Protokoll einer Weihnachtsfeier

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Matula

Mitglied
Wenn ich gefragt werde, ob ich am Abend des 17. Dezember im Palais Kloppenstein anwesend war, so kann ich die Frage bejahen. Das Palais hat einen mit Glas überdachten Innenhof, in dem Tische, eine Bühne und ein Büffet aufgebaut waren. Dort haben meine Kollegen und ich an der diesjährigen Weihnachtsfeier teilgenommen, zu der unsere Firmenleitung eingeladen hatte.

Wenn ich zu den örtlichen Gegebenheiten am Unfallort befragt werde, gebe ich Folgendes zu Protokoll:

Ich saß an einem Tisch, der sich zur linken Seite der Bühne befand. Mit mir am Tisch saßen Frau Sabine Strobl, Herr Oliver Binsenbauer und Herr Alexander Lenz. Insgesamt gab es sechs Tische mit je vier Personen, die derart aufgestellt waren, dass sie in ihrer Mitte Platz für Tanzende boten. Das Buffet befand sich neben dem Eingang und vis-à-vis von der Bühne. Rechter Hand ging es zur Küche und zu den Toiletten, auf der linken Seite führte eine steinerne Wendeltreppe ins obere Stockwerk. Sie war mit einer Kordel abgesperrt.

Auf die Frage, wie ich die Stimmung während dieser Weihnachtsfeier bis zum Unfallszeitpunkt beschreiben würde, kann ich Nachstehendes angeben:

Nach der Begrüßung durch unsere Personalchefin gab es die üblichen Ansprachen der Geschäftsführer, die sich für die Leistungen im abgelaufenen Jahr bedankten. Die Stimmung war sehr gut, auch wenn manche Kollegen zu eitel sind, um sich über anerkennende Worte freuen zu können. An meinem Tisch hatten alle gute Laune. Nach den Ansprachen wurde das Buffet eröffnet, das für jeden Geschmack etwas zu bieten hatte. Mit den vollen Tellern gingen wir zurück an unsere Tische. Soweit ich feststellen konnte, waren alle zufrieden. Eine Serviererin lief herum und brachte die Getränke. In den folgenden zwanzig Minuten wurden verschiedene technische Geräte für die musikalische Unterhaltung installiert. Ich habe dem keine Beachtung geschenkt, weil ich mich mit meinen Tischnachbarn unterhalten habe. Danach trat Herr Holly auf die Bühne und begrüßte uns.

Ergänzend möchte ich klarstellen, dass es sich hier erkennbar um einen Künstlernamen handelte, denn Herr "Holly" hüpfte auf die Bühne und rief: "Hallo, ich bin der Holly, euer DJ an diesem wunderschönen Abend!"

Auf die Frage, welchen Eindruck das spätere Unfallopfer auf mich machte, gebe ich Folgendes zu Protokoll:

Herr Holly war mir auf Anhieb unsympathisch, obwohl ich erst durch die Polizeiermittlungen erfahren habe, dass es sich um den entlaufenen Sträfling Hans-Peter Markgraber handelte. Er wirkte sehr ungepflegt mit seinen langen schwarzen Haaren, die erkennbar gefärbt waren. Erkennbar, weil später sein Hemd zerrissen wurde und man seine weiße Brustbehaarung sehen konnte. Außerdem trug er eine für den Anlass unpassende Cargo-Hose. Ich schätzte ihn auf Mitte sechzig und war der Meinung, dass er zu alt für den Beruf des DJ war. Meine Tischnachbarn teilten diese Meinung.

Wenn ich gefragt werde, was außer der Haarfarbe mir an Herrn "Holly" Markgraber missfiel, kann ich nur sagen, dass er einen ganz unvorbereiteten Eindruck machte, nicht zu wissen schien, welches Publikum er vor sich hatte und mit welcher Musik man es zum Tanzen animiert. Man muss dazu wissen, dass der Altersdurchschnitt in unserer Firma bei 27 liegt, die meisten von uns also um die Jahrtausendwende geboren wurden. Das gilt auch für unsere Geschäftsleitung. Man kann also sagen, dass wir ein sehr junges Unternehmen sind, das mit der Musik, die uns Herr Holly vorsetzte, nichts anzufangen wusste.

Auf die Frage, welche Musik Herr "Holly" präsentierte und wie die Anwesenden darauf reagierten, gebe ich zu Protokoll:

Zu Beginn waren es Songs der Popformationen ABBA und AC/DC aus den 70er und frühen 80er Jahren. Später, soweit erinnerlich, von "Guns N' Roses" und "Van Halen". Ich kenne diese Musik aus meiner Kindheit von den Autofahrten mit meinen Eltern, wo ich sie alternierend anhören musste, weil mein Vater Hard Rock-Fan war, während meine Mutter die schwedischen ABBA bevorzugte. Ich bin überzeugt, dass die Neigung zu Erschöpfung und depressiver Verstimmung in meiner Generation von der frühen Beschallung mit solcher Musik herrührt. Auch das weit verbreitete ADHS-Syndrom könnte damit in Zusammenhang stehen.

Bei meinen Kollegen scheint Herrn Hollys Musik ähnlich unangenehme Erinnerungen ausgelöst zu haben, denn unsere Verkaufsleiterin stand auf und rief: "Hey Holly! Du weißt aber schon, dass du nicht im Pensionistenheim auftrittst!" Ein anderer Kollege schrie: "Holly, mach leiser, niemand will diesen Scheiß hören!" Unsere Personalchefin schrie zurück: "Bitte schön sprechen!" und ging auf die Bühne, wahrscheinlich um Herrn Markgraber um eine Änderung des musikalischen Programms zu bitten. An unserem Tisch konnte man zwar nicht hören, was gesprochen wurde, aber sehen, dass er immer wieder den Kopf schüttelte und die Achseln zuckte. Nach dem Gespräch setzte er wieder seine Kopfhörer auf und es ging weiter mit Agnetha Fältskog, die "There's a blue moon up in the sky/tonight, it's there for you and I" sang. Es war schrecklich. Damals im Auto meiner Eltern habe ich natürlich kein Wort verstanden. Heute denke ich mir, dass es unverschämt ist, so grottenschlechte Texte zu verbreiten. Und das nennt sich "Lyrics".

Wenn ich gefragt werde, wie es in der Folge zu den Handgreiflichkeiten und der Jagd auf Herrn "Holly" Markgraber kam, muss ich ein wenig ausholen.

Die Stimmung war durch das Geschrei aus den Boxen ziemlich aufgeheizt. Tanzen hätte geholfen, auch weil wir volle Bäuche hatten. Aber für diese alte Musik gibt es keine Moves. Man kann nur die Arme hochreißen und das Becken vor und zurückschieben. - Ich gehe mit meinen Freunden zwei bis dreimal pro Monat in einen Club. Dort hören wir Techno, House, Electro swing und ähnliches. Das macht Laune, das ist die Musik unserer Zeit.

Nach circa eineinhalb Stunden verließ unsere Geschäftsleitung das Lokal. Auf dem Weg hinaus verabschiedeten sie sich und entschuldigten sich für den Fehlgriff beim Entertainment. Dass sich Herr Holly den Auftrag mit Hilfe eines ehemaligen Zellengenossen von der Eventagentur gekrallt hatte, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand.

Nachdem wir nun gewissermaßen unbeaufsichtigt waren, kamen wohl einige Kollegen auf die Idee, dem Treiben auf der Bühne ein Ende zu setzen, auch Alex und Oliver, also Herr Lenz und Herr Binsenbauer. Ich muss dazu sagen, dass wir an unserem Tisch ganz vorn an der Bühne auch besonders stark betroffen waren. Sabine Strobl und ich versuchten also nicht, die beiden Kollegen zurückzuhalten. Zu ihnen gesellten sich zwei weitere und zu viert nötigten sie Herrn Holly, die Musik abzuschalten und die Kopfhörer abzunehmen.

"Wir sind ja lauter wohlerzogene Leute," sagte Oliver, halb an Herrn Holly, halb an das Publikum gewandt, "aber wenn das noch lange so weitergeht, gibt es hier Mord und Totschlag. Was für ein DJ bist du, wenn du uns diesen alten Mist auftischt?!" - "Das ist Musik mit Tiefgang," antwortete Markgraber erbittert, "ihr könnt euch ruhig einen Abend lang echte Musik anhören." - "Tiefgang?! Im Ernst? Verstehst du überhaupt, was die singen? Wanna be such a bad bad guy, See my hips, read my lips: Loaded like a fright train/Flying like an airplane/Feeling like a space brain! Das nennst du Tiefgang? Ernsthaft?" Oliver schlug bei diesen Zeilen eine imaginäre Gitarre und sprang mit gespreizten Unterschenkeln in die Luft. Die ganze Runde lachte und applaudierte.

Die Zwischenfrage, ob es meinem Kollegen darum ging, das Publikum gegen Herrn "Holly" Markgraber aufzubringen, kann ich verneinen. Aus meiner Sicht wollte er sich hauptsächlich über die Performance früherer Musiker lustig machen, die ja tatsächlich völlig durchgeknallt war. Man kann das heute noch in alten Videos sehen. Natürlich muss man bedenken, dass die Leute auf Drogen waren und gar nicht anders konnten.

Holly fühlte sich allerdings schon gekränkt und packte Oliver an der Krawatte. Dabei sagte er sinngemäß "Geh mir nicht auf den Sack, du Wappler!" Das war natürlich zu viel. Ich glaube, es ist einer Frau eher gestattet, einen Mann an der Krawatte zu fassen, als einem anderen Mann. Wie auch immer: Alex und die zwei anderen Kollegen stürzten sich auf den Angreifer, um Oliver zu befreien. Dabei wurde Hollys Hemd zerrissen. Die Szene müsste auf allen Smartphones zu sehen sein, wahrscheinlich auch, dass ihm bei der folgenden Schreierei ein Teil seiner Zahnprothese auf die Unterlippe fiel. Das war komisch, aber die Kollegen scheinen dadurch begriffen zu haben, dass sie einen alten Mann vor sich hatten, und ließen ihn los.

Für uns war die Situation ziemlich verfahren. Unser DJ konnte keine andere Musik bieten, und einen neuen aufzutreiben, war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Da hatte Alex, also Kollege Lenz, eine wirklich gute Idee. Wir sollten alle zusammen in einen Club übersiedeln und der Eventagentur die Rechnung dafür schicken, "zu Hollys Handen", wie er sagte. "Das ist nur fair, weil du uns die Weihnachtsfeier versaut hast!" Der Vorschlag aber machte Markgraber nur noch wütender, wahrscheinlich, weil er jetzt Angst bekam, aufzufliegen.

Alles weitere ging dann sehr schnell. Er hatte plötzlich ein Messer in der Hand, vermutlich aus einer seiner vielen Hosentaschen. - Es war schon bizarr, im altehrwürdigen Palais Kloppenstein ein Butterfly-Messer aufblitzen zu sehen. - Zuerst gab es einen Aufschrei und alle wichen zurück. Dann aber schnappten sich einige Kollegen ihren Sessel und gingen auf ihn los. Holly nahm Reißaus, stieß die Absperrung um und flüchtete ins obere Stockwerk. Sie setzten ihm nach, während wir, also hauptsächlich der weibliche Teil der Belegschaft, die Polizei und Angehörige verständigten.

Was dort oben geschah, kann ich nicht sagen, weil man vom Gastraum aus nur einen Teil der Galerie und die Glaskuppel sieht, die den mittleren Dachabschluss bildet, "Holly" Markgraber muss über eine Balustrade gefallen oder gesprungen sein, weil er plötzlich mit einem lauten Knall rücklings auf der Glasdecke über uns landete. Es war schrecklich zu sehen, wie sich das Blut um seinen Kopf ausbreitete.

In den nächsten Minuten trafen schon Polizei und Rettung ein.
 

Klaus K.

Mitglied
Matula,

Betriebsfest, Weihnachtsfeier, Jahresauftakt, Siegerehrung.....diese Veranstaltungen sind alle irgendwie identisch. Mit einer Ausnahme: Es kommt eher selten jemand dabei um, unabhängig von der Musik! Das gibt der Sache einen gewissen "Kick", dann dazu die Protokoll-Form! Gerne gelesen, mit Gruß, Klaus K.
 

Matula

Mitglied
Guten Morgen Klaus K. !
Freut mich, dass es Dir gefallen hat. Ja, der untaugliche DJ ist der Julbock, der geopfert wird.

Schöne Grüße,
Matula
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Matula,

hat mir sehr gut gefallen - war mal zu schnell zu Ende, hat man auch nicht oft :)
Mal abgesehen von dem, was Klaus K. schon gesagt hat, für mich war die Perspektive der 20er auf die Musik ihrer Eltern interessant - und vor allem, wie sie die Klischees zurückgeben, die sonst die 'Eltern' von sich geben. Fand' ich witzig.

Liebe Grüße
Petra
 

Matula

Mitglied
Guten Abend Petra,
freut mich, dass Dir das "Protokoll" gefallen hat. Ja, aus der Mode kommt man schnell und daran ändern auch diese unsäglichen Wiederauferstehungen am Krückstock, vielen Einblendungen und Background-Gesang nichts ...

Liebe Grüße,
Matula
 

Hans Dotterich

Mitglied
Hallo Matula

"Schööööön!" kann ich nur sagen, wie die Story ganz langsam hochfährt, die biedere Sprache des Ich-Erzählers, die Weihnachtsfeier-Archetypen, und das alles im wunderbarsten Abrechnungsformat erzählt.

Ich wundere mich, dass gewisse Liedtexte auf dem Weg in die Charts nicht schon weitaus mehr Opfer auf dem Bürgersteig hinterlassen haben.

Grüße

Hans
 

Matula

Mitglied
Danke, Hans Dotterich,
ich hatte Bedenken wegen der Verwendung von Polizeiprotokoll-Sprache, aber sie wurde offenbar nicht so schlecht aufgenommen.
Was Songtexte betrifft, vergangene wie gegenwärtige, wünscht man sich manchmal, noch wie ein Kind nur la-la-la mitsingen zu können.

Schöne Grüße aus Wien,
Matula
 



 
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