönen und unter dichten hellen Wimpern hervor richtete sich ein direkter Blick auf die Eindringlinge. Weder Angst noch Zweifel zeigten sich in diesem Blick, er war fast schon herausfordernd. Mit seiner Klarheit konfrontiert, zögerten die Männer ein wenig, obwohl sie nicht hätten sagen können, wieso.
„Ihr steht der Sonne im Weg“, sagte sie. Ihre Stimme war leicht rau und klang älter, als sie es erwartet hätten. Ihrem faltenlosen Gesicht nach zu urteilen, war sie höchstens siebzehn Jahre alt. Aber etwas in diesen Augen widerlegte diesen Eindruck.
„Wir sind hier nur… zufällig vorbeigekommen“, meinte einer der jungen Burschen stockend. Irgendwie fehlten ihm die Worte. Etwas in ihm wünschte sich plötzlich, einfach weitergegangen zu sein, ohne die Fremde anzusprechen.
Sein Freund ließ sich nicht so leicht einschüchtern. „Was macht ihr ganz allein in diesem Wald?“, fragte er patzig. „Ein gefährlicher Ort für eine Frau, könnte man meinen.“
„Könnte man. Ich bin aber nicht nur eine Frau.“ Eine schmale Hand hob sich, um eine weiße Blüte in der Luft abzufangen.
„Hab ich’s mir doch gleich gedacht!“ Der Dritte im Bunde lächelte plötzlich zufrieden. „Du bist eine Elbe.“
„Gratuliere. Unglaublich, wie schnell du das herausgefunden hast“, erwiderte sie spöttisch.
„Du solltest lieber nicht so vorlaut sein“, meinte der Zweite und grinste nun ebenfalls. Er hatte sehr gerade Zähne. „Ich sehe deinen Besitzer nicht in der Nähe. Du bist ganz allein hier… keiner, um auf dich aufzupassen.“
„Ich passe selbst auf mich auf. Ich habe keinen Besitzer“, stellte sie klar. Jetzt lachte er.
„Umso besser. Für uns.“ Sein Blick glitt über ihr leichtes Kleid. „Wer es findet, dem gehört’s. Also sind wir jetzt deine Besitzer.“
„Ich wollte schon immer mal eine dieser Huren ausprobieren“, fügte der andere hinzu.
„Tja, anscheinend hat’s ja schon ein anderer erledigt.“ Er deutete verächtlich auf ihren Bauch. „Ich frage mich nur, warum er dich dann abgeschoben hat. Auch in diesem Zustand kann man mit einer Frau Spaß haben.“
Ihr schmaler Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln. „Vielleicht war er ja der Meinung, dass ihn dieser Spaß etwas zu viel kosten würde“, schlug sie sanft vor.
„Du bist ja ganz schön frech“, stellte der Dritte fest. „Na, mal sehen, wie lange das noch anhält…“
Er machte einen Schritt auf sie zu, die Hand ausgestreckt, um ihren schlanken Arm zu ergreifen. Aber sie kam ihm zuvor. Ohne Hast, aber dennoch erstaunlich schnell, erhob sie sich von ihrem Ruheplatz und sah plötzlich auf den jungen Mann herab. Ihre zarten Glieder hatten ihre Größe nicht einmal erahnen lassen. Apfelblüten schwebten langsam zu Boden.
„Wenn ihr mich wollt, dann müsst ihr den Preis bezahlen“, sagte sie und ihr Blick strich kurz über jedes der drei Gesichter. „Ob ihr nun wollt oder nicht.“
Bevor er reagieren konnte, hatte sie ihrerseits seinen Arm ergriffen und zog ihn zu sich. Er war nicht auf die Kraft ihrer Bewegung vorbereitet und verlor mit einem überraschten Keuchen das Gleichgewicht. Sie fing ihn auf. Aus nächster Nähe sah er in ihr Gesicht, kein Ausdruck kräuselte die makellose Oberfläche aus Marmor, aber in den Augen glänzte etwas, das ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte.
„Wer…“ Er kam nicht dazu, den Satz zu vollenden. Mit einer leichten Bewegung ihrer rechten Hand zog sie seinen Kopf ruckartig nach hinten und brach ihm das Genick. Die Leiche fiel plump zu Boden und wirbelte verstreute Blätter auf. Ein verirrter Sonnenstrahl tastete nach seinem verzerrten Gesicht.
Die anderen beiden starrten ungläubig auf den Toten. Angst spiegelte sich in den aufgerissenen Augen. Die Frau trat über den regungslosen Körper hinweg und strich sich eine honiggelbe Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Ihr wolltet mich doch besitzen.“ Sie bewegte sich so, dass man die Schwangerschaft gar nicht bemerkte. Das Kleid warf Falten und wogte um ihre Beine. „Stellt ihr noch immer Ansprüche?“
„Du Miststück…! Was denkst du dir eigentlich, wer du bist?“ Der Zweite hatte plötzlich einen Dolch mit drei Klingen in der Hand. Es war eine rohe, nackte Waffe, tödlich in ihrer Hässlichkeit. Die Frau verzog das Gesicht.
„Menschen sind immer so barbarisch!“ Als er sie angriff, stand sie schon nicht mehr an demselben Platz. Mit einer tanzähnlichen Bewegung wich sie zur Seite aus und bog ihren Hals leicht nach rechts. Der Stich ging gerade an ihrer Kehle vorbei, ohne die Haut zu ritzen. Sie versetzte dem Angreifer einen kräftigen Stoß, so dass er nach hinten wankte und über den Leichnam seines Freundes stolperte. Sie griff blitzschnell zu und riss das Messer aus seiner Hand, während er hintenüber kippte und auf dem Boden aufschlug, quer über seinen toten Freund. Mit einer geübten Geste warf sie den Dolch. Alle drei Klingen bohrten sich mit einem schmatzenden Geräusch in den Oberkörper des Mannes.
Er ächzte. Blut spritzte.
„Bleib bei Bewusstsein“, sagte sie zu ihm. „Aber versuch nicht aufzustehen.“ Ihre Stimme war kalt.
Dann wandte sie sich dem letzten jungen Burschen zu, der mit unverhohlenem Entsetzen das hervorquellende Blut anstierte. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich von dem Anblick loszureißen. Als er schließlich aufsah, war sein Gesicht leichenblass unter den wirren Strähnen dunkelroten Haars. Die Frau musterte ihn.
„Du hättest ihnen helfen können. Ihr wart in der Überzahl.“
„Ich… habe Angst“, sagte er leise und schlug seltsam schüchtern die Augen nieder.
„Gut.“ Mit einem endgültigen Schwung des langen Haars drehte sie ihm den Rücken zu. „Geh. Diese zwei sind Opfer genug.“
„Opfer…?“
„Opfer für den Apfelbaum.“ Sie zupfte sich eine Blüte aus dem Haar. Der süße Geruch von Blut stieg auf. Der Wind erfasste ihn und trug ihn weiter.
„Dämon…!“ Der hasserfüllte Aufschrei kam gleichzeitig mit einem lauten Knall. Sie spürte das Geschoss auf sich zufliegen, direkt gegen ihren Rücken gerichtet. Einen Wimpernschlag, bevor er abdrückte, hatte sie ihren Oberkörper leicht zur Seite gedreht. Das Geschoss streifte ihre Schulterblätter und flog mit unverminderter Wucht weiter. Das Holz des Apfelbaums brachte es schließlich zum Stillstand.
In ihrer Hand hielt sie den Dolch. Ihre langen Finger umklammerten das schmucklose Heft, verborgene Muskeln unter der zarten Haut spannten sich an, als sie das Messer schleuderte.
Er ließ den Revolver nicht los. Sie beobachtete, wie er darum rang, sie ins Visier zu bekommen, während aus dem langen Schnitt quer über seine Kehle unaufhaltsam ein roter Strom floss. Schließlich konnte auch der eiserne Willen, der in diesen verengten Augen brannte, nichts mehr gegen die Kraft des Todes tun und der dritte Körper stürzte auf die erwachende Erde.
Sie ließ die Hand sinken. Fast hätte sie geseufzt, aber es widersprach ihrer Natur. Sie biss die Zähne zusammen und wandte sich abrupt ab.
„Menschen!“, stieß sie hervor.
Sie spürte einen Blick auf sich. Der zweite aus der Bande ließ seine Augen nicht von ihr, es lag keine Panik darin. Nur so etwas wie Bewunderung.
„Du… bist so… schön“, wisperte er. Ihre Augen wurden hart.
„Wie auch immer.“
Die Kronen der Bäume raschelten leise. Schatten rannen über den Boden. Licht floss über blonde Haarsträhnen und tropfte auf pastellgrünen Stoff. Die traumhafte Gestalt lehnte sich gegen den Baumstamm, der Kopf war gebeugt über ein totenbleiches Handgelenk. Als sie aufsah, waren ihre Lippen benetzt von Blut.
Langsam färbten sich die weißen Blüten rot.
 



 
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